Was für ein historischer Abend! Gestern Abend premierte mit „Epilog“ die letzte abendfüllende Kreation von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Nach 51 Jahren gibt der zu Recht als Genie geltende 85-Jährige die Leitung dort ab. Noch einmal eröffnete er jetzt mit einem neuen großen Stück das von ihm begründete zweiwöchige Festival der „Hamburger Ballett-Tage“ – und er begeisterte Fans und Neugierige. Kaum kam Neumeier für den Schlussapplaus auf die Bühne, stand das Publikum geschlossen auf und jubelte. Vier Ränge und das Parkett waren prall gefüllt und ergaben einen einzigen Chor des Zuspruchs. Vereinzelte Buh-Rufe waren jenen – offenbar für ihre Agitation bezahlten – Störern zuzuschreiben, die schon seit Monaten systematisch die Opernpremieren in der Hamburgischen Staatsoper ausbuhen. Ein Mobbing, das wohl dem abstruserweise von einem Milliardär gewünschten Neubau eines Opernhauses in der Hafen-City dienen soll. Gegen den jubelnd tosenden Beifall für Neumeier hatten die Ausbuher aber sowieso kaum eine Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden. Und so wird es an allen kommenden, den verbleibenden Abenden mit Neumeier als Ballettchef in Hamburg sein: Dieser Mann wird gefeiert werden. Das Ausmaß seiner Beliebtheit sprengt ja auch jedes übliche Maß. Doch auch die Kunst, für die er verantwortlich zeichnet, spricht zu den Zuschauenden: viel stärker als so vieles, das durch den Kulturorkus rauscht. Besonders spannend ist sein neues Werk, weil es viele verkappte autobiografische Bezüge des Choreografen aufweist.
„Epilog“ heißt „Nachspiel“: Es geht also um einen getanzten Kommentar zu Neumeiers fast 180 Performance-Werken, von denen die meisten Ballette sind, manche aber auch Opern oder Musicals. In der Tat ist der neue Wurf aber auch ein Stück über Neumeier selbst. Es geht um die Entwicklung eines jungen Menschen, auch um sein homosexuelles Coming-out; um erlittene Pein der Ausgrenzung und des Außenseitertums, aber auch um die befreiende Erfahrung der gelebten schwulen Liebe, letztlich um die Möglichkeit, als Künstler das eigene Empfinden publik zu machen.
Der Weg von der bürgerlichen Familie in die Gesellschaft, hinaus in die große weite Welt, die einen zunächst auszugrenzen trachtet, wird beschrieben: als kompliziert und konfliktreich, aber letztlich als versöhnlich und erfolgreich. Auch die Frauen haben dann – wie die Mutter, die von Beginn an eine große Rolle spielt – ihre Position im Weltbild eines Mannes, der im zweiten Teil sein Universum mit von ihm selbst geschöpften Gestalten bevölkert.
„Epilog“ – so hatte John Neumeier aber auch schon einmal ein Ballett benannt, und zwar den später in „Adagietto“ umbenannten Pas de deux zum Adagietto aus der „Fünften Sinfonie von Gustav Mahler“ (ein abendfüllendes Neumeier-Stück wurde es allerdings erst 1989).
Unter dem angloamerikanischen Titel „Epilogue“ wurde dieser Paartanz 1975 beim American Ballet Theatre in den USA, in New York City, uraufgeführt, und zwar bei einer Gala in Starbesetzung: mit Natalia Makarova und Erik Bruhn. Der Kritikerkollege Clive Barnes, der Neumeiers Genie mit entdeckt hat, schrieb darüber in der „New York Times“ etwas, das überraschenderweise zumindest teilweise auch für den neuen „Epilog“ von John Neumeier passen könnte:
„Es war fast von selbst interessant. Von Herrn Neumeier erwarten wir eine gewisse psychologische Dichte, ein Gespür für Charaktere, das mit dem eines Dramatikers konkurrieren könnte. „Epilogue“ hatte nichts von dieser literarischen Überlagerung, es war ein einfacher, geradezu herbstlicher Tanz aus Trauer und Nachdenklichkeit.“
Und:
„Das Duett war auf das Adagietto von Mahlers Fünfter Sinfonie ausgerichtet, Musik, die, zumindest für die unmittelbare Zukunft, eine Konnotation von Luchino Viscontis merkwürdig unterschätztem Film „Tod in Venedig“ mit sich bringen muss. Herr Neumeier wagte diese Konnotation und hat eine schöne Darstellung unterdrückter Trauer geschaffen.“
Unterdrückte Trauer, Herbstlichkeit, Nachdenklichkeit: All das schwingt auch jetzt beim Befreiungskampf eines jungen Menschen mit, der sich als „anders“ definiert. Insofern könnte man sagen: Neumeier ließ sich von Neumeier inspirieren oder auch von dem, was Barnes über Neumeier schrieb.
Die Stimmungen und tänzerischen Tonlagen der beiden Stücke korrespondieren miteinander, und tatsächlich erbebt auch der neue „Epilog“ vor lauter raffiniert-exotischen, mal schnellen, mal in edler Langsamkeit zelebrierten Paartanzposen, deren Ausgangspunkt tatsächlich im ersten „Epilogue“ von 1975 zu suchen ist.
Im Vordergrund des neuen, großen Werks steht allerdings vor allem im ersten Teil die schwule Mannwerdung, das heimliche Bekenntnis und dann das Ausleben dieser Art zu lieben. Also: Es gibt Männertänze satt. In Soli, Paaren, kleinen Gruppen, großem Corps.
Aus fließend ineinander übergehenden Szenen schält sich zudem die Geschichte einer homosexuellen Selbstfindung:
Ein junger Mann (sehr dynamisch: der Newcomer Caspar Sasse, noch Aspirant) ist zwischen seiner bürgerlichen Familie und heftigen Selbstzweifeln hin- und hergerissen. Schöne Männer treten in sein Leben, aber es dauert, bis er die Nähe zulassen und genießen kann. Paare und kleine Gruppen tanzen um ihn herum das gesellschaftliche Leben.
Er selbst fühlt sich als Außenseiter. Seine Mutter, hervorragend von der Neumeier-Muse Anna Laudere getanzt (die seit über einem Jahrzehnt kontinuierlich immer nur noch spektakulärer, inniger, aufregender wird), muss als Mutterfigur in den spießigen 50er-Jahren in den USA realisieren, dass ihr John anders ist als erwartet.
Dieser geht dennoch seinen Weg, schafft es auch, sich letztlich mit der Gesellschaft, die ihn beinahe verstoßen hätte, auszusöhnen.
Das ist vielleicht nur eine Interpretation von vielen möglichen, aber es ist die schlüssigste. Zu sagen, dieses Ballett sei „abstrakt“, ist jedenfalls meiner Meinung nach zu oberflächlich beurteilt. Und die Einsamkeit, die auch bei Neumeiers Vorschau in seiner letzten „Ballett-Werkstatt“ deutlich wurde, bezieht sich auf die Einsamkeit des schwulen Jungen in einer bürgerlichen Familie Mitte des letzten Jahrhunderts.
Das Zwiespältige eines familiären Idylls, das vieles verschweigt, wird deutlich. Aber auch die Seligkeit amouröser Abenteuer. Zu Musiken des Biedermeierkometen Franz Schubert (mit dem unvergleichlichen David Fray am Piano, beim Vierhändigen unterstützt von Emmanuel Christien), zu eingespielten Songs von Simon & Garfunkel (die früher als heimliche Schwulenstars galten) und zu den „Vier letzten Liedern“ von Richard Strauss (von der berückenden, in tiefes Rot gewandeten Starsopranistin Asmik Grigorian auf der Bühne live gesungen und gespielt) entfaltet sich ein buntes, auch nachdenklich machendes Panorama aus Beziehungsglück und -unglück.
Das Bühnenbild, vom Meister Neumeier selbst erdacht, zeigt einen hoch aufragenden hölzernen Baustellenturm, offenbar als Symbol für die ewige Baustelle, in der sich die Menschheit eingerichtet hat. Wird das Provisorium, das es allerorten ist, jemals fertig, jemals auch nur annähernd perfekt?
Andererseits ist dieses Gebäude ein sezierter, im Querschnitt geöffneter Turm, dessen Höhe zwar ohne Treppe oder Lift noch keinen Sinn macht, der aber in jedem Fall etwa vor Starkregen schützen könnte. Dieses Konstrukt aus gelbem Naturholz weist auch auf die Holzvernichtung durch den Menschen hin: Bedenkenlos wird abgeholzt und gebaut, was das Zeug hält.
Im Tarot bedeutet der Turm eine Situation des Umbruchs, auch des Zusammenbruchs, auf jeden Fall der Neugestaltung eines Lebens. Die konkrete psychologische Bedeutung dieses Turms hier ist hingegen dramatisch: Sie erschließt sich aber erst im zweiten Teil des Balletts, wenn als Eingangsbild ein Gruppenbild mit Stühlen aufgebaut ist.
Als Sinnbild der Familie sehen wir daneben einen Esstisch mit zierlichen 50er-Jahre-Beinen, im rechten hinteren Teil der Bühne. Puristisch weißes Geschirr steht auf dem Tisch – und wie es sich für eine Hausfrau des 20. Jahrhunderts gehört, wird die Figur von Anna Laudere im Streit auch mal eine Porzellantasse fallen lassen, vielmehr mit lautem Getöse zerschmettern.
Caspar Sasse – also sein Part im Stück – entrinnt dem Vierergespann eines Elternpaares mit zwei Söhnen. Auch Neumeier hatte einen später verstorbenen Bruder – und versuchte früh, woanders die Selbstbefreiung zu üben. Tanzfilme im Kino und der Besuch von Bibliotheken prägten ihn. Er entflieht: in die Welt der Kunst, auch in die der Fantasie.
Immer wieder versuchen im Tanz hier die Mutter, der Vater, der Bruder, ihn zurückzuholen. Ist es nur Einengung, gegen die er sich zu wehren sucht? Das Leiden ist vor allem jenes, nicht so akzeptiert zu werden, wie man ist und fühlt.
Der Kontakt zu ähnlich Fühlenden ist selbstredend eine damals verbotene Sehnsucht.
Mit Louis Musin teilt Caspar Sasse nach einem Einstiegssolo, das sein Gesicht, seine Arme auch als Video auf der Bühne vergrößert zeigt, delikate Tanzmomente. Die Beziehung, die entsteht, ist geprägt von jugendlicher Vorsicht, aber auch Naivität. Von jugendlichem Drang ebenso wie von Ängstlichkeit.
Immer wieder geht eine Hand vors Gesicht, bedeckt die Augen oder den Mund. Nicht sehen, nicht darüber reden – das waren die goldenen Regeln, die sich auch die westliche Gesellschaft noch im 20. Jahrhundert bezüglich Homosexualität auferlegte.
Neumeier lässt das Leiden am Tabu tanzen – und macht uns somit deutlich, wie privilegiert wir sind, weil es seit August 2008 zum Beispiel in Deutschland das Antidiskriminierungsgesetz gibt, das es verunmöglichen soll, dass Menschen wegen ihrer sexuellen Ausrichtung unterdrückt oder ausgegrenzt werden.
Dass noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden muss, versteht sich von selbst. Erlaubt sei an dieser Stelle ein kleiner Exkurs: Verglichen mit der ebenfalls nach wie vor oftmals benachteiligten und viel größeren gesellschaftlichen Gruppe der Frauen liegen die Schwulen allerdings wirklich gut im Rennen. Sie haben richtigerweise die Alarmglocken geläutet, sowie dieses straffrei war – und sie haben ihre Rechte Stück für Stück durchgesetzt. Ihr Erfolg ist dadurch begründet, dass sie früh begriffen haben, was Solidarität und Zusammenhalt, Durchhaltevermögen und Konsequenz sind.
Würden Frauen derart zusammenhalten, wie Homosexuelle es seit Jahrhunderten unter der Hand tun, so sähe die Welt auch für sie ein Stück weit gleichberechtigter aus. Warum aber lernen Frauen nicht von den Schwulen? Wahrscheinlich, weil sie immer noch die Abhängigkeit von einem Versorger bevorzugen oder bevorzugen müssen, um nicht materiell zu darben.
So fällt sogar auf, dass von lesbischen Frauen viel seltener in unserer Gesellschaft die Rede ist als von schwulen Männern. Die breite Front der Positivpropaganda, die Schwule und so genannte LGBTQ+ für sich erkämpft haben, fehlt für Frauen als Frauen, egal welcher Ausrichtung, immer noch.
Frauen benehmen sich auch oft, als hätten sie keine andere Chance, als sich den Männern gegenüber – gleich ob Cis-Männern oder Schwulen – unterzuordnen. Wir sollten das ändern – und hierzu sind nicht nur geborene Frauen, sondern auch Transmenschen aufgefordert.
Solche aufklärerischen Gedanken können einem kommen, wenn man die exzessiv abwechslungsreich gestylten, mal bodennahen, mal durch die Luft schwebenden Tänze von John Neumeier im neuen „Epilog“ besieht.
Darin gibt es Mann-Mann-Tänze, in denen ein starker Bursche wie eine Frau gehoben, gedreht, durch die Luft gewirbelt, gehalten wird.
Und es gibt Mann-Frau-Tänze, die an Schwung und Emanzipation der dominanten Frau nichts zu wünschen übrig lassen, auch wenn der Mann dank seiner Muskelkraft der Tragende ist. Die Pas de deux von Madoka Sugai und Alexandr Trusch sind hier mustergültig: Eigentlich ist es unfasslich und eben nur mit seinem hohen Einfühlungsvermögen und auch seinem Genie zu erklären, dass mit John Neumeier ein biologisch nicht mehr junger Mann und eben ein Homosexueller diese weibliche Emanzipation zu choreografieren weiß.
Ihre Beine fliegen hoch, egal, ob sich ihr Oberkörper oben oder in Bodennähe befindet. Wie nebenbei ergeben sich Spagatfiguren in der Luft, um dann mit Drehbewegungen Richtung Erdhaftung zu gelangen. Seitlich quer und diagonal hoch wird Sugai von Trusch herumgewirbelt – wer die beiden mal in Rudolf Nurejews „Don Quixote“ sah, sieht, wie sich das Ballett hier auf der Grundlage der Klassik und moderner Techniken weiterentwickelt hat. Es ist fantastisch und eine adäquate Parallele zu den erwünschten Bewegungen in der Gesellschaft.
Man kann sich an der Vielfalt von Neumeiers tänzerischen Poesie ohnehin kaum satt sehen – und befürchtet fast, sie könne, wenn die Szenen zurück gehen muss in die bürgerliche Welt, abhanden kommen.
Da hätte man dann aber die Rechnung ohne Anna Laudere als Mutter, Matias Oberlin als Vaterfigur und Artem Prokopchuk als Bruder gemacht. Klassik und moderne Schüttelbewegungen mischen sich, raffinierte Hebungen bilden Höhepunkte.
Auch die Spannung innerhalb einer Familie lässt sich poetisch, ja lyrisch darstellen mit den entsprechend trainierten, ausgebildeten Körpern: Und Vielschichtigkeit war schon immer John Neumeiers Stärke.
Nach nur zehn Minuten Spielzeit erklingen ganz andere Töne als im Ballett im Opernhaus gewohnt. Die Schubert’sche Klaviermusik wird abgelöst von dem eingespielten Song „The Dangling Conversation“ („Das schwebende Gespräch“) von Simon & Garfunkel. Neumeier verwendet deren Musik nur im Original, von ihnen selbst interpretiert – und trifft mit dem Sound zweier nicht zu tiefer Männerstimmen, die auf einer Tonspur aufgenommen wurden, begleitet von der akustischen Gitarre, einen ganz bestimmten Geschmack seiner Jungmannjahre.
Neumeier sagt, diese Musik habe ihm damals oft Trost gespendet – und es ging dabei nicht nur um die generelle Einsamkeit in den Großstädten, sondern gerade auch um das Wissen, dass man als Homosexueller damals geächtet und sogar juristisch schwer belangt werden konnte.
1957 gegründet, wurden Paul Simon und Art Garfunkel für ihr säuselndes Chanson-Feeling mit Folk-Rock-Rhythmen berühmt. In den 60er-Jahren kam der Erfolg für sie, der sich trotz einer Trennung des Duos 1969 bis in die 80er-Jahre hinein steigerte. Nach vorübergehenden Trends an ihnen vorbei heimsten sie aber tatsächlich auch im 21. Jahrhundert noch Preise ein.
Bis heute gewinnen sie mit ihren Aufnahmen Fans – ihre Songs strahlen Hintergründigkeit und Ruhe, Melancholie und Wortwitz aus.
„Ist das Theater wirklich tot?“ heißt es ironisch in einer Zeile, die das vieldeutige Miteinander eines Paares beschreibt. Oberflächlich gesehen, handelt es sich um Konversation. Aber tatsächlich geht es um die Beziehung der beiden – und den Untergang wahrer Leidenschaft in den Fluten der Konventionen.
Ida Praetorius darf immer wieder wie ein Geist, abgehoben edel und doch gegenwärtig, im lachsfarbenen Dress von links nach rechts auf die Bühne kommen, die die Welt bedeutet.
Manchmal folgt ihr ein Mann nach – und doch zeigt sich auch die Beziehungsunfähigkeit von Menschen, die sich nur oberflächlich wahrnehmen wollen. Auch die Unwissenheit, in der Frauen oft über das wahre Gefühl ihres männlichen Partners belassen werden, wird illustriert.
Erst im Gruppentanz entrollt sich dann das ganze Gefühl der Personen – ein Musterbild an Kleingruppe stellt die exquisite Starballerina Alina Cojocaru mit jungen Männern dar. In rote Kostüme gewandet, bebildern sie ein utopisches Streben und Werden menschlicher Kräfte: füreinander, nicht gegeneinander eingesetzt. Cojocaru lässt sich dabei geschmeidig und gelenkig wie eine Katze mal fallen, mal aufheben – sie ist eine körperliche Koryphäe in bestimmten Tanznuancen, die nur sie dermaßen präzise und locker zugleich zeigen kann.
Die modisch-heutigen Kostüme in „Epilog“, die nicht selten wie muntere Farbtupfer anmuten, schuf Albert Kriemler (A-K-R-I-S). Mal sind es Hosen und Jacketts, mal Kleider von schlicht-raffinierten Schnitten, mal weite Marlene-Dietrich-Hosen für die Damen, die das Modeherz erregen. Knallgelb, Zitronenfaltergelb, Petrolgrün, tomatiges Rot – eigentlich tanzt hier mitunter der Sommer.
Dass die Sängerin Asmik Grigorian barfuß in ihrem roten Flatterfummel mit unregelmäßigem Saum dasteht, hat indes weniger mit Mode als vielmehr damit zu tun, dass sie mit den Tänzern mitunter interagiert. Auch ihre Haare sind betont natürlich gehalten, als offene Mähne. Denn wenn sie die Hand auf die Wange eines Tänzers legt und ein anderer seine Hand auf ihr Brustbein auflegt, als wolle er ihre Seele beschwören, so ist sie keine Operndiva noch eine Büromieze oder dergleichen. Sie steht vielmehr wie eine Naturgottheit da: souverän, geerdet und nicht separiert von den Tanzenden, sondern zu allem gehörend, was sie umgibt.
Pumps hätten da viel vom Eindruck des Naturhaften zerstört.
Im Bühnenbild hingegen treffen sich die verschiedensten Aspekte der Traditionen und auch der Fantasie des Choreografen.
Projizierte Wolken erinnern an Ballette von Jerome Robbins und George Balanchine – beides bedeutende US-amerikanische Choreografen. John Neumeier als Deutsch-Amerikaner ist stets bemüht, seine kulturellen Wurzeln eher zu bestärken als zu verleugnen.
Videoleinwände, die von oben erscheinen oder nach oben verschwinden, und einmal auch ein riesenhaft vergrößerter Auszug aus einem Bild von Piero della Francesca ergänzen das Bühnenbild, welches im Kern das Leben als Holzbaustelle illustriert. Der Ausschnitt aus einem Frührenaissance-Gemälde ist übrigens ein Hinweis auf Neumeiers Jugend, als er von den religiösen Darstellungen dieses Malers besonders beeindruckt war.
Und da ist ein Kronleuchter, ebenfalls überdimensional groß. Welches Kind liebt nicht große Kronleuchter wie diesen? Rötlich schimmernd, hängt er zunächst wie ein Menetekel oben links hinter dem schwarzen Flügel, der links vorn an der Rampe positioniert ist. Doch langsam fährt das gute Stück herunter – und macht vor dem Boden nicht Halt.
Der Lüster prallt auf, kippt links zur Seite, wird aber noch von oben gehalten – und wirkt wie die Silhouette eines gekenterten Schiffs.
Man könnte sagen: Neumeiers Interpretation der Essenz der Gemälde von Caspar David Friedrich. Das wäre zwar weit ausgeholt – aber auf hermeneutischer Ebene fragt sich: warum nicht?
Die Einsamkeit des Menschen, gerade des homosexuellen, zeigen immer wieder Szenen mit Caspar Sasse. Solo sitzt er auf einem Stuhl, wo er auch im Stehen ein Solo tanzt. Er steht, er dreht sich, er bedeutet mit Gesten sein Unwohlsein in dieser Welt.
Anders die Figur, die Alessandro Frola mit herzerfrischender Eleganz zelebriert. Wenn er auf einem Stuhl sitzt, so ist es Tanz, um die eigene Schönheit zu zeigen, um Verbindung aufzunehmen.
Doch Sasse steht hier im Zentrum. Er steht für den jungen John Neumeier, der im ersten Teil des Abends verzweifelt nach der eigenen Identität sucht. Auf diesem Weg entdeckt er einen Zylinderhut, den er nach langem Zögern und fast fetischhaftem Anbeten aufklappt und aufsetzt.
Es ist der Künstlerhut, der Spaßmacherhut, der Hut der Outlaws, die im Zirkus und sogar auf dem Friedhof ihren Dollar machen. Sasse zuckt und schlackert mit den Beinen: Er entdeckt im Kostüm des Klamauk- oder Revue-Tänzers seine persönliche Freiheit. Tatsächlich waren Theater schon immer Horte der Homosexualität, an denen weniger versteckt als woanders Schwulsein geduldet wurde. Dieses Freiheitsgefühl, der Showdance einerseits, die nicht versteckte „Tuntigkeit“ andererseits, äußert sich in fantastischen Sprüngen und Drehbewegungen.
Doch da naht mit Anna Laudere die Mutter – und sie zieht dem Jungen den Hut rigoros vom Kopf. Er soll sich nicht unter Klischeekostümen verstecken, soll sich nicht zum billigen Clown machen, ein wenig sexueller Freiheit wegen. Dennoch versteht sie ihn, unterstützt ihn, tröstet ihn – und hält seinen Kopf liebend eng umschlungen.
Aber sie verlangt mehr von ihm. Er soll es weiter bringen, wie auch immer.
Eine wunderbare Szene, die Aufschluss darüber gibt, dass Lucile, die polnischstämmige Mutter von John Neumeier, nicht nur für die Schlaflieder zuständig war, die sie ihm sang. Von ihr hat er auch seinen ausgeprägten Schönheitssinn, wird gemutmaßt – und ihre Liebe hat ihn für sein Leben geprägt und ermutigt. Was nicht heißt, dass es keine familiären Spannungen gab.
Dagegen stehen ganz deutlich die Umarmungen von Mann zu Mann. Im ersten Teil des Abends bilden sie eine Art Höhepunkt: Wie ein Initiationsritus mutet es an, wenn Sasse einen Tänzer nach dem anderen empfängt und sich in eine enge Umarmungspose mit ihm stellt, bevor dieser weiter geht und der nächste aus den Kulissen kommt. Man fühlt sich sogar an die „Matthäus-Passion“ von Neumeier und die Ernennung der Jünger darin erinnert, und man versteht: Sexualität kann auch etwas Geheiligtes sein – und zudem etwas, das eine soziale Bindung auch jenseits der Paarbildung schafft.
Oft wird hier auch noch in die Stille hinein getanzt. Was die Intensität der Wirkung noch verstärkt.
Nach der Pause ist der junge Mann erwachsen. Das Kind im Manne hat er sich bewahrt, aber die ärgsten Kämpfe sind überstanden. Für John Neumeier begann nach der mühseligen Ausbildung mit einem Stipendium in den USA ein neuer Lebensabschnitt in Europa. Hier unterrichtete ihn – gratis, weil er so talentiert, dabei aber eher arm war – die „Männermacherin“ Vera Volkova in Kopenhagen. Ihr ist übrigens der erste „Epilogue“, der Paartanz zu Mahlers Adagietto, gewidmet.
Mit seinem letzten Schliff an der Royal Ballet School in London endete Neumeiers Ausbildung, die mit einem Studium der Literatur und Theaterwissenschaft an der Marquette University in Milwaukee begonnen hatte.
Das Engagement beim Stuttgarter Ballett von John Cranko, wohin ihn Marcia Haydée als Beraterin Crankos geholt hatte, prägte Neumeier entscheidend. Er war im Ballettsaal, als „Onegin“ kreiert wurde; er tanzte in „Der Widerspenstigen Zähmung“; er konnte als Choreograf, als Tanzschöpfer, bei der Noverre-Gesellschaft seine ersten viel beachteten Schritte gehen.
Bald kam der Ruf nach Frankfurt am Main, wo er als junger Ballettdirektor bereits Glanzstücke wie seinen „Nussknacker“ kreierte. Den Bühnenbildner Jürgen Rose hatte er Cranko abspenstig machen können und holte ihn immer mal wieder nach Hamburg, wo Neumeier 1973 als Ballettboss startete.
Die neoklassischen Linien im Werk von John Neumeier haben nicht nur mit dem Choreografen Antony Tudor zu tun, sondern auch mit Kenneth MacMillan und John Cranko, deren Stücke Neumeier in Stuttgart „atmete“. Aber auch Frederick Ashton und Maurice Béjart, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband, sind für das Werk Neumeiers unabdingbar.
Der 2007 verstorbene Maurice Béjart steht Pate für den Beginn des zweiten Teils von „Epilog“ von 2024. Und die auch optisch zu erkennende Verbindung hat hier eine Symbolik: Stühle. Einen Haufen Stühle auf der Bühne.
1987 studierte Maurice Béjart mit John Neumeier als Sprecher und Tänzer neben Marcia Haydéeein Stück, frei nach Eugène Ionesco, in Hamburg ein: „Die Stühle (Les Chaises)“. Neumeier provoziert hierin fast mit sachlich-forderndem Ton, in dem er Sätze von Ionesco proklamiert. Mit Marcia, die ohnehin auch seine Muse war, spätestens seit er 1978 „Die Kameliendame“ für sie in Stuttgart kreiert hatte, tanzte und bespielte er eine Landschaft aus Kaffeehausstühlen.
Die Sitzhölzer, die nicht ohne Hintersinn auf die vier Buchstaben des Menschen verweisen, ersetzen hier ein sonstiges Bühnenbild. Mit der apokalyptischen Schärfe, die das Original „Die Stühle“ als Einakter von Ionesco hat, wollen die Tanzmenschen sich aber lieber nicht auseinandersetzen. Ein greises Ehepaar lebt bei Ionesco in einer verwüsteten Landschaft, die von modrigem Wasser und einer Mückenplage geprägt ist. Ihr Wohnort: ein Turm.
Daher also rührt der hölzerne, sezierte Turm im Bühnenbild in „Epilog“.
Das absurde Theaterstück von Ionesco endet jedoch mit dem euphorischen Suizid der beiden Alten durch einen Sprung aus dem Turmfenster. Darum also ist der Turm überhaupt ein Turm – was traurig und makaber, aber auch alarmierend zugleich ist. Gemeint ist: Die Gefahr einer gefährlichen Depression, eines Selbstmords, ist durch das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, generell nicht gering. Jede und jeder, die oder der davon betroffen ist, sollte sich damit auseinandersetzen.
Bei John Neumeier springt niemand aus dem Fenster, schon gar nicht aus Turmhöhe. Die Schwierigkeiten des Lebens müssen hier bewältigt werden, Verbesserungen sollen erfochten werden – und das Leiden muss ausgehalten werden.
Im zweiten Teil von „Epilog“ ist ohnehin alles „more easy“ als im ersten. Nur die Stühle erinnern noch an die Altlasten, mit denen die jungen Menschen befrachtet werden.
Wir sehen zu Beginn des zweiten Teils einen Trum, einen Pulk aus Menschen und Stühlen, und langsam, ganz langsam, strecken einige Tänzer ihre Arme aus und heben so die Stühle, die sie mit ihren Händen festhalten, in die Höhe. Das Mobiliar wird zur Trophäe.
Es ist ein Triumph der jungen Menschen über Althergekommenes, vielleicht über Vorurteile oder über überkommene Zwänge. Es lebe der Stuhl, wenn er sich gut handhaben lässt!
Und: Es ist ein lebendes Tableau, ein Denkbild, fast ein Mahnmal, das John Neumeier hier mit seinen Tänzern und den hölzernen Requisiten geschöpft hat.
Der Choreograf als Bildhauer am lebenden Material. Wie nebenbei ist es auch eine Hommage an Maurice Béjart, mit dem Neumeier so einige Arbeiten verbinden.
Das Selbstbewusstsein als Künstler tragen jetzt auch viele junge Männer auf die. Bühne, Caspar Sasse inbegriffen. Ja, das Leiden hört nie ganz auf – aber der Weg, der dennoch beschritten werden kann, ist frei.
Er ist frei für zwanzig Tänzerinnen und Tänzer plus Caspar Sasse, die in Paargruppen, in Soli, synchron oder als Corps agieren. Besonders tänzerisch-athletisch ist eine Sprungfigur, bei der die jungen Damen die Herren sozusagen anspringen und in den Posen mit gebeugten Knien aufgefangen und gehalten werden müssen.
Das Leben hat mehr mit Freiheit zu tun, wenn man selbst ungehindert seiner Wege gehen kann – der Perspektivwechsel zeitigt fast frohgemut zu nennende Tänze. Über punktuelle Ausgelassenheit geht es aber selten hinaus. Zu sehr schweben die ewigen Wahrheiten und auch manche Eingeklemmtheiten aus der Jugendzeit im Raum: Schuberts Musik, hier die drei Klavierstücke D 946, lassen keine Auflösung aller Konflikte zu.
Schließlich kommen die wirklich herbstlich gefärbten „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss hinzu. Melancholie, du hast das Zepter hier!
Asmik Grigorian singt mit dem Odem des Wissens um Vergänglichkeit, aber auch mit der gelassenen Stärke einer Majestät oder gar einer Überirdischen. Es durchweht uns, mit angenehmem Schmelz und Schauer, die Ahnung von Ewigkeit.
Diese durchströmt auch den Tanz.
Und es sind so viele hervorragende Tänzerinnen und Tänzer, die man hier nennen müsste. Zum Beispiel: von Silvia Azzoni – für die man sich freut, dass man sie noch einmal in einer Kreation von Neumeier sieht – und Anna Laudere über Alina Cojocaru und Ana Torrequebrada bis zu Louis Musin, Alessandro Frola, Aleix Martínez, Jacopo Bellussi und Christopher Evans.
Eleanor Broughton, Charlotte Larzelere, Olivia Betteridge und Francesco Cortese, Pepijn Gelderman und Joao Santana, der ein entzückend leichtfüßiges Solo hat, dürfen nicht übersehen werden.
Alina Cojocaru und Jacopo Bellussi schließlich zeigen jene Verliebtheit, wie Neumeier sie sich für seine Eltern vielleicht wünschte. Unauflöslich scheint diese Verbindung, gegen jedes Hindernis unverbrüchlich geschmiedet.
Aleix Martínez hingegen verkörpert den Leidensmann, den Schmerzensmann, den Zerrütteten, auch den Wissenden, kurz: den Zerrissenen. Seine Hände wollen und wollen nicht aufeinander schlagen, immer wieder zerteilen sie, aneinander vorbei, die Luft – negative Gefühle lassen ihn dort versagen, wo es scheinbar doch am einfachsten ist. Er ist auch das Schreckensbild des Alters: stark behindert und eingeschränkt, genügt der Mensch nicht mehr seinen eigenen Ansprüchen.
Erst ganz am Ende bringt ein versöhnlicher Geist Ruhe in die Tanzeinheiten. Alina Cojocaru und vier Jungs (Alessandro Frola, Aleix Martínez, Louis Musin und Caspar Sasse) bringen einen zum Dahinschmelzen. Und wie sagte John Neumeier mal: „Ob Mann, ob Frau – ich bin sie alle!“
Wir glauben das.
Später, beim Premierenempfang, hält John Neumeier eine bewegende Ansprache: „Man kommt in einen Raum, meist mit Spiegeln, und die Tänzer erwarten etwas von einem. Das ist eigentlich der Moment, für den ich lebe.“
Seine Kreationen haben ihm diktiert, wie er zu leben hat, und sein Leben hat seine Kreationen geprägt. So soll es sein in der Kunst.
Und der „Epilog“ ist ein Nachspiel mit Folgen: Man wird es nie vergessen.
Gisela Sonnenburg