Reids Darlings kommen Vier von vier künftigen Ballettchefs in Deutschland sind Protegés von Reid Anderson. David Dawson, der hervorragend zum Semperoper Ballett gepasst hätte, wartet hingegen auf ein Angebot

Reid Anderson feierte seinen Abschied als Stuttgarter Ballettchef

Galt immer als ein netter Typ und hat vor allem hohes Ansehen: Reid Anderson, ehemals Stuttgarter Ballettintendant, erscheint mittlerweile als der wohl wichtigste Strippenzieher im deutschen Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Was ist eine graue Eminenz? Genau: eine einflussreiche Person, die im Hintergrund die Strippen zieht, ohne, dass die Öffentlichkeit das Ausmaß dessen kennt. Im deutschen Ballett scheint es da außer John Neumeier vom Hamburg Ballett nur noch einen Mogul zu geben: Reid Anderson. Der gebürtige Kanadier tanzte einst bei John Cranko in Stuttgart und hatte das Glück, mit Crankos Erben Dieter Graefe liiert zu sein. Dadurch bestimmt Anderson seit Jahrzehnten über die Lizenzen der Stücke von Cranko. Den aktuellen Stuttgarter Ballettintendanten hat er sowieso ausgewählt: Tamas Detrich folgte Anderson 2018 im Amt. Detrich ist ein begnadeter Ballettmeister, aber in vielen Dingen, die für einen Ballettchef wichtig sind, völlig talentfrei. So musste man ihm die frühere Geschäftsführerin des Hauses als Referentin zur Seite stellen. Er ist also faktisch eigentlich nur künstlerischer Direktor. Aber auch Christian Spuck, ab kommender Saison in Berlin der neue Ballettintendant, ist ein Protegé von Anderson: Spuck war seit 2001 Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett, wurde dort zum choreografischen Star. Ob er es ohne Anderson zum Ballettdirektor erst in Zürich und jetzt bis zum Berliner Posten gebracht hätte, ist fraglich.

Auch die stärkste Konkurrenz des Stuttgarter Balletts vor Ort wurde von Reid Anderson selbst inthronisiert: Eric Gauthier, der wie Anderson Kanadier ist, wurde vor Ort in Toronto von Anderson akquiriert, um ihn erst als Tänzer in Stuttgart, dann auch als Choreograf zu etablieren, wodurch Eric schließlich Chef der nach ihm benannten modernen Truppe Gauthier Dance wurde. Das Theaterhaus Stuttgart, dem das Tanzsensemble beigeordnet ist, wird von der Bank eines Autoherstellers finanziert. Fernsehsender wie 3sat fressen solchen Künstlern darum quasi aus der Hand: Man will mithalten mit dem guten oder auch schlechten Geschmack der Wirtschaft.

Eric Gauthier live bei der Probe

Eric Gauthier, er stammt wie Reid Anderson, Kinsun Chan und Aaron S. Watkin aus Kanada, leitet in Stuttgart eine mit dem Opernensemble konkurrierende Truppe. Foto: Gisela Sonnenburg

Dass in Stuttgart – und auch in Hamburg – schon seit Jahren keine russischen oder weißrussischen Tänzer:innen mehr auftauchen, fällt allerdings auf. Es dürfte mit rassistischer oder politischer Diskriminierung zu tun haben. So ist auch keiner der Darlings von Reid Anderson russisch oder russophil, sondern alle stehen politisch stramm auf Seiten der USA.

Eine differenzierte Meinung zu haben, können sich deutsche Staatskünstler derzeit wohl sowieso nur mit Mut zum Risiko leisten.

Die Show der Reid-Anderson-Lieblinge geht derweil weiter: Der aktuell kommissarische, aber bald reguläre Ballettdirektor in Hannover, Christian Blossfeld, trat beim Stuttgarter Ballett zwar nie offiziell in Erscheinung. Aber hinter den Kulissen soll er, so steht es in seinem Lebenslauf, von 2016 bis 2019 Reid Anderson beim Regieren geholfen haben: „an der Schnittstelle zwischen Geschäftsführung, Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit“, heißt es, wobei diese „Schnittstelle“ an einem deutschen Staatstheater wohl nur für ihn erfunden wurde.

Zumindest ist Blossfeld damit ein erwiesener Freund von Reid Anderson. Das genügt womöglich für eine Karriere als Ballettchef in Deutschland.

Und auch der Vorgänger von Blossfeld, der wegen seines kriminellen Benehmens gefeuerte Marco Goecke, war, man ahnt es schon, ein Zögling von Reid Anderson.

Christian Blossfeld profitiert vom unrühmlichen Abgang von Marco Goecke in Hannover – und rückt nach. Foto: Clemens Heidrich

Doch damit ist die Geschichte vom Strippenzieher Reid Anderson noch nicht vorbei. Auch Kinsun Chan, der 2024 als Nachfolger von Aaron S. Watkin das hoch renommierte Semperoper Ballett als Direktor übernehmen soll, erhielt seinen Ritterschlag als Choreograf von Reid Anderson. Der lud ihn 2001 exklusiv ein, für das Programm „Junge Choreographen“ im Rahmen der damals noch existierenden Noverre-Gesellschaft zu kreieren. Ein seltener Vorgang, denn normalerweise kamen und kommen die choreografischen Helden dieser Programmreihe aus dem Ensemble vom Stuttgarter Ballett. Wie auch immer:

Ohne diese Stuttgarter Weihen wäre Chans Karriere vermutlich anders gelaufen. Aktuell ist er Chef der kleinen schweizerischen Tanzkompanie St. Gallen, die man getrost als ziemlich klägliche Provinztruppe bezeichnen darf. Aber wie man sieht: Dank der Kulissenschieberei hinter den Kulissen kann es steil bergauf gehen. Womöglich spielt die richtige sexuelle Ausrichtung dabei eine Rolle.

Auch Aaron S. Watkin, ebenfalls homosexuell, hatte schon Berührung mit Reid Anderson. Er ging vom Nationalballett von Kanada, als Anderson dort Ballettdirektor war, nach Europa. Als Watkin dann 2006 Ballettchef in Dresden wurde, kam er auf Empfehlung des Choreografen William Forsythe dorthin.

Kinsun Chan, hier im Foto gut gelaunt, residiert noch in der Schweiz, kommt aber bald nach Dresden. Leider. Foto: Urs Bucher

Dieses Mal wurden indes keine Experten für die Neubesetzung des Dresdner Ballettpostens um Rat gefragt. Sondern die künftige Dresdner Opernintendantin Nora Schmid und ihr Stellvertreter Jörg Rieker, beide von der kleinen österreichischen Oper in Graz ans weltbekannte Haus in Dresden kommend, führten selbst angeblich zahlreiche Gespräche: um herauszufinden, wen sie wohl fürs Ballett an der Semperoper gut finden würden.

David Dawson, der einzige Ballettkünstler, der objektiv sehr gut auf die Position als Nachfolger von Aaron S. Watkin gepasst hätte und der dank seiner jahrzehntelangen Arbeit dort auch ein gewisses Recht gehabt hätte, zumindest angehört zu werden, wurde weder angefragt noch zu einem Gespräch mit Schmid und Rieker eingeladen.

In Dresden hat Dawson aber bereits hervorragende Arbeit beim Semperoper Ballett geleistet. Von 2006 bis 2008 hat er dort als Hauschoreograf gewirkt, hat schon sein viel beachtetes erstes Handlungsballett „Giselle“ dort kreiert. Es folgten mehrere abendfüllende Programme. Und gerade seine jüngste Dresdner Premiere „Romeo und Julia“, in einer hochelegant-tragisch-modernen Version im letzten November auf die Bühne gebracht, sorgte für Begeisterungstränen.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Strahlende Gesichter beim Premierenapplaus nach „Romeo und Julia“ von David Dawson (zweiter von links im Foto) in Dresden. Foto: Franka Maria Selz

Beim Staatsballett Berlin hatte Dawson übrigens auch schon ein erfolgreiches Programm. Mit dem Stück „Voices“ schuf er in Berlin eine faszinierende Hommage an die Erklärung der Menschenrechte.

Ähnlich überzeitlich-politisch hat sich im Ballett nur noch Nacho Duato mit „Herrumbre“ choreografisch geäußert. Beide, Duato und Dawson, sind nach den objektiv existierenden Kriterien für künstlerische Qualität – und dazu gehört vor allem eine stimmige Form-Inhalts-Beziehung – absolut hoch einzuschätzen.

David Dawson würde gern Verantwortung für eine Compagnie übernehmen. Er gehört keineswegs zu jenen flippigen Choreografen, die gern mit Lizenzgeldern absahnen, sich sonst aber nicht festlegen wollen. Mir sagte Dawson wörtlich, dass er „sehr gerne“ in Deutschland Ballettdirektor werden würde.

Hoffen wir, dass das jetzt jemand mit Grips und Befugnis liest.

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Außerdem kann ich weitere geeignete Kandidaten für ballettöse Chefposten empfehlen: von Mauro de Candia bis zu Giuseppe Picone gibt es Choreografen, die aus wenig viel machen können, was für einen Ballettchef in unsicheren Zeiten ein wichtiges Talent ist. Und de Candia leitete bereits erfolgreich in Osnabrück das örtliche kleine Ballettensemble, schuf aber auch für andere Compagnien und Gelegenheiten mitreißende Stücke. Picone leitete einige Jahre das Ballett im Teatro San Carlo in Neapel. Sein „Nussknacker“ ist eine der entzückendsten Versionen, die ich von dem Tschaikowsky-Klassiker kenne. Und seine „Carmina Burana“ erfrischt mit originellen, nicht plakativen Einfällen.

Dawson, de Candia und Picone – solche Tanzschöpfer muss man wegen ihrer Choreografien bewundern.

Das kann man von Kinsun Chan leider nicht behaupten. Sein Stil ist gymnastisch-grob, unpräzise und effektheischerisch. Auch Inhalte zählen nicht zu seinen Stärken. Kitsch und das Imitieren der hysterisch-zappeligen Stile von Marco Goecke und Ohad Naharin wechseln sich in seinen Arbeiten ab. Derartig formalistisches Bewegungstheater gibt es in jedem besseren Provinzstudio.

Zur Erinnerung: Kitsch wird als gestörte Form-Inhalts-Beziehung definiert. Entweder wird dabei einer simplen Form zuviel Inhalt aufgeladen oder zuviel Form soll verbrämen, dass es kaum Inhalt gibt. Echte Kunst geht anders.

Christian Bauch als Capulet und Jenny Laudadio als Amme streiten mit Julia (Ayaha Tsunaki), die ihre Zukunft selbst bestimmen will. Orchestermitglieder haben in Deutschland ja Mitbestimmungsrecht, was ihre Chefwahl angeht – Tänzer hingegen mitnichten. Foto der Dawson-Inszenierung vom Semperoper Ballett: Jubal Battisti

Chan – der eher der Inhaltsleere zuneigt – ließ im Februar sein „Tanzstück“ namens „Jupiter und Venus“ in Graz premieren. Mit der Antike hat das Gruppengehupfe, das Chan inszenierte, aber nichts zu tun. Sondern, was wenig originell klingt, vielmehr „mit Emotionen“, so verrät Chan. Weil ihm die Musik von Mozarts Jupiter-Sinfonie gefiel, findet sich der römische Gott jetzt mit Gefährtin Venus im Titel.

Wenn Chan über seine Arbeit spricht, wirkt das, als sei er ein Animateur im Kindergarten. „Ein bisschen Lachen tut gut“, weiß er die winzige Prise Humor in seinem Werk zu rechtfertigen.

Er wird in Dresden vielleicht Menschen in die Semperoper locken, die eigentlich mit Kultur nichts anfangen können. Etwa Touristen, denen eh egal ist, was sie sehen, oder junge Leute, die außer Punk auch mal Protz und Prunk live erleben wollen. Und das Dresdner Opernhaus gleicht ja tatsächlich einem Palast.

Aber einem ausgemachten Dilettanten wie Chan das international angesehene Semperoper Ballett anzuvertrauen, zeugt schon fast von Skrupellosigkeit.

Nun kommt das neue Chef-Duo aus Graz auch selbst auf merkwürdige Weise  zur großen Ehre in Dresden: Es hatte es dort schon mal bis auf die Stellvertreter-Ebene geschafft. Dann starb überraschend die eigentliche Intendantin, und Nora Schmid und Jörg Rieker rückten in die erste Reihe auf, um die Spielzeit zu Ende zu bringen. Das war 2012. Danach sammelten sie nur in Graz ihre Leitungserfahrungen.

Aus welchen Beweggründen heraus man diesen rundum mittelmäßigen Kulturschaffenden nun das hehre Haus in Dresden mit seinem weltbekannten Orchester und hochkarätigen Ensembles ganz anvertraut, ist unklar. Man muss schon den Verdacht haben, dass die Hochkultur – und gerade Oper und Ballett – in Deutschland systematisch zersägt werden sollen. Echte Talente haben wohl  keine Chancen mehr, in Führungsposten zu kommen.

Die einzig guten Nachrichten aus Dresden: Die Ballett-Company wird erstmal nicht verkleinert – und Stücke von David Dawson bleiben zunächst im Repertoire.

"Romeo und Julia" von David Dawson in Dresden

Julia (Ayaha Tsunaki) ahnt ihren nahen Tod… in der Inszenierung von „Romeo und Julia“ von David Dawson. Solch eine rührende Szene kann nicht jede/r! Das Foto stammt vom Semperoper Ballett, und zwar von: Jubal Battisti

Vielleicht geht es der deutschen Kulturpolitik aber auch darum, das Publikum konsequent auszutauschen. Gebildete sollen gefälligst zuhause bleiben, während Partyfreunde im Opernhaus eine billig zurecht geschusterte Pseudokunst als divers collagierten Mix genießen sollen.

Credo: Kunst ist bunt und laut – und hat mit Spaß zu tun.

Oper und Ballett sind dann nicht mehr der Höhepunkt künstlerisch geprägter Erlebniskultur. Sondern nur noch Beiwerk der Gastronomie. Die eigentliche Show geht erst danach im Club ab, gern auch mit benebelnden Drogen, die bald legalisiert werden, damit nur ja keine Kritik an der Regierung aufkommt.

Glückliche Konsumenten statt kritischer Zuschauer – ist das die Zukunft?!

Aus und vorbei wäre es dann mit den Theatertheorien von Aristoteles bis Lessing, von Friedrich Schiller bis Martin Esslin. Schluss dann mit ästhetischen und Ethikfragen, mit gehobener Kommunikation und ätherischer Selbstbefragung. Moral, mit einer süßen Hülle gut verpackt – dieser Bildungs- und auch Läuterungsauftrag hat im Partyzeitalter nichts zu suchen. Da beliefe sich der Inhalt ganz platt auf ein bisschen Toleranz allem gegenüber, was der Politik gerade nützt.

Handlungsmaximen und Gefühlshilfen wären nur noch auf unterstem Niveau möglich.

Sollten die Kulturpolitiker nun also vorhaben, das Ballett in Deutschland abzuschaffen, so befinden sie sich tatsächlich auf dem besten Weg.

Den Kultursponsoren, darunter große Auto- und Energiekonzerne, kann das nur lieb sein. Sie wollen keine kritischen Zeitgenossen, die ihnen womöglich vorhalten, von der Preisspirale zu profitieren und sowieso Umwelt und Menschen über Gebühr zu beschädigen. Die Wirtschaft will, wie die Politik, Mitläufertum.

Demis Volpi wird Nachfolger von John Neumeier

Demis Volpi vor der Tür zum Ballettzentrum Hamburg, durch die jahrzehntelang John Neumeier als Boss ging. Foto: Kiran West

So stammt auch Demis Volpi, der designierte Nachfolger von John Neumeier in der Balletthochburg Hamburg – wie könnte es auch anders sein – aus dem Stall von Reid Anderson, wo er 2006 für die Noverre-Gesellschaft choreografierte und 2013 mit „Krabat“ einen Erfolgshit landete. Ja, er ist auch schwul. Natürlich. Er ist ein echter Darling von Reid.

In Hamburg war bei einer Schul-Gala schon mal Volpis Version vom  „Karneval der Tiere“ zu sehen. Am Ende wird der Schwan darin lustvoll gelyncht. Also aufgegessen.

Nun ist der Schwan in der Oper und noch stärker im Ballett ein Symbol des Wahren, Guten, Schönen. Er gilt als unschuldige schöne Kreatur, die den Schutz des Menschen braucht. Ihn banal zum Fraß zu machen, ist pädagogisch alles andere als sinnvoll.

Aber Gewalt gegen Ideale ist wohl genau das, was die Nato-Staaten in der Kunst zu sehen wünschen. Da startet dann auch der Porsche-BMW-Benz so richtig stark durch. Demnächst werben Ballette noch für die Rüstungsindustrie. Vorsicht, Platz machen! Das ist nichts für sensible Zeitgenossen! Und für solche mit künstlerischen Ansprüchen wohl eher auch nicht.

Wie sage ich so gern: Qualität hat ihren Preis – ihr Fehlen aber auch.
Gisela Sonnenburg

P.S. Die skandalös schlechte „Dornröschen“-Inszenierung von Reid-Darling  Christian Spuck – mit Fliegenmenschen und schwarzen Kinderwagen – gibt es am 6. Mai 23 um 20.15 Uhr auf 3sat zu sehen.

www.stuttgarter-ballett.de

www.semperoper.de

www.staatsballett-berlin.de

www.hamburgballett.de

www.staatstheater-hannover.de

 

 

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