Ein langer, heller Ton erklingt, dazu gesellt sich ein Gewisper der Streicher. In den Bässen ist es derweil ein Auf und Ab, aber einige Etagen höher schleicht sich ein irrlichternes Melodiefragment ein. Rauschhaft überkommen ganze Fluten aus Klangkaskaden den Raum; ein impressionistischer Wirrwarr entsteht, bis sich daraus ein Horn—Solo erhebt und mit Sanftmut triumphiert: so souverän wie die Liebe selbst.
Jetzt erst geht der Vorhang in der Semperoper in Dresden hoch, gibt den Blick frei auf eine faszinierende Szenerie des zweiaktigen Balletts „Tristan + Isolde“ von David Dawson: Mit dem Rücken zu uns steht das Volk auf der Bühne, es sind nur Erwachsene, denn es geht um ernsthafte Dinge. Die Leute sind angespannt und erwartungsvoll, die Blicke sind fest auf den König gerichtet. Der hält eine Ansprache mit seinem Körper, denn er ist ja Tänzer: auf einem wie der heilige Gral nach vorn abstrahlend leuchtenden Tisch tanzredet Raphaël Coumes-Marquet als König Marke. Er spricht mit seinen rund ausholenden Armen, den Tango-ähnlichen Schritten auf dem Platz und den geschmeidigen seitlichen Verbiegungen seines Leibes davon, wie wichtig es ist, sich in diesen Zeiten zu vergrößern – und dafür auch Opfer zu bringen.
Irgendwie kommt einem diese Rede fast bekannt vor, obwohl die Schritte und Armbewegungen originell und ganz neu sind. Aber reden nicht alle Politiker und Herrscher immerzu nur von dem, was die anderen machen sollen? Dennoch: Dieser Marke ist ein hervorragender Rhetor. Er reißt mit, nicht nur das Publikum, sondern auch das Volk auf der Bühne, und dessen Arabesken, Drehungen, Ausfallschritte zeigen, wie es ist, wenn eine Masse Mensch gemeinsam mit ihrem Anführer einen Traum träumt. Reden zu vertanzen, ist ja überhaupt mal eine Idee! Und unversehens rutscht zudem Poesie in diese Szene, die doch zu Beginn so stark von Macht und Machtausübung geprägt war.
„Tristan + Isolde“: Das ist eine der berühmtesten Liebesgeschichten der Welt. Endlich gibt es ein abendfüllendes, großes Ballett über diesen Stoff! Ein tragischer Stoff, dennoch einer, der Hoffnung stiftet, und so ergeht es einem auch hier: Düster und ergreifend ist dieses neue Ballettwerk aus der Schmiede der Dresdner Semperoper, aber es ist keineswegs depressiv, zu gewichtig oder gar „abtörnend“. Im Gegenteil. Einzelne Szenen und Momente – vor allem die von der mit Courtney Richardson fantastisch besetzten weiblichen Hauptfigur Isolde – stellen größtes Glück dar. Dennoch bleibt der Gesamteindruck einer modern-nihilistischen Gesellschaft haften – das muss so sein, denn der „Tristan“ spielt nicht in Disneyland.
„Menschen sind nicht perfekt“, sagt mir der britische Choreograf David Dawson, als ich vor der Hauptprobe, der wichtigen Bühnenprobe, mit ihm spreche. David ergänzt: „Oft sind sie es ja auf eine wunderschöne Weise nicht!“ Dagegen ist nichts zu sagen. Ein Choreograf, also ein Künstler, der mit lebenden menschlichen Körpern arbeitet, muss es wissen, wie es so ist, mit den Perfektionen der Proportionen, Linien, Arabesken. Er ist gewissermaßen Fachmann für Schönheit. Aber was heißt hier nur „Körper“? Die Tänzer vom Semperoper Ballett haben auch viel Seele, die sie auf der Bühne zeigen, und auch diese hat ihre Schönheiten und manchmal auch ihre Mängel, bei allen Menschen. Tatsächlich sind die darstellerischen Passagen sowie die ständige Begleitung des Tanzes mit gestischer Mimik in Dawsons neuem Stück ganz wichtig. Da muss jeder Tänzer auch Schauspieler sein, sonst würde das gesamte Werk nicht so hinhauen.
„Das ist hier nicht Ballettland im negativen Sinn, wo man nur die glänzenden Oberflächen berührt“, sagt Dawson. Sein Blick ist fest und freundlich. Aber es ist ihm wichtig, worüber er spricht, man merkt das. Er will deutlich mehr als saubere Pirouetten und eine gewisse Anziehung der körperlichen Landschaften auf der Bühne zeigen. „Ich möchte eine emotionale Reise erreichen“, sagt er – und diese selbst auferlegte Pflicht scheint ihn mit heimlicher Freude zu erfüllen.
Nicht umsonst hat er mit Szymon Brzóska, dem jungen, hoch begabten Komponisten, intensiv an der Partitur herumgetüftelt. Da stimmt halt jeder Ton, jede Pause, jeder Rhythmuswechsel. Ungewöhnlich ist die Musik und dennoch fesselnd. Sergej Prokoffiew, der große moderne Klassiker, was Ballettmusik angeht, hätte seine Freude daran, aber im Vergleich wirkt Brzóskas dicht komprimiertes Klanguniversum noch tänzerischer, von daher ballettfreundlicher als Prokoffiews Noten (über die sich die Tänzer seit der Uraufführung von „Romeo und Julia“ auch gelegentlich heftig beschwerten).
Auch sonst überließ David Dawson nichts dem Zufall, stellte sich ein Team zusammen, das er sorgfältig auswählte. Der Bühnenbildner Eno Henze hat einen guten Ruf, was außergewöhnliche Raumlösungen angeht, und die Kostümbildnerin Yumiko Takeshima ist sogar vom Ballettfach, war früher Primaballerina, beim Semperoper Ballett in Dresden.
Mit dem Semperoper Ballett, da ist David Dawson sich sicher, hat er zudem eine Truppe vor sich, die „auf dem Weg ist, eine der besten Compagnien der Welt zu werden.“ Wenn sie es nicht schon ist. Denn es gibt kaum ein anderes Ballettensemble, das so viele verschiedene Stile in so hoher Qualität und vor allem auch mit so vielen so unterschiedlichen Tänzern aufzuführen vermag. Allein dieser Bonus macht das Semperoper Ballett zu etwas sehr besonderem. Der Ballettdirektor Aaron S. Watkin hat hier bereits allerhand Aufbauarbeit geleistet.
Als er den ihm gut bekannten David Dawson bat, diese Saison ein abendfüllendes Ballett für die Semperoper zu kreieren, schlug Dawson ihm zwei Themen vor: den „Tristan“ und den „Ring“. Nun gibt es zu Richard Wagners „Ring“-Legendenzyklus bereits nicht nur die Opern, sondern auch eine ballettöse Steilvorlage: den „Ring um den Ring“ von Maurice Béjart, ein knapp fünfstündiges Mammutwerk von höchster Grandezza, Béjarts bedeutendstes und vielseitigstes Werk.
Zu „Tristan und Isolde“ fehlten hingegen bislang abendfüllend und mit uraufzuführender Musik groß angelegte ballettmäßige Einlassungen. John Neumeier hat zwar 1982 einen „Tristan“ nach der Musik von Hans Werner Henze kreiert – aber das Stück ist nicht abendfüllend und auch nicht als Hauptattraktion eines Ballettabends angelegt. Es geriet diffizil und etwas spröde, es ist nicht häufig aufgeführt worden, zumal nicht im Vergleich zu anderen Neumeier-Balletten, die sich oft als wahre „Kassenknüller“ entpuppen. Dennoch ist es sehenswert, zumal im Verbund mit Neumeiers ebenfalls mittelalterlich inspiriertem Werk „Einhorn“.
Ich persönlich warte übrigens schon seit meiner Schulzeit darauf, dass die von Liebesthemen besessene Ballettwelt – die gefühlte Hundertschaften von „Romeo und Julia“-Balletten zu bieten hat – endlich auch die schönste und traurigste aller klassischen Liebesgeschichten für sich entdeckt, und zwar abendfüllend und mit allem großartigen Tamtam, das man als Ballettomane so haben möchte.
Watkin entschied sich denn auch für den „Tristan“. Dafür wird man ihm immer dankbar sein! Und auch David Dawson freute sich über den Entscheid, denn auch er dachte bereits als Teenager daran, aus dem mittelalterlichen Stoff um eine verbotene und letztlich tödliche Liebe ein Tanzstück zu machen. Auch wenn das Libretto vom superumfangreichen Originalmythos schon aus Gründen der zeitlichen Machbarkeit stark abweichen müsste.
Um die in mehreren Versionen überlieferte, vor allem aber von Gottfried von Straßburg zu Anfang des 13. Jahrhunderts als Versepos verfasste Mär tanzbar zu machen, veränderte Dawson die Handlung, er übernahm dabei Einiges von Richard Wagner, dessen Oper „Tristan und Isolde“ von 1865 ebenfalls ein eigenes und eigenwilliges, aber bühnenwirksames Libretto hat.
Auch Dawson verknappte und verschmolz und erfand Neues. Denn allzu viele Episoden und Handlungsnebenstränge enthält die mittelalterliche Dichtung, und zu wenig liegt dort der Fokus auf dem Skandal der allumfassenden, bis in den Tod führenden Liebe der beiden Titelfiguren. Sie aber stehen konsequent im Zentrum bei Dawson. Erst eine grundlegende dramaturgische Vorarbeit (Dramaturgie an der Semperoper: Valeska Stern) ermöglichte es Dawson, mit „Tristan + Isolde“ ein spannendes, pointiertes, auch in sich geschlossenes Tanzdrama zu schöpfen.
Dennoch drängen ganz andere Fragen. Wo kommt David Dawson eigentlich her und wie kam er zum Ballett? Dawson ist gebürtiger Londoner, Jahrgang 1972, und seit er sieben Jahre alt ist, tanzt er. Seine Profi-Ausbildung erhielt er unter anderem bei der Royal Ballet School. Ein früh Begabter: 1991 gewann er den Prix de Lausanne, den wichtigsten Nachwuchspreis für angehende Profi-Tänzer. Noch während seiner Tänzerkarriere begann er, bedeutende Werke zu choreografieren.
Dass Dawson in Deutschland nicht ganz so bekannt ist, wie er es verdient, liegt daran, dass er ein echter Globetrotter ist: In mehr als 30 Ländern wurden seine Ballette bereits aufgeführt. Unter anderem entstand eine viel beachtete Uraufführung beim Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg! Und 2011 erhielt er für „The Grey Area“ den renommiertesten Preis der Ballettwelt, den „Oscar“ des Balletts: den Prix de Benois, der alljährlich in Moskau verliehen wird. Damit spätestens stieg Dawson in die Liga der Unbesiegbaren auf, was bleibenden Ruhm für geschöpfte Tanzkreationen angeht.
Zunächst aber war David Dawson Tänzer, und zwar zuerst beim Birmingham Ballett, danach beim English National Ballet in London, wo er Solist wurde. Schließlich tanzte beim Het Nationale Ballet in Amsterdam. Dort begann er 1997, zu choreografieren – und landete 2000 mit seinem umwerfenden Beziehungsstück „A Million Kisses to my Skin“ einen ersten langfristigen Welterfolg.
WIE EIN TÄNZER EIN CHOREOGRAF WIRD
Zwei Jahre tanzte Dawson noch, und zwar bei, wie könnte es anders sein für jemanden, der von der Klassik kommt und sich der Moderne zuwendet: William Forsythe. Ab 2004 bis 2012 war er Hauschoreograf, und zwar in Amsterdam, Dresden und beim Königlichen Ballett Flandern (welches übrigens soeben Sidi Larbi Charkaoui als neuen Ballettdirektor bekommen hat).
In Dresden wurde 2008, nachdem etliche kürzere Dawson-Stücke den Spielplan bereichert hatten, Dawsons moderne und abendfüllende Version des romantischen Ballettklassikers „Giselle“ einstudiert. In der letzten Spielzeit feierten gleich zwei Primaballerinen damit ihren Abschied. Eine davon, Yumiko Takeshima, war zu dem Zeitpunkt bereits in ihrem heutigen Beruf tätig: als Kostümbildnerin. Für Dawson hatte sie „Giselle“ mit leicht schwingenden, puderfarbenen Glockenrockkleidern ausgestattet. Für „Tristan + Isolde“ entwarf Takeshima ebenfalls die Gewänder: ein ästhetisches wie auch tiefsinniges Erlebnis, diese zu sehen, denn passend zu den Charakteren und ihrer jeweiligen Gefühlslage entstanden durchgestylte, aber auch rückhaltlos expressive Formen und Farben der Klamotten.
Das Licht von Bert Dalhuysen unterstreicht diese gedämpfte Farbenpracht. Schatten werfen sich lang an den Wänden entlang, Spotlights entstehen, und manchmal scheint es, als gebe hier nur das Bühnenlicht ein Versprechen auf eine lebenswerte Zukunft. Dalhuysen, der vor allem in den Niederlanden arbeitet, ist bereits ein erprobtes Mitglied der Dawson-Teams.
Und noch ein Wiedersehen wartete in Dresden auf David Dawson: mit Raphaël Coumes-Marquet, der den König Marke im „Tristan“ tanzt. „Er ist seit zwanzig Jahren meine Muse!“, sagt Dawson, und dank dieser langen Erfahrungen der beiden miteinander wurde die Partie des Königs Marke, die Raphaël tanzt, ein ergreifend menschliches Wunderwerk aus inneren Spannungen und äußerlich sichtbaren Realismen – zutiefst psychologisch und dennoch nicht fad oder seicht. Eifersucht, Machtstreben, betrogene Liebe und enttäuschte Freundschaft – es sind ja auch nur allzu gut bekannte Eigenschaften, die Marke hier durchmachen muss.
Am wichtigsten dennoch, natürlich: das Liebespaar. Das Titelpaar, das für Glück und Unglück zugleich steht. „Tristan und Isolde, das heißt Liebe und Tod auf den ersten Blick“, sagt mir Dawson, diese treffende Formulierung entsteht im Gespräch. Dawson weiter: „Tristan und Isolde sehen sich an, und sie schauen einander tief in die Seele. Aber von da an ist es mit ihnen aus. Sie haben im Grunde keine Chance mehr.“
Liebe, so tief und fesselnd, wie sie nur irgend möglich ist, trifft hier zwei Menschen, die nicht zueinander dürfen – und die daran sterben werden. Das ist von Anfang an so angelegt, denn glückliche Liebesgeschichten sind für Außenstehende zu langweilig, um als großes Ballett auf die Bühne gebracht zu werden. Es sei denn, es handelt sich um Komödien, aber das ist dann eben etwas ganz anderes…
Auf der Bühne sieht das erste Aufeinandertreffen der beiden Liebesgiganten hier so aus: Nachdem König Markes Soldaten einen leichten Sieg über die friedfertigen Untertanen in Königin Isoldens Land errungen haben, findet Isolde den verletzten Tristan wie leblos am Boden. Er rührt sie. Vielleicht hat sie auch Schuldgefühle, gibt sich Mitschuld an dem Gemetzel, das sie durch eine bessere Außenpolitik oder wenigstens besser gesicherte Grenzwälle vielleicht hätte verhindern können. Jedenfalls überlegt sie nicht lange, sondern behandelt Tristan mit einem magischen Puder. Schließlich ist sie Heilerin im Nebenberuf. Isolde ist – der Kenner weiß es – hier mit der Figur ihrer eigenen Mutter gleichen Namens verschmolzen. In der Ursprungsliteratur gibt es da noch einen Unterschied zwischen der Heilerin und Königin und ihrer Tochter, die die große Liebesgeschichte als Schicksal erhält.
Die Isolde von Dawson, die heilen und unmäßig lieben kann, findet jedenfalls beim noch liegenden Tristan das Schwert ihres in der Schlacht getöteten Onkels Marolt – sie weiß also, noch bevor sie ihm in die offenen Augen sehen kann, dass diese Sympathie, die es am Anfang ist, keinen Boden hat. Courtney Richardson tanzt dieses Wissen in einem anrührenden Solo vorn links an der Rampe – sie sich wird also sehenden Auges in ihr Verderben verlieben. Und dass die Funken sprühen, ist unvermeidlich.
Der schöne Tristan, sanft und anmutig getanzt von dem Franzosen Fabien Voranger, erholt sich dank der Heilkunst von Isolde überraschend schnell. Er steht auf, will zu seiner Gönnerin und Ärztin eilen, will ihr danken. Sie ahnt, jetzt ist alles zu spät. Sie versucht, ihm zu entfliehen. Sie entzieht sich seinem Griff, einmal, zweimal, dreimal, sie läuft hin und her, er ihr nach, bis es passiert: Sie sehen sich an – und die Welt steht still. Und wird sich, zumindest für diese beiden Liebenden, auch niemals wieder in Bewegung setzen. Alles, was sie erhoffen konnten oder im Leben erreichen wollten, ist nichts gegen das, was sie jetzt empfinden: ein nahezu monströses Gefühl, so groß und stark, dass es sogar für diese beiden Mustermenschen, für den hervorragenden Ritter Tristan und die geliebte Königin Isolde, zu viel sein wird.
Das also bleibt hier vom gräulichen Schlachtgetümmel immerhin übrig: Es ist die aberwitzigste Utopie einer sexuellen Liebe, die man sich nur denken kann, sie ist durchdringend und sie wird alles verändern. Letztlich wird sie hier immer siegen, über das Leben der Menschen hinaus. Sie ist durch nichts zu zerstören. Tristan und Isolde – als erste und letzte Menschen, die da Größte an Gefühl ausbaden müssen, als sei es eine Schande. Und die dabei dennoch auch die größte Lust empfinden, die hier zugleich auch die edelste aller Empfindungen ist: Liebe.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Choreografie: Dawsons Pas de deux sind – mit tollen Hebungen und Gleitfiguren – geprägt vom widerstrebenden Hin und Her, das sich jedes Mal gekonnt langsam verdichtet. Während die Ensembleszenen Einheit und Kollektivsinn aufweisen. Der Halt innerhalb einer Gruppe ist ja auch für die meisten Menschen existenziell. Und nur die Liebe, so lehrt uns Dawson, kann uns aus diesem Geflecht der Sicherheit heraus locken – der Preis dafür ist indes hoch.
Zarte Nebel steigen auf. Die Mauern bestehen aus dunklen, hohen, Versatzstücken, die mal eine abstrahierte Skyline aus Hochhäusern in den Kulissen bilden, mal zu einem Festungsturm in der Bühnenmitte zusammen geschoben sind. Der Horizont ist grau verlaufend: im ersten Akt von unten nach oben sich erhellend, im zweiten Akt düsterer, bis auf einen quer laufenden Silberstreif. Mut, Zuversicht, Hoffnung? Fehlanzeige. In dieser Welt regiert die brachiale Tatkraft.
So hatte Marke seinen Ziehsohn Tristan mit seinem Heer losgeschickt, um Isoldes Volk zu besiegen. Ihr Land wurde vereinnahmt, und die Königin selbst sollte als künftige Gattin Markes in ein neues Heim übersiedeln. Isolde ist hier ja kein junges Mädchen, sondern eine Regentin von Rang, die ein harmonisch gestimmtes, fast matriarchales kleines Völkchen anführte. In ihrem Land herrschte Frühling, schon der Choreografie nach: munter und unbeschwert, dabei ausgelassen und fröhlich tanzten zuerst nur die Frauen in bonbonbunten Kleidern, dann kamen ihre Partner in weißen Hosen dazu. Welch eine erstrebenswerte kleine Welt, voller zart verbandelter Gemüter!
Was für eine Gegenwelt zu Markes finsterer, expansionsverrückter Domäne! Helle, leichte, flirrende Melodiebögen stifteten in Isoldes Reich zu äußerster Lebensfreude an, ohne Hysterie oder Exaltismen. Der Tanz in Isoldes Land surrte nur so vor Lust und Heiterkeit, wirkte aber niemals zeremoniell oder ritualisiert. Die Jungs, die in Dawsons Choreo viel heben und zu springen hatten, durften auch mal ganz lässig nur dastehen und Luft holen, während sie den anderen beim Frohlocken zusahen.
Und ihre Königin? Courtney Richardson, geboren in Detroit und ausgebildet in Kanada, ist alles andere als eine typische, grazile, superzierliche Ballerina. Sie ist eine sinnliche Person, eine Fanny Elßler, keine Marie Taglioni. Voller Grazie und gelegentlicher Strenge: Ihre Isolde hat etwas von einer modernen Amazone, trägt denn auch einen seitlich geflochtenen Zopf und ein schön weibliches Dekolletée am mintgrünen Kleid. Ihre Bewegungen sind selbstbewusst und geradlinig, stark und beschützend. Es passt, dass sie über magische Heilkünste verfügt und sozusagen eine schamanistische Ärztin ist.
Aber Marke. Er ist keiner, der lange zaudert. Seine Soldaten dringen ein in Isoldes Idyll. Sie tauchen einfach auf, mischen sich mit aggressiver Haltung unter die glücklich Tanzenden, greifen sich Einzelne, schubsen sie, verwickeln sie in Kämpfe. Machen sie brutal fertig. Marolt (Laurent Guilbaud) versucht tapfer, gleich zwei Mann auf einmal abzuwehren – umsonst. Tristan schlägt zu, mit seinem stockartigen Schwert, Marolt fällt, der nächste Gegner im Getümmel wartet schon.
Ballett ist nicht wie Film, sondern braucht eine stilisierte Ausdrucksweise. Dawson hat eine Körpersprache entwickelt, die sogar solche schwierig zu tanzenden Szenen wie diese feindliche Landübernahme in fantasievolle nonverbale Worte fasst: verständlich und ästhetisch – so grausam, wie nötig, aber nicht voyeuristisch oder gewaltverherrlichend. Da ist nichts peinlich oder gar konstruiert – trotz hoher technischer Schwierigkeitsgrade wirkt die Körperkunst hier organisch und eingängig, fast „natürlich“, was Ballett eigentlich fast nie sein kann.
Brzóskas Musik untermalt das. Der junge Pole ist ein Extra-Fall in der Szene der internationalen Klassik, seine Werke pendeln zwischen filmisch-klanglichen Rauschexzessen und geometrisch-exakt konstruierten Sentenzen. Ziemlich genial! Es entstand eine Welt-Musik, was das Niveau und ihre Intensität betrifft, zweifelsohne: mit ganz leichten Anklängen an Wagner und so manche Ballettmusik, die dem Komponisten unbewusst, auf jeden Fall aber passend unterliefen. Und in die man selbst hinein interpretieren darf, weil diese komplexe Musik dadurch einen weiteren Schlüssel erhält.
Da sind im zweiten Akt Glocken, wie im zweiten Akt von „Giselle“ (Musik: Adolphe Adam). Aber auch Anklänge an Maurice Ravel und Michael Nyman ertönen. Von konkreten Zitaten ist Brzóskas Musik aber weit entfernt: eigenständig und in sich geschlossen – wie auch die entsprechende Choreografie – bildet sie ein mitunter fast sakral anmutendes, auch sinfonisch funktionables Werk. Diese Musik wünscht man sich glatt auch als Soundtrack im Konzertsaal oder als CD – auch unabhängig von dem wundervollen Tanz dazu.
So finden sich die Trompeten manchmal im heftigen Widerstreit mit den Flöten wieder. Bei den Macht- und Soldatenszenen sind die Fanfaren unüberhörbar Anzeichen der drohenden rohen Gewalt. Die schrillen Flöten quetschen ihre ganze Angst dazu hervor. Später, im zweiten Akt, illustrieren die Trompeten die mächtige Utopie der freien Liebe – und die Flötentöne wehren sich nur wenig dagegen.
Programmmusik ist es dennoch nicht: zu vielschichtig und verwoben, auch zu wechselhaft-bedeutsam sind die einzelnen Musikparzellen der Partitur. Paul Connelly dirigiert die Sächsiche Staatskapelle Dresden mit detailgenauem Blick auf die Tänzer und die Takteinheiten – so wird der Synchronizität im Ballett auf angenehme Weise Vorschub geleistet.
Die alte Weisheit „Musik ist die Mathematik der Gefühle“ erhält denn auch in diesem „Tristan“ eine ganz neue Bedeutung: so einschmeichelnd und dennoch fordernd ist Musik selten. Die moderne oder auch postmoderne Struktur, die Brzóska ohne Verlusten an Hörgeschmeidigkeit für sich zu nutzen weiß, ist nun mal etwas, das uns Menschen im 21. Jahrhundert näher liegt als die pure Romantik.
Das Thema ist aber auch ein Forderndes. Es handelt sich um eine alles andere verschlingende, absorbierende, überhaupt nicht erklärbare Liebe. Eine Amour fou, wie man sie seinem besten Feind nicht an den Hals wünscht. Etwas, das schief gehen muss, etwas, das einen leichterdings direkt ins Verderben führt. So etwas Brandgefährliches – ist das eigentlich noch Liebe?
Für David Dawson liegt die ver-rückte Qualität dieser Liebe weniger in den gesellschaftlichen Verhältnissen begründet, als vielmehr in ihren spezifischen Charakteren. Zu seinem Tristan machte Dawson sich viele Gedanken: „Tristan hat zwei Seiten. Zum Einen eine helle, freundliche, liebesbereite. Andererseits ist er auch ein tragischer Charakter, dunkel und selbstzerstörerisch.“ Noch stärker gesagt, mit Dawsons Worten: „Tristan verkörpert zwei Welten. Die eine ist poetisch, kooperativ, liebevoll, sogar feminin. Naturnah, bunt, voller Lebensfreude! Auch sensibel. Aber die andere Welt, für die Tristan auch steht, ist voller Regeln. Sie ist maskulin und hart, streng, militärisch.“
Tristan als Zerrissener. Dawson sagt, er mische hier zudem auch Züge von Lanzelot aus der Sage um König Arthur hinein: Lanzelot ist der von Feen von einem See aufgezogene Frauenliebling, der in eine ähnliche Amour fou mit Arthurs Gattin Ginevra verfällt wie Tristan mit Isolde. Züge von Lanzelot passen durchaus zu Tristan, der allerdings im Original noch vielseitiger ist als Lanzelot.
Dawson ergänzt: „Solche Geschichten passieren allerdings ständig, zu allen Zeiten – immerzu verlieben sich Leute, die sich nicht verlieben sollten. Und sie wissen sich jedes Mal nicht zu helfen.“ Da hat er ja so Recht!
Und heimlich sehnt sich jede und jeder nach so einer Erfahrung, die außerhalb des geordneten Lebens steht. Gerade deshalb erscheint so eine radikal überdrehte Beziehung wie die von Tristan und Isolde so interessant. Nur du und ich und ich und du – und immerzu nur dieses Eine! So eine Entgrenzung qua Verliebtheit: pro Kuss ein Schuss, pro Anfassen: zwei weitere Orgasmen, da könnten Kettenreaktionen mit Glückshormonen implodieren! Das eigene Ich wird zum vergesellschafteten Wir, löst sich Zweisamkeit auf, man vergeht – im anderen. Zwei Menschen – aber nur ein Gedanke, ein Wille, ein Gefühl, ein Sextotalitarismus. Puh.
In gewisser Weise setzt diese Totalität – zumal, wenn sie auch schmerzlich empfunden wird, eine Reife, ein bestimmtes Alter mit Lebenserfahrung voraus. Romeo und Julia können zwar die ganze Welt vergessen. Aber so eine emotionale Existenzvernichtung liegt der Jugend doch eher fern.
Romeo wird denn auch nicht aus Liebe zum Gejagten, sondern aus Fahrlässigkeit im Kampf. Und er stirbt nicht an seiner eigenen Verfasstheit, sondern am Missverständnis, auch an der Trägheit eines Boten. Sonst wüsste er, dass Julia in der Totengruft nur schläft. Aber er hält sie für tot und bringt sich deshalb um – was, aus Liebe, auch ihr den Tod bringt. Denn ohne einander zu leben, wenn man so liebt – das gestatten die Kunst, die Literatur, die Dramatik nicht. Weder im „Romeo“ noch im „Tristan“.
Gewissen und Liebestrank
Als Legitimation für die schon fast grotesk starke, zudem verbotene Liebe zwischen Tristan und Isolde hatten die mittelalterlichen Zuhörer den Liebestrank. Ich sage „Zuhörer“, nicht „Leser“ oder „Zuschauer“, weil die Versepen damals in einer Art Sing-Sang fortlaufend vorgetragen wurden. Sie waren so etwas wie Soap operas. Der Liebestrank in „Tristan und Isolde“ machte ein entscheidendes Zugeständnis an die herrschende Moral der katholischen Kirche.
Die Vorstellung der Menschen gründete darauf, dass sich im Jenseits eine Welt befände, die dem Diesseits entspreche, in der aber Sühne und jüngstes Gericht die obersten Zielmarken seien. Himmel und Hölle, Vorhöllen und Sündenerlass – die Angst der Menschen, für Vergehen zur Rechenschaft gezogen zu werden, war immens.
Eine Liebe, die erst vorehelich und dann als Ehebruch statt findet – und so wird die von Tristan und Isolde in allen mittelalterlichen Quellen beschrieben – wäre als Sujet von Dichtung im Mittelalter nicht als ehrbar möglich gewesen, wenn man nicht die Liebenden mit dem Zauber des Liebestranks hätte ethisch entlasten können. Für den mittelalterlichen Menschen ergab sich der Sinn so, dass Tristan und Isolde nicht wirklich schuldig sind, weil sie verzaubert wurden, durch den Liebestrank, den sie versehentlich trinken, weil sie meinen, es sei gewöhnlicher Wein. Brangäne sollte diesen Wein, der von Isoldes Mutter stammt, Marke und Isolde verabreichen. Die Liebenden Tristan und Isolde wurden im Mittelalter also als Opfer einer Magie dargestellt, die für eine Verwechslung steht, und die ihre Gefühle zueinander gleichermaßen entschuldet.
Dawson erlaubt diese entlastende Funktion nicht. Er lässt Tristan und Isolde das Liebesgift zwar in einer Art „Niemandsland“ einnehmen, wie er die Überfahrt in Markes Reich bezeichnet. Die Liebenden sind dort außerhalb ihrer Verantwortungsbereiche – darum trauen sie sich erst recht. Aber: Sie waren schon vorher „in love“ miteinander. Der Liebestrank ist da keine Ausrede. Für David Dawson handelt es sich fraglos um Liebe auf den ersten Blick, um etwas, das beide Partner gleichermaßen erwischt hat – und das durch den Zaubertrank nur noch verstärkt und gefestigt, keinesfalls aber begründet wird. Interessanterweise ändert Dawson aber die Vorbedingungen des Tranks zu Gunsten eines sehr modernden Verständnisses, das sich schon im „Tristan“-Libretto der Oper von Richard Wagner findet: Er lässt Tristan und Isolde das Liebesgift in dem irrigen Glauben nehmen, es sei ein Todestrank.
Denn die zwei haben sehr schnell verstanden, dass sie ihre Gefühle füreinander niemals werden zähmen können. Also wollen sie, kaum, dass sie sich kennen gelernt haben, gemeinsam in den Tod gehen, um Ehrlosigkeit und fortgesetzten moralischen Verbrechen zu entkommen.
Hier spielt gewissermaßen ein neuzeitliches Verständnis von Verantwortung eine Rolle. Isolde darf nicht fremdgehen, weil sie nicht nur für sich selbst einsteht, sondern durch gutes Benehmen auch dafür sorgen muss, dass ihr erobertes Volk von den Siegern gut behandelt wird.
Tristan hingegen hat eine psychologische Schuld zu wälzen: Er hat eine enge und respektvolle Vater-Sohn-Beziehung zu Marke (Dawson lehnt jede homoerotische Neigung der beiden zueinander ab). Den König mit dessen Braut oder Frau zu betrügen, ist für ihn undenkbar schlimm und grausig. Dennoch kann Tristan nicht anders, als es zu wollen: Sein Konflikt ist unauflösbar. Und die Liebe steht als Macht noch über den Liebenden. Dawson: „Das ist eine grenzenlose Liebe, die hinaus geht in die Welt, hinaus ins Universum. Diese Energie lässt sich nicht zurückhalten.“
Im Mittelalter galt für Tristan der Spruch: „Isolde, meine Liebe, Isolde, meine Not! Du bist für mich das Leben, du bist für mich der Tod.“
Diese enge Verknüpfung von Tod und Liebe, die im übrigen fraglos für beide Liebende gilt, ist hier grundlegend. Dawson radikalisiert dies noch. Auch ihm geht es zwar nicht um Psychologisierungen, sondern um den Sterben allein aus Gründen der Liebe und der daraus resultierenden Schuld. Aber: Das Liebeslabyrinth der beiden aneinander verlorenen Seelen ist von Anfang an eine solche Zwickmühle, daran ändert auch Markes Großmut, der sich gen Ende erweist, gar nichts.
Die Idee, aus gemeinsam sterben zu wollen, ist nicht neu. Aber: Sie ist eine Idee der jüngeren Neuzeit. Liebespaare wie Romeo und Julia und Tristan und Isolde im Mittelalter sterben an den Hindernissen, die ihrer Liebe entgegen stehen. Paare wie Kronprinz Rudolf von Österreich und Mary Vetsera hingegen sterben – wenn auch von chronischem Drogenmissbrauch in ihrem Urteilsvermögen beeinträchtigt – aus scheinbar freien Stücken. Rudolf wollte aus dem Leben scheiden und suchte dafür eine Gefährtin, eine letzte Wegbegleitung. Die Liebe war hier nicht vorrangig.
Bei Gottfried von Straßburg hingegen zieht sich das Liebesmotiv durch die gesamten Lebensläufe von Tristan und Isolde. Sie werden miteinander alt und finden immer wieder Mittel und Wege, um einander sexuell beglücken zu können. Allerlei Episoden, Versteckspielchen, Verkleidungen und drohende Lebensgefahr machen den Thrill des Versepos aus. Es erstreckt sich auf mehrere Bände und versüßte im 13. Jahrhundert den Zuhörern zahlreiche lange Tage und Abende.
Dawson hingegen stand vor der Aufgabe, innerhalb einer relativ kurzen Zeitdauer von etwa zwei Stunden das Ballett zu gestalten, die Handlung komplett zu erzählen.
Dazu nutzte er einen Kunstgriff, den schon Aristoteles für die Bühne propagierte: die Einheit der Zeit.
Tristan und Isolde treffen sich, er muss sie aber Marke überlassen, darum übersiedelt er mit ihr mit dem Schiff, kommt in Markes Hofstaat an, wo Isolde Marke sofort heiraten muss. Und noch in der Hochzeitsnacht sterben die beiden Liebenden. Lückenlos spult sich diese Handlung ab.
Das gibt es so nicht mal bei Richard Wagner – die Liebe und „Notgeilheit“ der beiden ist so groß, dass sie keinen Tag und keine Nacht ohne sexuelle Handlungen miteinander aushalten. Nicht mal die fatale Hochzeitsfeier.
David Dawson radikalisiert so die ursprüngliche Story nochmals. Das ist in der Tat eine andere Sache als im Mittelalter: Dort konnten die beiden Liebhaber ihre lustvollen „Schandtaten“ oft lange Zeit im Voraus planen. Das hatte den Vorzug, dass ihre Ehebrüche funktionierten. Bei Dawson hingegen werden sie immer, wenn sie sich aufeinander einlassen wollen, unterbrochen und gestört. Sexfrust statt Sexlust – kein Wunder, dass sie früher sterben wollen als die anderen Tristan-und-Isolde-Varianten.
In den mittelalterlichen Quellen haben Tristan und Isolde also noch viel Spaß miteinander. Sogar zu viel: Sie haben das Glück der unmäßig großen Liebe, die auch im Fall von Erec und Enite aus dem legendenmäßigen Artus-Umkreis bekannt ist. Zu große sexuelle Leidenschaft macht in der mittelalterlichen Auffassung unfruchtbar. Ob hiermit etwa orale und anale Befriedigungswege oder noch andere erotische Perversionen gemeint waren, sei dahin gestellt. Fakt ist: Die Dichter des Mittelalters haben es häufig betont, dass die allzu große Lust von Mann und Frau zu einer kinderlosen Verbindung führe.
Außerdem, so im Fall von Erec, wurde darauf hingewiesen, dass ein zu sehr Liebender zu nützlichen Verrichtungen wie dem Ritterdienst am König und an der Gemeinschaft zugunsten des ausschweifenden Liebeslebens die Kraft fehlen würde. Die unmäßige Liebe wurde darum abgelehnt und verdammt, sogar dann, wenn sie, wie bei Erec und Enite, ehelich war.
Manche Zeilen von Gottfried (man nennt mittelalterliche Dichter auch in der Literaturwissenschaft oftmals nur bei ihrem Vornamen) passen dennoch oder gerade deshalb auch zu David Dawsons Version:
„Er küsste sie und sie ihn / liebevoll und zärtlich. / Das war zur Linderung ihrer Liebesqualen / ein beglückender Anfang.“ Das wurde etwa 1205 geschrieben und passt heute noch immer vorzüglich, um die Süße der ersten Küsse in einer neuen Liebesverbindung zu schildern.
Die Küsse, auch die der Hände, spielen in Dawsons Choreo eine große Rolle. Und wenn man sieht, wie zart die Liebe hier stets beginnt und wie rasch sie sich zu einem drängenden Gefühl entwickelt, kann man in solchen Vorgängen problemlos die eigene Liebesfähigkeit wieder erkennen.
Aber auch manche Gleichnisse aus dem Mittelalter kommen uns nicht weit hergeholt vor. So wird die Liebe im „Tristan“ von Gottfried von Straßburg als Krankheit und als Medizin zugleich beschrieben. Auch ist von der „Ärztin Liebe“ und vom „Patienten Tristan“ die Rede – sowie von der „Kranken Isolde“. Nur einander seien sie wie Medizin, preist Gottfried sie in fein gedrechselten mittelhochdeutschen Versen an – ob er selbst jemals annähernd Ähnliches erlebte, verschweigt er allerdings.
Man sollte zum näheren Verständnis wissen, dass mittelalterliche Literatur immer Auftragsarbeit war. Ein Dichten aus autonomem Selbstäußerungswunsch heraus war äußerst selten. Die Kunst diente bestimmten Herrschern, die sie auch bezahlten, als Propaganda und auch zur Unterhaltung, sowohl ihrer selbst als auch ihrer adligen Cliquen. Volkstümlich war die mittelalterliche Hochkultur mitnichten. Auch die Minnelieder, die uns heute so allgemein verständlich vorkommen, waren für geladenes Publikum gedacht – und keinesfalls für jene, die auf dem Dorfplatz Waren verhökerten und nebenbei Schaulustige waren.
Allerdings zogen die mittelalterlichen Sänger mit den Versen von Region zu Region, und sie wurden für ihre Darbietungen von den jeweiligen Gastgebern oftmals mit mehr als nur mit Kost und Logis entlohnt. Dabei war Vorsicht angesagt: Es gab Anspielungen feindlicher oder beleidigender Art gegen bestimmte Personen oder Adelsgeschlechter. Es empfahl sich dann nicht unbedingt, das auch den Betroffenen vorzutragen.
Im Falle des Balletts ist nun nicht zu fürchten, dass sich irgend jemand politisch auf die Füße getreten fühlt. Dawson legt großen Wert auf Abstraktion und Überzeitlichung. Das Mittelalter, das wir hier sehen, könnte zugleich Gegenwart oder auch eine Sci-Fi-Zukunft sein – insbesondere die Kostüme, aber auch das Bühnenbild geben dazu Anlass.
Das Bühnenbild von Eno Henze, der 1978 in Frankfurt / Main geboren wurde und in Berlin lebt, kommt aus dem konzeptionellen Kunstbereich. Sechs hohe Blöcke bilden mal eine stilisierte Skyline, mal Hochhäuser, mal Wände, mal einen Festungsturm. Ein herab stürzendes „V“ macht im ersten Akt das Bühnenbild selbst zu einem großen symbolischen Ereignis; es steht für das Segel des Schiffs, mit dem Tristan und Isolde fahren, es steht auch für einen Liebespfeil Amors, der die zwei Liebenden trifft, und es steht später, am Hof Markes, für den Sieg, als Victory-Zeichen.
Der Hintergrund, grau und verblassend, und zwar im ersten Akt in anderer vertikaler Reihenfolge als im zweiten, verrät: Hier gibt es kein Himmelsblau mehr, keinerlei „himmlische“ Hoffnung. Es gibt weder Gott noch Vaterland, es gibt nur noch Nutzen – eine erschreckend modernistische Welt.
Umso fröhlicher wirken dagegen die Mädchen, die Isolde folgen: Eine bunte Schar wandelnder Anachronismen. Liebenswert! Und so entzückend tanzend! Das Ensemble ist ohnehin oftmals Protagonist und Stimmungsträger – und erst vor der Folie dieser Menschlichkeit wird auch die Verliebtheit von Tristan und Isolde verständlich. Denn nur kalt und böse ist ihre Welt halt eben nicht. Dann wären sie, womöglich, auch selbst nur noch herzlose Monster, die triebgesteuert und ohne moralische Einsicht vor sich hin vegetieren wollten.
Das Gegenteil ist bei Dawson der Fall: Tristan und Isolde sind moralische Persönlichkeiten, im Grunde sogar noch integrer als etwa bei Gottfried. Aber sie trifft noch ein Fluch, der den Liebenden im Mittelalter erspart blieb: Sie können ihre erotische Liebe nicht ein einziges Mal befriedigend vollenden. Jedes Mal, wenn sie nach einigem Zögern endlich zum Koitus ansetzen, werden sie dabei unterbrochen, und es mag diese aufgestaute Frustration, diese Traumatisierung sein, die Tristan in den voreiligen Tod treibt. Denn während des Stelldicheins im Wald am Ende von Isoldes Hochzeit mit Marke sollte die Liebeslust endlich Erfüllung finden – und wieder wird das heimliche Paar aufgestöbert, Tristan sogar durch Markes Vasall Melot schwer verletzt.
Er will dann sterben. Isolde kämpft um ihn und auch um ein – ehrloses – Liebesglück, und sie schafft es bei Dawson, Markes Verzeihung zu erbetteln, indem sie ihm ihre Situation erklärt. Ein fantastisches Solo ist das, von Courtney Richardson eindringlich getanzt, ein einziges Flehen und Argumentieren. Im Zusammenhang mit Marke ist das ein erfolgreich Verständnis heischender Pas de deux – übrigens ein Gegenstück zum Pas de deux von Neumeiers „Kameliendame“ mit dem Vater ihres Geliebten Armand. Bei Dawson gewinnt die Frau den Disput, Marke erkennt ihre Herzensnot und ihre Unschuld an ihrem Schicksal, vielleicht auch, um nicht allzu bedeppert und betrogen dazustehen, und er spricht Isolde und Tristan frei. Er weist Isolde den Weg zum Geliebten, wütend zwar, aber generös.
So könnte doch noch alles ein moderates Glück am Ende finden? Doch Tristan, der von Melot tödlich verwundete Held, er kann und er will nicht mehr. Er hat genug von der Zwanghaftigkeit seines eigenen Gefühls! Tristan will nur noch seine Ruhe. Er fühlt sich wie ein triebmanipuliertes Tier, hat seinen Anstand verloren, seine Ehre. Alles, wofür er lebte. Den zahllosen Demütigungen, die Tristan bei Gottfried von Straßburg noch auf sich nimmt, um Isolde zu sehen und körperlich zu lieben, geht Dawsons Tristan mit seiner Entscheidung für den Tod aus dem Weg.
Isolde versucht zwar, ihn gegen seinen Willen zu retten, sie wendet wieder ihre Zauberkünste an – aber ohne des Patienten Überlebenswille geht da gar nichts. Die moderne Medizin würde Dawson hier in einem gewissen Sinn Recht geben: Immer wieder wird berichtet, dass der Wille des Patienten Berge versetzen könne bzw. in Einzelfällen Spontanheilungen oder Negativeffekte von Medikamenten „unerklärlicherweise“ auftreten würden.
Tristan stirbt nach einem langen, wunderschön elegischen Pas de deux, der von Isoldes Seite aus voll Hoffnung ist, von Tristans Seite aus jedoch voll Wissen um das Unvermeidliche. Dieser große, über zehn Minuten lange Paartanz ist das Gegenstück zum ersten großen Pas de deux der beiden Liebenden: Im ersten Akt ist es Isolde, die um das Unheil dieser Liebe weiß, während Tristan da noch ungetrübte Verliebtheit entwickelt, da er noch nicht weiß, dass es Isolde ist, mit der er tanzt.
Die Liebeskonzeption ist dennoch immer dieselbe, ob im Mittelalter oder bei Richard Wagner oder bei David Dawson: Es geht um zweckfreie Liebe, um Liebe, die den Liebenden keinerlei Vorteile bringt, außer des Gefühls an sich. Schon Gottfried legte darauf größten Wert. In einem Exkurs dichtete er, auf alle bis auf Tristan und Isolde bezogen:
„Wir falschen Liebenden, / wir Betrüger der Liebe, / wie verrinnen unsere Tage, / dass wir unser Leid / so selten zu einem erfreulichen Ende bringen!“
Damit bekennt sich Gottfried – mit ihm sein Auftraggeber und seine Hörerschaft – ganz klar zu der ungewöhnlichen zweckfreien Liebe, die mit Eheschließungen aus politischen, sozialen oder finanziellen Gründen gar nichts zu tun hat! Sehr modern, sollte man meinen. Vor allem aber zeigt das, dass Menschen schon immer ihre Sexualität als einen Freiheitsdrang begriffen haben; man erlebt den Sinnesrausch als Befreiungsakt und als über der herrschenden Moral stehend, wiewohl er doch vor allem die Möglichkeit zu höchster erotischer Lustempfindung ist. Und, wie nebenbei mit Sigmund Freud gesagt, auch Antrieb zu durchaus sublimen Taten und Gefühlen verleiht.
Bei Gottfried von Straßburg sterben die Liebenden denn auch keineswegs aus irgendwie selbst entschiedenen Gründen. Vielmehr ist es die Eifersucht einer dritten Person, die sie ins Grab bringt. Tristan nämlich fühlt sich über die Jahre, in denen er Isolde nur sporadisch sehen und körperlich lieben kann, einsam. Er heiratet eine Dame, die immerhin denselben Namen wie Isolde trägt – und die als „Isolde Weißhand“ bezeichnet wird, weil das Schönste an ihr ihre zarten, weißen Hände sind.
Als Tristan in einem Schlachtgetümmel mal wieder tödlich verletzt wird, braucht er die magische Heilkunst von Isolde, die diese von ihrer Mutter lernte. Er schickt seinen ehemaligen Lehrer und Diener Kurvenal aus, sie zu holen. Als Zeichen wird verabredet, dass ein weißes Segel des ankommenden Schiffs bedeuten soll, dass Isolde an Bord ist. Ein schwarzes Segel hingegen soll ankünden, dass Isolde nicht mit auf die Reise zu Tristan ging. Als das Schiff sich der Küste nähert, lügt Isolde Weißhand. Sie behauptet Tristan gegenüber, das Segel sei kohlrabenschwarz. Das läutet den Sterbeprozess bei dem waidwunden Ritter ein. Er verstirbt in Isoldes Armen, die darüber ebenfalls das irdische Leben verlässt.
Marke ist übrigens im Mittelalter längst nicht so großzügig gezeichnet wie später bei Wagner oder jetzt bei Dawson, wo er am Ende der Verbindung von Tristan und Isolde zustimmen will. Bei Gottfried hat er lediglich die Chuzpe, die Liebenden nebeneinander begraben zu lassen und auf Tristans Grab eine Rose, auf Isoldes Grab einen Rebstock zu pflanzen. Diese beiden Pflanzen verschlingen sich und wachsen auf wie eine – als Symbol der todesstarken Liebe.
Zuvor aber wird in vielen Versen der Kraft der lebendigen, wahren und unverstellten Liebe gedacht. Gottfried fand verherrlichende Worte für die freie Liebe zwischen Menschen, die sich um Ehestand und Klassenunterschiede nicht bekümmern sollte. Und er empört sich über jede Form der Prostitution, auch über die legalisierte in Form der Geldheirat:
„Die Liebe, Königin aller Herzen, / die freie und einzigartige, / ist käuflich zu haben. / Wie haben wir sie gezwungen, / uns tributpflichtig zu sein. / Wie haben eine schlechte Nachahmung / als Stein in den Fingerring eingesetzt / und betrügen uns selbst damit.“
Mit dem Fingerring ist zweifelsohne der Verlobungs- und Ehering gemeint, den es als Vorläufer heutiger Eheringe vereinzelt schon gab. Die Hoffnung und die Lust sollten umso süßer sein, so Gottfried, desto weniger die Liebe von anderen Interessen beeinflusst sei. Für Tristan und Isolde fand er auch folgende Beschreibung:
„Ein Kuss von den Lippen / des geliebten Menschen, / der aus dem Grunde des Herzens / kam, / oh, wie kann der auslöschen / Sehnsucht und Herzensqual!“
Dieses Loblied der oralen Zuwendung, des Küssens und weiterer konnotierter Liebkosungen, muss man sich gesungen vorstellen, daher auch die unregelmäßigen Unterbrechungen durch Zeilenumbrüche. Begleitet wurden die mittelalterlichen Sänger von lautenähnlichen Instrumenten – und weil die Sprache damals noch Diphtonge hatte und man zum Beispiel „muot“ statt „Mut“ sagte, waren die Verse speziell für die lautmalerische Wiedergabe als Vokalmusik geschmiedet.
Insofern tut man auch Gottfried einen großen Gefallen, wenn man sich das neue Ballettepos „Tristan + Isolde“ von Dawson und Brzóska ansieht und anhört!
Denn auch von der „Gebärdensprache der Liebe“ weiß Gottfried zu berichten, sie verriet Marke die heimlichen Gefühle der beiden immer wieder:
„Es gab da zuviel Feuchtigkeit / an verliebten Gebärden, / denen man das Zeugnis / der Liebe stets anmerkte. / Der hatte ganz recht der da sagte: / Wie man sie auch behütet, / sie streben doch zueinander, / das Auge zum Herzen, / der Finger zum Kummer.“
Und weiter berichtet Gottfried über den nun auch nicht gerade beneidenswerten Marke:
„Er beobachtete sie stets. / Oft sah er verstohlen / die Wahrheit in ihren Augen / und an nichts anderem / als an ihrem Gesichtsausdruck.“
Es ist überwältigend, wie sehr das Ballett von Dawson diese Dinge ebenfalls ausdrückt. So ist das Hochzeitsfest für den vorn stehenden Tristan die Hölle; Isolde meistert durch tapferes Überspielen ihrer Befindlichkeit die Situation. Mögen die anderen tanzen und springen und in eleganten Kostümen feiern – für unsere Liebenden ist nicht auszuhalten, einander auf diese Art zu verlieren. Man kann den modernen, aus Liebeseinsicht heraus später fest zum Tod entschlossenen Tristan angesichts dieser Szenen vorab schon verstehen…
Hilfreich für das Verständnis des Personals sind auch die Kostüme von Yumiko Takeshima. So dürfen die Männer Markes mit weit schwingenden, ausgestellten Mänteln über schmalen Hosen hübsch-erotisch und markant-gedrillt zugleich anmuten. Marke brilliert dazu in Nachtblau, Tristan in edlem Gris, während die Soldaten zuerst Sci-Fi-Uniformen und im zweiten Akt, auf der Hochzeitsfeier, Schwarz mit lila aufblitzendem Seidenfutter tragen. Das weibliche Gefolge Isoldes trägt zunächst bunte Kleider, die ihre zarten Silhouetten betonen. Und im zweiten Akt lieblich fließende Gewänder, in Hellblau (das Himmelsblau gewissermaßen ersetzend!) oder in Gold.
Sechs Brautjungern in Gold, die einen technisch anspruchsvollen und atemberaubend frohgemuten Pas de six tanzen, erinnern sogar an John Crankos sechs Brautjungern, die in „Romeo und Julia“ mit Lilien in den Händen für die junge Julia auftanzen. Eine nette Referenz!
Isoldes Vertraute Brangäne wirkt im ersten Akt in einem klarblauen Dress, das ihre Treue und Zuverlässigkeit suggeriert. Sie hält zum Liebespaar, egal, was geschieht – und sie ist in beiden Versionen, bei Gottfried wie bei Dawson, insofern die eigentlich Schuldige, als sie den Liebestrank besser hätte hüten sollen.
Und die große Schöne des Abends? Isolde trägt im zweiten Akt ein knallweißes Hochzeitskleid und dann ein dunkelrotes Negligée, sie strahlt Erotik und dennoch Unerreichbarkeit aus.
Nachdem ihr Tristan nach dem letzten Pas de deux zusammenbrach, an seiner Schwertwunde nahe der linken Niere verblutend, versucht Isolde noch ein letztes Mal ihren Zauber. Sie wirbelt, bei ihm sitzend, mit ihren Händen weit über ihrem Kopf, die Arme so weich und geschmeidig, als sei sie eine spirituell inspirierte Halbgöttin. Umsonst. Sein Leib wird leblos, und während sie ihn halb umarmt, reckt sich Isoldens rechter Arm noch einmal weit in die Höhe, sie hofft auf ein Wiedersehen, in welcher Welt auch immer – und sie stirbt, langsam, wie ein Licht, das ohne Sauerstoffzufuhr verlöscht. Wunderschön ergreifend.
Die Musik, die immer wieder mit einzelnen Glockenschlägen an „Giselle“ von Adolphe Adam erinnert, stiftet hier neben romantischer Sehnsucht und moderner Erkenntnis auch die Distanz des Publikums zu Tristans Entscheidung.
Es ist schon eine besondere Leistungs dieses Balletts, anders als etwa Goethes „Werther“, den Suizid und Liebestod zwar vorzustellen, aber nicht affirmativ zu begeifern. Tatsächlich erfolgte bei mir die Einsicht, dass Tristan hätte weiter um Lieb und Leben kämpfen sollen. Die unbezahlbare Ahnung von unbedingter Liebe, die dieses Ballett stiftet, macht nämlich genügend Appetit. Ein heißes Meisterwerk!
Gisela Sonnenburg
Termine in der Semperoper in Dresden: siehe „Spielplan“
Das Schluss-Pas-de-deux gibt es hier anzusehen:
Mehr zu der Musik von Szymon Brzóska und der Tanztradition von David Dawson:
www.ballett-journal.de/liebe-total-die-feine-synergie-von-musik-und-ballett/
UND SEHEN SIE BITTE INS IMPRESSUM: www.ballett-journal.de/impresssum/