Die dunkle Seite einer Königin Birgit Keil gilt als glanzvolle Ikone der John-Cranko-Ära, ihr Gatte Vladimir Klos verherrlicht sie in seinen Memoiren. Joseph Willems, ehemals Mitarbeiter von Keil und Klos, sieht sie in einem anderen Licht

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Jubel, Trubel, Heiterkeit – und etwas Melancholie: Birgit Keil im Arm von Vladimir Klos bei ihrem Abschied vom Badischen Staatsballett in Karlsruhe am 20.07.2019. Foto: Uli Deck (aus dem Klos-Band „Ups and Downs“)

Wenn man sich Birgit Keil vorstellt, dann sieht man die Eleganz in Person. Stöckelschuhe, Stiftrock, enge Corsage, dazu ein makelloses Make-up unter spitz zulaufendem Haaransatz und darüber eine wie in Bronze gegossene Steckfrisur. So mochten ihre Freunde sie, so liebten sie ihre Fans. Das Flair der besseren Gesellschaft umweht sie stets wie ein Schleier, der alles Übel von ihr fernhalten soll. Aber ist das die reale Birgit Keil? Ist sie wirklich nobel bis ins Mark oder täuscht ihre Fassade etwas vor? Die Meinungen über sie gehen diametral auseinander. Da ist ihr Ehemann Vladimir Klos, der anscheinend gar nicht genug von ihr bekommen kann. Aber da ist auch ihr langjähriger Mitarbeiter Joseph Willems, der nicht mehr gut auf sie zu sprechen ist. Enttäuschung und Verbitterung stehen der Hommage an eine Majestät gegenüber. Hat diese Königin eine dunkle Seite? Ist die Gönnerin des Balletts, die mit ihrer Tanzstiftung schon viel Geld ins deutsche Ballettwesen pumpte, dennoch eine Egoistin? Ihre Karriere liest sich aalglatt: Als Ballerina von John Cranko in Stuttgart wurde Keil berühmt, mit ihrer Stiftung mischte sie später überall mit. Bis 2019 war sie sowohl Leiterin der Akademie des Tanzes (AdT) in Mannheim als auch Ballettdirektorin des kleinen Badischen Staatsballetts in Karlsruhe. Trotzdem bleiben Fragen offen, wenn man den Schleier lüftet. Ihr Gatte bastelt in seinen jüngst erschienenen Memoiren „Ups and Downs. Mein Leben, ein einziger Tanz“ fleißig weiter am Mythos. Aber dort, wo er schweigt, sprechen andere: Die Hochschule führt einen Prozess mit einer langjährigen Mitarbeiterin, und der ehemalige Professor Joseph Willems, einst unter Keil ein Vielbeschäftigter der Ausbildungsstätte, zerbrach beinahe an ihrer charakterlichen Eiseskälte, wie er sagt. Liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte?

Schauen wir zunächst ins neu erschienene Buch. Ganz allein hat Vladimir Klos seine Memoiren nicht geschrieben. Die Tanzdramaturgin Silke Meier-Brösicke, der deutschen Sprache wohl mächtiger als der ehemalige Tanzstar, schrieb in geübter Stilistik auf, was Klos ihr mitteilte. Sie brachte in Form, was beim Laien mehr Gemeintes als Meinendes ist. Kritisches Hintergrundwissen liegt ihr nicht, auch Seitenblicke gibt es kaum. Klos darf sich vor allem selbst belobigen. Aber die Anhängerschaft von Klos und Keil wird von der Selbstbeweihräucherung auf 241 Seiten, die im renommierten Leipziger Henschel Verlag erschien, angetan sein.

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Nostalgische Künstlererinnungen: Vladimir Klos und Birgit Keil in tänzerischer Aktion. Foto: Michael Dannemann (aus dem Band „Ups and Downs“ von Klos, erschienen bei Henschel, Leipzig)

Der üppig mit nostalgischen Fotos bestückte, schick aufgemachte Band „Ups and Downs. Mein Leben, ein einziger Tanz“ erzählt auf nicht zu anspruchsvolle Art, wie glanzvoll und wie fleißig, wie amüsant und wie tapfer der Tänzer und Ballettpädagoge Vladimir Klos seiner eigenen Meinung nach ist. Dass es an seiner langjährigen Wirkungsstätte der Akademie des Tanzes, die Teil der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Mannheim ist, auch Zoff und Ungereimtheiten, Kritik und Ungerechtigkeiten zumindest aus der Sicht einstiger Mitarbeiter:innen gibt, verschweigt Klos. Alles um ihn herum war eine kleine, aber feine, eine badische heile Welt, so scheint es.

Von seiner Arbeit als Pädagoge erfährt man indes wenig: Er kehrt sowohl die Freuden eines Ballettlehrers als auch die Probleme der heutigen Profi-Tanzausbildung unter den Teppich – ganz so, als sei es die Aufgabe von Memoiren, nur der Selbstverherrlichung genüge zu tun. Ist so ein Konzept noch zeitgemäß? Zumal es gerade in Mannheim durchaus Probleme mit der Tanzausbildung zu geben scheint. Nicht nur der Ex-Professor Joseph Willems weiß davon ein Lied zu singen.

Der erste Satz in Klos‘ Band ist gar eine Floskel, von der man in einem Schreibkurs dringend abraten würde: „Eigentlich hatte ich nie Ambitionen gehegt, eine Autobiografie zu schreiben.“ Wer soll das glauben? Viele Fotos aus Klos‘ Zeit als Tänzer füllen den Band, publikumswirksame Anekdoten und persönliche Begebenheiten waren zumindest im Gedächtnis offenbar gut abgespeichert – auch wenn Klos sein Leben nicht nur im Hinblick auf dieses Buch geführt haben mag. Aber war es überhaupt „ein einziger Tanz“?

Tatsächlich wird von der Ballettpädagogik – immerhin Klos‘ Haupttätigkeit in den letzten 25 Jahren – erstaunlich wenig berichtet. Dabei ist das Lehren zu tanzen doch eine erfüllende, spannende Tätigkeit. Die Entwicklung, die angehende Tänzer:innen während ihrer Ausbildung nehmen, kann so aufregend sein! Gute Lehrer bleiben zudem auch selbst stetig Lernende. Dazu hätte man gern Beispiele und Berichte gelesen.

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Das Buch von Vladimir Klos beginnt schon auf dem Cover mit einem schönen Foto. Abbildung: Henschel Verlag, Leipzig

Und wie ist es, wenn junge Menschen nicht genügend geeignet erscheinen und knallhart aus der Ausbildung ausscheiden müssen? Für jeden Lehrer mit Herz dürfte das ein Problem darstellen. Bei Klos erfahren wir nichts davon. Der Tänzer Klos ist anscheinend immer Tänzer geblieben und hat als Pädagoge nur nach außen hin gewirkt. Sein Innerstes hat der zweite Beruf anscheinend nie erreicht.

War es bei Birgit Keil ähnlich? Ein ehemaliger Schüler von ihr, der heute selbst erfolgreich als Coach tätig ist, sagt, er würde sie „überhaupt nicht als Pädagogin“ bezeichnen. Sie sei – und der junge Mann blieb jahrelang, bis zum erfolgreichen Abschluss, an der AdT – viel zu egomanisch, um sich auf andere Menschen konzentrieren zu können. Es sei an der Hochschule immer nur um sie, um Birgit Keil und ihren Glanz, ihren Ruhm, ihr Ansehen gegangen – und eben nicht um die jungen Seelen, die in hochgezüchteten Körpern zu Balletttänzer:innen reifen sollten.

Natürlich mag es auch andere Stimmen geben. Nicht wenige verdanken Birgit Keil und der Finanzkraft ihrer Stiftung einen tollen Werdegang. Und mit ihrer PR hat sie viel auch für die Ballettsache insgesamt bewirkt. Wer aus Rumänien oder Brasilien mit dem Geld der Stiftung nach Deutschland geholt wurde und hier eine Ausbildung bekam, hatte faktisch gute Karten auf dem hart umkämpften Markt. Aber ist alles Gold, was in Mannheim glänzt?

Das Buchkapitel „Exercise – Professor an der Akademie des Tanzes Mannheim“ berichtet nur, dass es Klos und seiner Gattin gelang, begabte Stipendiat:innen etwa aus Brasilien und Japan nach Mannheim zu holen. Zum Unterricht steht da nicht viel. Ganze sechs Seiten ist Klos dieses Kapitel wert. Sechs Seiten von rund 250 Seiten. Für ein Vierteljahrhundert als Professor einer Hochschule ist das wenig.

Zu Details des Unterrichts schweigt Klos ganz. Überraschend, wenn man bedenkt, dass er einen großen Teil seiner Lebens- und Arbeitskraft darauf verwendet haben muss.

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Vladimir Klos 2004 im Ballettsaal, mit Thiago Bordin und Florentina Cristali. Foto: Jochen Klenk (aus dem Band „Ups and Downs“, erschienen bei Henschel, Leipzig)

Normalerweise entstehen enge Bindungen zwischen Ballettlehrer:innen und ihren Zöglingen. Oft ersetzen die ersteren den zweiten hinsichtlich der Autorität die Eltern, zumal, wenn es sich um Schüler:innen aus dem Ausland handelt. Klos behauptet zwar, er und Birgit Keil seien sich der Verantwortung für die Jugend bewusst gewesen. Aber wie sich das im Alltag der Schule gestaltet hat – davon erfahren wir nicht viel. „Intensität des Ausdrucks“ solle an der Schule gelehrt werden. Aber wie das gehen sollte – der Autor lässt uns ahnungslos.

Und dann ist da die Sache mit dem Bachelor-Studiengang. Die Student:innen, die an der AdT in Mannheim ihren Bachelor erhalten, indem sie ihre Berufsausbildung als Tänzer:innen beenden, haben kein Abitur. Sie können den Bachelor aufgrund ihrer von der Hochschule festgestellten Eignung erwerben.

Mehr oder weniger anspruchsvolle theoretische Kurse sollen sie auf Deutsch absolvieren  und Prüfungen in deutscher Sprache bestehen.

Aber ist es nicht schwer, ausländischen jungen Leuten, die nichts als tanzen wollen, neben ihrer praktischen Fleißarbeit so viel Deutsch und Theorie beizubringen?

Tatsächlich gibt es immer wieder von verschiedenen Seiten die Behauptung, etliche der Bachelor-Kandidat:innen in Mannheim würden ihre Examen bestehen, ohne ausreichend Deutsch zu beherrschen.

Prof. Rudolf Meister, Präsident der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim, streitet das ab. Da die Vorwürfe aber von mehreren Personen kommen, sollte man hier wohl dringend Überprüfungen anraten.

Die Kommission, die alle paar Jahre checkt, ob die Hochschule den Bachelor weiter an werdende Tänzer:innen vergeben darf, hat dazu womöglich nicht genügend Möglichkeiten.

Und für Vladimir Klos gab es anscheinend ohnehin keine nennenswerten Probleme an der AdT.

Wichtig ist ihm vor allem die Karriere seiner Gattin Birgit Keil. Händeringend habe man 2002 jemanden für die Ballettdirektion in Karlsruhe gesucht, schreibt er, bis man Keil fragte, die dankend annahm. Klos wurde flugs ihr Stellvertreter am Theater.

Romeo und Julia ganz britisch in Karlsruhe

Ganz in Weiß: Birgit Keil im Portrait des Fotografen Ariel O. Greith. Die ehemalige Ballettchefin vom Badischen Staatsballett achtet stets auf ihre äußere Erscheinung. 

Welche Folgen das für seine Studentenschaft hatte, kann man nur erahnen. Das prominente Paar der AdT pendelte fortan zwischen Mannheim, Stuttgart (wo die Stiftung ihren Sitz hat)  und Karlsruhe – und ließ die Jugendlichen häufig zusammen mit den Profi-Tänzer:innen auftreten. Das Staatsballett in Karlsruhe besteht nun nur aus Solist:innen, derzeit sind es 30 Stück. Sollten die Student:innnen als preiswerte Arbeitskräfte das Corps abgeben?

Und lief da immer alles glatt? Vor allem aus der Schülerperspektive gesehen?

Für Klos zählt nur, wie toll er und Gattin Keil ihr „straff durchorganisiertes“ Arbeitspensum bewältigten. Sie verdienten wohl auch nicht schlecht daran.

Über ihre weiteren Mitarbeiter:innen erfährt man nahezu nichts, und auch die Student:innen sind nur im Zuge von Name-Dropping und Karrierestationen interessant.

Was lief da zur Zeit von Keil und Klos in Mannheim und Karlsruhe wirklich ab?

Tänzer sind oft tapfer, so tapfer, dass es Normalmenschen wie überirdische Kraft anmutet.  Etwa wenn sie mit gebrochenem Zeh eine Probe weiter durchhalten – das habe ich bei der damals in Hamburg engagierten Winnie Dias erlebt, die an der AdT ausgebildet wurde – oder wenn sie mit einem Muskelabriss noch die ganze Vorstellung tanzen, wie Olga Esina in Wien. Es gibt da legendäre Geschichten.

Ein "Schwanensee" mit Geheimnis

Olga Esina als Odette in „Schwanensee“ in der Version von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett: mit Passion! Und als ihr der Wadenmuskel abriss, tanzte sie trotzdem weiter. Foto: Ashley Taylor

Wie wurden die Mannheimer Tanzstudent:innen von Klos und Keil auf solche Situationen vorbereitet? Wurde berücksichtigt, dass es ein Unterschied ist, ob Jugendliche oder Erwachsene so etwas machen? War Klos die Gesundheit seiner Student:innen überhaupt wichtig? Er spricht im Buch nur über das eigene Wohlergehen. Seine eigenen Verletzungen und OPs schildert er ausführlich wie in einem Tagebuch. Aber die seiner Schützlinge werden nicht mal am Rande erwähnt, auch nicht anonymisiert.

Die Zunahme von Verletzungen bei Tänzer:innen und auch schon Ballettstudent:innen ist international in der Ballettwelt ein Thema. Klos aber hat anscheinend noch nie davon gehört.

Die Wahrnehmung seiner nächsten Umwelt scheint bei Klos reduziert. Das gilt auch für die Arbeit am Buch. Meier-Brösicke wird von ihm zwar als „kluge und sensible Co-Autorin“ gewürdigt. Aber ihre Meinung über ihn, die möglicherweise auch interessant wäre, bleibt außen vor.

Ihr gemeinsames Buch bedient lediglich die Klischees. Im Plauderton werden Kindheit und Jugend vorgetragen. Rasch kommt Klos als Tänzer ins Spiel. Schon als Kind hatte er professionelle Auftritte. Und nur der Tänzer Klos zählt offenbar in seinem Selbstbild. Was ihm außer seinen körperlichen Verletzungen am Theater Mühe und Kummer bereitet hat, was außer dem Beifall seine innere Sonne strahlen ließ – das bleibt uns verborgen.

"Schwanensee" geht auch ohne viel Bühnenbild

Preisglamour beim Badischen Staatsballett: Der „Young Star Ballet Award“ wurde an die deutsche Tänzerin Lisa Pavlov verliehen. Mit dabei: Ballettdirektorin Birgit Keil (zweite von links) und ihr Gatte und Stellvertreter Vladimir Klos (rechts außen). Foto: Felix Grünschloß

Dafür gibt es viele Fotos, von ganz früher, aber auch von Gastspielreisen bis nach Asien mit dem Badischen Staatsballett. Schließlich listet eine „Vita“-Tabelle die wesentlichen Punkte in Klos‘ Leben auf. Der Beginn seiner privaten und beruflichen Partnerschaft mit Birgit Keil 1969 ist darin verzeichnet. Ihre Eheschließung, die erst 2011 erfolgte, nicht. Eine bezeichnende Lücke, denn wirklich nah kommt auch im Buch weder die Gattin noch die Leserschaft an Klos heran.

Irgendwie sieht er sich wohl als einsamen Wolf.

Zunächst muss man jedoch Mitleid mit dem älteren Herrn empfinden. Denn er beschreibt die Krebserkrankung, die ihn kurz vor Abschluss seiner beruflichen Laufbahn 2019 an der Mandel erwischte. Zwei Operationen und ein Hausarzt, der Klos riet, sich zwecks Aktivierung der Selbstheilungskräfte ein Ziel vorzunehmen, halfen ihm.

Das soll nun rühren: Das erklärte Ziel war seine letzte Sommergala mit dem Badischen Staatsballett in Karlsruhe, die Klos 2019 unbedingt erleben wollte. Tatsächlich waren die Galas in Karlsruhe als glanzvoll und famos bekannt. Klos‘ Wunsch zu gesunden, erfüllte sich. Möglicherweise auch wegen sehr guter medizinischer Behandlung. Danach war der Weg zum Buch mit einer gewissen Ruhmesabsicht wahrscheinlich logisch. Der 75. Geburtstag von Klos‘ am 1. Juli diesen Jahres war dann der Anlass zur Publikation.

Und er hat schon viel Glück gehabt im Leben. In seiner Geburtsstadt Prag, wo er seinerzeit das Konservatorium besuchte, gab es eine in Fachkreisen international berühmte Ausbildung für männliche Balletttänzer. Klos rutschte schon als Kind in diese exquisite Schule. Dankbar ist er dem System, das ihm die Ausbildung praktisch kostenlos zugute kommen ließ, aber keineswegs. Zu sehr hadert er mit den negativen Seiten der kommunistischen Regierungen.

Seinen Vater beschreibt Klos als geschäftstüchtigen Pharmazeuten. Seine Mutter erscheint als duldsame, humorvolle, loyale Frau. Um etwaigen Diskriminierungen als Sprössling eines Akademikers im Sozialismus zu entgehen, entschied sich Vladimir als Teenager fürs Ballett. Begabte Tänzer wurden gesucht, ein anderes Studium wäre ihm möglicherweise verwehrt worden. An sich aber wäre er lieber Architekt geworden, schreibt er.

Während der Ausbildung lernte er auf dem Konservatorium Ivan Liska und Jiri Kylián kennen, die nach ihrem Wechsel in den Westen große Karrieren machten. Klos streckte – nach vierjähriger Arbeit für eine Tourneetruppe – seine Fühler nach Wien und München aus. Also gen Westen. Den Schauspieler Harald Juhnke und den Schlagerproduzenten Ralph Siegel lernte er in dieser Zeit kennen. Fürs Ballett waren sie nicht wirklich hilfreich.

60 Jahre Stuttgarter Ballett

John Cranko – hier in einem Videostill aus der historischen Sendung „Das Portrait: John Cranko“ vom swr, die derzeit in der Mediathek der ARD zu sehen ist. Videostill: Gisela Sonnenburg

Der gute Ruf von John Cranko, sein Wirken in München und beim Stuttgarter Ballett faszinierte Klos. Seit 1967 versuchte er, zu Cranko zu wechseln. Während der Niederschlagung des Prager Frühlings floh er 1968 in den Westen.

Als er dann bei Cranko vortanzt, engagiert der ihn praktisch vom Fleck weg für Stuttgart als Ensembletänzer. Klos‘ Aufstieg beginnt.

So weit, so gut. Aber manche Details machen stutzig. Etwa dieses:

Dieter Graefe, Mitbewohner von Cranko und schon damals Lebensgefährte des späteren Stuttgarter Ballettintendanten Reid Anderson sowie auch als Inhaber der Lizenzrechte für die Cranko-Ballette bekannt, wird von Klos immer nur kurz angebunden „Crankos Privatsekretär“ genannt. Das hat in dieser Vereinfachung schon fast etwas Diskriminierendes. Warum schreibt Klos nicht, dass Anderson und Graefe ein Paar waren und sind? Glaubt Klos, man müsse Homosexualität verschweigen? Findet er es gar despektierlich, dass ein Schwuler die großartigen Ballette Crankos verwaltet?

Und auch von Crankos eigener Homosexualität schweigt Klos. Das ist schon merkwürdig, denn Ballett ist eine intime Arbeit, die auf gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz beruht. Dass der Cranko-Star Richard Cragun, einst Tänzerkollege von Klos, 2012 an den Folgen von Aids starb, wird durch die Formulierung „seine schwere Erkrankung“ verbrämt. Was sollen diese Halbheiten und Verklemmtheiten?

Umso glanzvoller und ausführlicher wird Birgit Keil im Buch beschrieben. Die eigene Gattin erscheint Klos offenbar als nicht zu überschätzende Frau im Ballett – außer Marcia Haydée und Anne Woolliams in Stuttgart und der dort gastierenden Fonteyn wird kaum eine andere weibliche Koryphäe erwähnt. Überhaupt leuchten an Klos‘ Balletthimmel immer wieder diese zwei Sterne: er selbst und seine Gattin. Immer wieder. Nur sie.

Der früh verstorbene Uwe Scholz, der sich nicht mehr wehren kann, soll ihnen sogar gesagt haben, ohne sie beide hätte er nie choreografiert. Wieder fragt man sich: Wer soll das glauben? Nun hatte Scholz massive Alkoholprobleme, die im Buch verschwiegen werden. Vielleicht hat er etwas im Überschwang geäußert, das er nicht ganz so gemeint hat? Klos hat jedoch keinen Zweifel an der überragenden Wirkung seiner Gattin und seiner selbst. Dabei lässt er völlig außer Acht, dass es auch in seiner Sphäre Tänzer gab, die als viel bedeutender gelten müssen.

Crankos wichtigste Muse war selbstverständlich die warmherzige Marcia Haydée, nicht die kühle Birgit Keil. Und bei den Herren in Crankos Riege waren Ray Barra und Egon Madsen, Heinz Bosl, Reid Anderson und Richard Cragun die großen Stars. Warum huldigt Klos nicht ihrem Können, warum fällt es ihm so schwer, zuzugeben, dass er nicht immer in der allerersten Reihe tanzte?

Dass Klos seine Partie als „Mitch“ – Harold Mitchell – im grandiosen Stück „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier dann noch als „große Rolle“ bezeichnet, belegt seine verzerrte Selbstbeurteilung. 1983, bei der Uraufführung in Stuttgart, war Neumeiers Ballett-Theater  eine Sensation. Mitch, erstbesetzt mit Klos, hat darin einen einzigen Pas de deux mit Blanche, der Hauptfigur des Stücks. Aber eine „große Rolle“ ist Mitch trotzdem nicht. Auch wenn die Partie in den Besetzungslisten an vierter Stelle kommt – im Handlungsverlauf des Stücks ist sie kurz vor überflüssig.

„Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier, hier 2004 mit Bridget Breiner in der Hauptrolle der Blanche beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Die Verbindung zum Großen und Ganzen des Ballettkosmos und eine eher bescheidene  Einordnung seiner selbst darin ist von Klos aber anscheinend zuviel verlangt. Er beschreibt seine kleine Welt lieber naiv als Mikrokosmos – und sieht sich selbst als Helden diverser Abenteuer.

Insoweit es die Arbeit im Stuttgarter Ballettsaal unter John Cranko betrifft, liest sich das Buch immerhin plastisch und anheimelnd. Über manche Stücke erfährt man Interessantes, fast Lexikalisches; so über die Entstehung der „Brouillards“, der „Nebel“, die ein exzellentes sinfonisches Ballett von John Cranko darstellen. Auch die Kreationen und Projekte mit Choreografen wie Kenneth MacMillan und Heinz Spoerli sind gut getroffen und schwärmerisch umschrieben.

Für Klos aber war noch etwas Anderes wichtig in Stuttgart: die Erscheinung seiner späteren Ehefrau Birgit Keil. Durch die Verpartnerung mit Keil, die damals schon Primaballerina in Stuttgart war, sicherte sich der jüngere Klos, der zwar über Attraktivität, nicht aber über bedeutende tänzerische Qualität verfügte, den Fortgang seiner Karriere.

Warum sich die umschwärmte Starballerina Keil mit den „suppentellergroßen“ Augen gerade auf ihn einließ, wird nicht ganz klar. War er ihr stets zu Diensten, hat er sie heftig umschwärmt, ihr verführerisch tief in die Augen gesehen? Verband sie die gemeinsame Herkunft aus dem heutigen Tschechien? Eine sinnliche oder anrührende Szene gibt es hier nicht. Man erfährt lediglich, dass der erste Kuss auf einer Silvesterfeier stattfand.

Im Fach Lebenslust hätte Klos trotzdem eine Eins verdient. Darum liest sich auch mitreißend, wie er die ersten Jahre seines sozialen Aufstiegs erlebt. Alles macht ihm Spaß, alles ist ihm Vergnügen. Er hat viel Schwung und immense Chancen. Aber: Durch Leistung allein kam er nicht nach oben.

Seinen Aufstieg verdankt er eindeutig dem Glamour seiner Frau.

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Noch einmal Vladimir Klos und Birgit Keil in tänzerischer Aktion. Foto: Michael Dannemann (aus dem Band „Ups and Downs“ von Klos, erschienen bei Henschel, Leipzig)

Aber wer ist sie überhaupt, diese erfolgsumflorte Majestät des Balletts?

Birgit Keil konnte Marcia Haydée als Cranko-Muse nicht das Wasser reichen. Keil war bildhübsch, hatte gute tänzerische Linien und konnte den weißen Schwan in „Schwanensee“ tadellos interpretieren – aber ein Weltstar der Spitzenklasse wie Marcia Haydée, Margot Fonteyn oder Eva Evdokimova war sie in der Meinung vieler Fachleute nie, auch wenn der Kritiker Clive Barnes in den USA sie in den Balletthimmel lobte und die Gattin eines FAZ-Herausgebers ihre Freundin ist. Sie hat kein schöpferisches Werk hinterlassen und auch kein eigenes ballettpädagogisches System.

Und ob der deutschsprachige Bachelor, den sie als Examensform einführte, als Einheitsstudium für eine Profitänzerausbildung wirklich sinnvoll ist, muss fragwürdig erscheinen. Individualität wird darin jedenfalls nicht groß geschrieben.

In der badischen Provinz mögen Keil und Klos weltberühmt sein, aber so ganz stimmig ist dieses Announcement eben nicht. Letztlich war Keil oft nur die zweite Besetzung unter Cranko, und dass sie überhaupt so viel Widerhall auf ihren Tanz fand, erklärt sich vor allem aus ihrer deutschen Nationalität.

„Die deutsche Ballerina“ wurde die gebürtige Sudetendeutsche, die in Baden-Württemberg aufwuchs, nicht nur von Barnes genannt. Wobei stets ignoriert wurde, dass nur die Titulierung als „die westdeutsche Ballerina“ richtig gewesen wäre. Denn in der DDR, also in Ostdeutschland, gab es nicht wenige ebenso talentierte und hervorragend ausgebildete Ballerinen. Eine sei hier genannt: Monika Lubitz, Jahrgang 1943, die nach einer rasanten Karriere als Primaballerina bis 2006 als Ballettmeisterin in Berlin wirkte.

Nützlich waren der westdeutschen Birgit Keil ihre Freundschaften mit diversen Millionär:innen. Einige von ihnen werden von Vladimir Klos als langjährige gemeinsame Freunde genannt, manche auch ein wenig näher beschrieben.

Da ist der weltweit verkaufende Schraubenhersteller Reinhold Würth, der unter Insidern als großzügiger Mäzen gilt. Da ist auch eine inzwischen verstorbene italienische Marchesa. Da ist zudem die eine oder andere honorige Adlige auch aus Deutschland, da ist auch der eine oder andere lukrativ in der Wirtschaft agierende Professor. Und da ist, sozusagen als wandelndes Tüpfelchen auf dem „i“, der leibhaftige, 2016 verstorbene Lothar Späth (CDU), der einst als Ministerpräsident von Baden-Württemberg und später als mächtiger Wirtschaftsboss (unter anderem bei der Jenoptik) über mannigfaltige Kontakte verfügte.

Diese Freunde besorgten Birgit Keil nach Beendigung ihrer aktiven Tänzerkarriere 1995 den Aufbau und die finanzielle Bestückung ihrer Stiftung, die noch heute die ehemaligen Wirkungsstätten von Keil mit Geldern füttert. Die Homepage der „Tanzstiftung Birgit Keil“ auf www.tanzstiftung.de ist allerdings schon seit Längerem im Neuaufbau.

Die Homepage der Tanzstiftung Birgit Keil – auf tanzstiftung.de noch ohne Zertifikat – wartet auf ihre Erneuerung. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Eine aktuelle Version gibt es nicht. Lediglich Reste älterer Angaben sind online zu finden. Als Zielvorgabe steht darin die Ausbildung von tänzerischem  Nachwuchs. Und tatsächlich sind brillant tanzende Talente wie Thiago Bordin, der in seinen besten Jahren beim Hamburg Ballett unter John Neumeier wirkte, und Anna Osadcenko, die ein hervorragender Star beim aktuellen Stuttgarter Ballett ist, mit Geldern von Keils Stiftung nach Deutschland geholt und hier ausgebildet worden.

Ihre Stiftung stärkte Keil den Rücken – und auch den Einfluss, den sie auf die Ballettwelt nahm.

Fakt ist: Seit 1997 war Keil Professorin und Leiterin der Akademie des Tanzes in Mannheim, wo ihr Gatte Klos bereits seit 1994 Lehrbeauftragter war. Erst unter seiner Gattin als Chefin avancierte dann auch Klos zum Professor.

Zweifelsohne leisteten die beiden Aufbauarbeit. Zunächst gab es ja nicht mal genügend Ballettsäle an der AdT in Mannheim. Nur: Wer arbeitete mit, wer lehrte, wer bildete aus, wer organisierte, wer kümmerte sich um die Kostüme, um das Training, um die Proben und um die vielen Auftritte der Schüler- und Studentenschaft? Wer wählte die Musiken und Themen aus, wer besorgte die Choreografien an der Schule?

Wir erfahren all das nicht in diesem Buch. Wir haben beim Lesen nur den Eindruck, dass Keil und Klos den badischen Balletthimmel auch ohne Mitarbeiter:innen ausfüllen.

Dieser Egozentrismus ist der einfachste Weg, sich selbst zum Helden zu erklären. Man lässt einfach die Arbeit der Anderen unter den Tisch fallen.

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Modern und expressiv: Joseph Willems als junger Tänzer. Er tanzte beim Nederlands Dans Theater in Den Haag und war später Ballettmeister unter anderem in Heidelberg. Foto: privat

Es gibt allerdings Menschen, die es nicht länger aushalten, zuzusehen, wie sich das Gespann Keil-Klos als redlich darstellt, während manche Insideransicht andere Eigenschaften nahelegt.

So der gebürtige Niederländer und schwule Sohn einer Hitler-Widerständlerin namens Joseph Willems, der 27 Jahre lang als Professor an der Akademie des Tanzes in Mannheim gearbeitet hat. Zuvor war er Tänzer und Ballettmeister, unter anderem beim Nederlands Dans Theater in Den Haag und am Stadttheater Heidelberg.

Als Birgit Keil ihm als Leiterin vor die Nase gesetzt wurde, hatte er schon einige Jahre Akademiearbeit hinter sich. Während Keil sich von der Presse und in Eigenpublikationen als Ikone des Balletts feiern ließ, wirbelte Willems hinter den Kulissen.

„Es war keine Seltenheit, dass ich wochenlang ohne einen freien Tag arbeitete“, sagt er heute. Faktisch avancierte er zu einer Art Leiter der Abteilung für modernen Tanz, was auch aus seinem Zeugnis hervorgeht. Zusätzlich unterrichtete er klassischen Tanz, Pilates und Krafttraining. Für Aufführungen und Gastspiele hatte er oft die Probenleitung inne, choreografierte und übernahm auch noch Arbeiten mit der Videotechnik.

Er war außerdem für den Kostümfundus zuständig, sowohl, was die zahlreichen Proben als auch, was die ebenfalls zahlreichen Aufführungen der Student:innen anging.

„Ich habe Kostüme mit nachhause genommen und dort gereinigt, sie gebügelt und umgenäht“, sagt Willems. Dabei war er Professor für Tanz. Und kein Garderobier.

Aber: „Ich habe für die AdT gelebt, ich war, wann immer es ging, für sie im Einsatz.“ Seine Mittagspause verbrachte Willems demnach auch mal mit Kostümtransporten. Und wann immer seine Chefin Keil von ihm etwas verlangte, war er zur Stelle, so scheint es ihm heute rückwirkend – nur wirklich dankbar war sie ihm dafür nicht.

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Er wurde nach Überlastung krank: Joseph Willems, ehemals Professor für Tanz unter Birgit Keil in Mannheim. Foto: Gisela Sonnenburg

Als er nach jahrelanger Überlastung ab 2016 gesundheitliche Probleme bekam und des öfteren krank geschrieben war, fühlte er sich von der Hochschule nicht gerade umsorgt.

2018 wurde der damals 59-Jährige dann von einer Studentin oder einem Studenten im Fragebogen der Kommission zur Aufrechterhaltung der Bachelor-Akkreditierung der Hochschule anonym bezichtigt. Der Vorwurf: unangemessene Berührungen im Pilates-Unterricht. Nie zuvor hatte sich jemand über so etwas beschwert. Es schien völlig abwegig. Dennoch ließ Birgit Keil ihre langjährige Lehrkraft nach Willems‘ Empfinden eiskalt fallen.

Sie stellte sich keineswegs vor ihn, der ihr jahrelang den Rücken freigehalten hatte. Willems wurde vielmehr in den Verruf gebracht, im Unterricht körperliche Belästigung auszuüben. Ein schlimmer Vorwurf.

Es wäre schlimm, wenn er der Wahrheit entsprechen würde. Es wäre aber auch schlimm, wenn hier eine Hexenjagd auf einen langjährigen Mitarbeiter veranstaltet wurde, den man nur einfach loswerden wollte. Und so empfindet es der betroffene Joseph Willems.

Denn die Hochschule suchte einen Schuldigen für die Vorwürfe der Bachelor-Kommission, der moderne Tanzunterricht an der AdT sei qualitativ nicht ausreichend. Willems sagt selbst, dass er nur selten zu Fortbildungen geschickt wurde und er außerdem nicht das Spektrum von mehreren verschiedenen Lehrern haben könnte. Als er aufhörte, an der AdT zu arbeiten, folgten gleich vier deutlich jüngere Lehrbeauftragte in seinen Job. Aber einen Professor oder eine Professorin für modernen Tanz gibt es bis heute nicht wieder an der AdT.

Liegt hier ein Fall von Diskriminierung vor?

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Professor Joseph Willems heute: Er sieht sich als Opfer. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Aktenlage:

Mehr als 30 überwiegend ausländische Student:innen unterschrieben nach Bekanntwerden der Beschwerde im Fragebogen eine auf deutsch verfasste Beurteilung, der Unterricht in modernem Tanz durch Willems sei unzureichend und veraltet. Das ist der eine Vorwurf.

Auf einem weiteren Aktenblatt finden sich 12 Unterschriften von Student:innen unter einem  wieder nur auf deutsch verfassten Text. Der besagt, Willems habe bei einer bestimmten Stretching-Übung im Pilates männliche wie weibliche Studenten „häufig“ so berührt, dass diese es als „sehr unangenehm“ empfunden hätten. Das hätten diese 12 selbst erlebt und auch bei anderen so beobachtet. Konkrete Angaben wie Daten und Uhrzeiten werden kein einziges Mal gemacht. Auch das Wort „sexuelle Belästigung“ kommt nicht vor. Sie wird aber sehr wohl suggeriert.

Joseph Willems lebt offen schwul, wurde aber nie zuvor zu einem Dienstgespräch einberufen noch arbeitsrechtlich abgemahnt – und nun wurde er plötzlich schriftlich der Belästigung sowohl weiblicher als auch männlicher Student:innen beschuldigt. Es fühlte sich für ihn an wie in einem Alptraum.

Kein Alp, sondern „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier 2013 beim Hamburg Ballett: Thiago Bordin, ehemals Student an der Akademie des Tanzes in Mannheim und auch von Joseph Willems, als Oberon mit der Zauberblume in der Hand und Konstantin Tselikov als sein chaotischer Gehilfe Puck. Foto: Holger Badekow

Ein weiteres Blatt – dieses Mal wieder mit rund 30 Unterschriften – soll den Professor ebenfalls belasten. Es subsummiert angebliche despektierliche Äußerungen von Willems. Demnach soll er im Unterricht die Instagram-Auftritte im Bikini und mit Stöckelschuhen einer Studentin gelobt und einer anderen gesagt haben, sie sehe aus, als sei sie schwanger.

Nun ist es in Deutschland nicht verboten, sich zu legal veröffentlichten Fotos lobend zu äußern. Auch eine Schwangerschaft darf vermutet werden. Professoren haben wie jedes andere Mitglied dieser Gesellschaft eine Meinungsfreiheit. Zumal der Körper und der Zustand des Körpers im Tanz als Instrumente zur Berufsausübung begriffen werden. Da ist das Aussehen eine professionelle Kategorie und keine persönliche Privatsache.

Schließlich reicht die Denunziation so weit, dass ein weiteres Blatt mit knapp 20 Unterschriften besagt, Professor Willems habe vor dem Unterricht geraucht und dann im Ballettsaal den Geruch eines Rauchers verströmt. Ein Raucher allein füllt mit den Ausdünstungen zuvor gerauchter Zigaretten den ganzen Ballettsaal? Unwahrscheinlich. Raucher verletzen nach deutschem Recht übrigens auch keinesfalls die Rechte anderer mit ihrem Körpergeruch.

Und wo Zigarettenkonsum vorgeworfen wird, ist der Alkohol nicht weit: Ein weiteres Blatt mit 24 Unterschriften wirft Willems vor, er sei im Hochschulalltag alkoholisiert gewesen. Zu diesem Vorwurf hatte Birgit Keil persönlich auch schon einige Dozent:innen unterschreiben lassen. Aber es ist verdammt schwer, in Deutschland jemanden wegen gelegentlichem  Alkoholgenuss aus dem Job zu bekommen.

Die studentischen Vorwürfe wirken insgesamt konstruiert. Sie wurden – das zeigt schon das geschraubte Deutsch, in dem sie verfasst sind – sicher nicht von Student:innen formuliert. Datiert sind sie außerdem nicht.

Es gibt nur den Eingangsstempel der Hochschule auf diesen Blättern, und er lautet jeweils auf dasselbe Datum, auf den 18. Juli 2018. Sie wurden also zusammen eingereicht. Es handelt sich um eine lancierte Denunziation.

Die Bedeutungsschwere einzelner Vorwürfe scheint hier zudem kaum eine Rolle zu spielen. Zwischen Zigarettengeruch und körperlicher Belästigung gibt es ja nun einen Unterschied.

Es soll aber das Gesamtbild der Anwürfe wirksam sein: Man wollte das Profil eines verwahrlosten Lehrers darstellen, dessen Unterricht nichts mehr bringt und der insgesamt für seine Aufgabe ungeeignet geworden sei. Nach fast 30 Jahren Berufstätigkeit an derselben Hochschule, wohlgemerkt.

John Cranko rauchte ständig bei der Arbeit, auch im Ballettsaal – damals, in den 60er- und frühen 70er-Jahren, störte das anscheinend nicht. Videostill aus „Das Portrait: John Cranko“/swr: Gisela Sonnenburg

Aber kein Mal wird im Kontext konkret ein Einzelfall mit Datum und Uhrzeit beschrieben. Vor allem die behauptete „unangenehme“ Berührung beim Pilates gereicht Joseph Willems zur Last. Aber bei ihm selbst hatte sich nie jemand beschwert, sagt er. Gelegentliche Berührungen seien im Unterricht normal – und wenn es für einige zuviel Körperkontakt gegeben hätte, so hätte Willems dieses gern berücksichtigt. Doch dazu ließ man ihm keine Chance.

Wer die Anwürfe verfasst hat und wer die Student:innen zur Unterschrift bewog und vorher vernommen hat, ist Joseph Willems nicht bekannt. Aber die Formulierungen sind deutlich kalkuliert genug, um von einer Kanzlei zu stammen.

War es dieselbe, die die Hochschule im Prozess gegen eine ehemalige Mitarbeiterin vertritt? Auch hierin spielen absurd anmutende Beschuldigungen eine Rolle. In erster Instanz gewann die Betroffene, jetzt geht die Hochschule in die nächste Instanz.

Heile Welt – nun ja, die geht anders. Aber:

Von all diesen Vorkommnissen schreibt Vladimir Klos rein gar nichts in seinem Buch. Sie spielten sich jedoch 2018 ab, also zu seiner Zeit und zur Zeit der Regentschaft von Birgit Keil an der AdT – und es ist unmöglich, so etwas einfach zu vergessen.

Birgit Keil, die ich schriftlich zu Joseph Willems befragte, lehnte die Beantwortung einzelner Fragen ab. Sie ließ nur mitteilen, die Schilderungen von Prof. Willems entsprächen „in keiner Weise der Realität“ und für den Fall etwaiger Publikation ließ sie rechtliche Schritte androhen.

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Ein Booklet feierte 2015 das 20-jährige Bestehen der Tanzstiftung Birgit Keil – mit der Namensgebern auf dem Cover. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Es gibt aber Unterlagen und Zeug:innen, die für sich selbst sprechen. Und es gibt eine Presse- und Meinungsfreiheit in diesem Land. Laut Art. 5 GG muss es möglich sein, dass die Presse Missstände, die von Informanten subjektiv erlebt werden, als solche benennen darf.

Eine Drohung abzulassen – statt einer inhaltlichen Antwort – ist da wenig elegant, Frau Prof. Keil! Und sie kann juristisch sogar als Nötigung gesehen werden.

Mit dem Wissen um die abweisende Reaktion Keils auf kritische Fragen lesen sich nun die Memoiren von Vladimir Klos erst recht streckenweise wie der pure Hohn.

Keil erscheint als entrückte Heilige, die offenbar nicht mal im selben Bett schläft wie ihr Partner. In seinem Buch steht sie bei besonderen Vorkommnissen nachts vor seinem Bett – wieso liegt sie nicht neben ihm und weckt ihn? Vermutlich wäre das nicht majestätisch genug.

Auch von Privatem wie etwaiger Familienplanung bei Keil und Klos ist im Buch nie die Rede. Konnten sie keine Kinder haben oder wollten sie keine? Was verbindet die beiden überhaupt privat? Lieben sie denselben Champagner? Dieselben Filme? Man weiß es nicht. Alles, was man erfährt, deutet auf eine Allianz aus geschäftlichen Gründen, in der es offenbar nie zu Streit oder Disharmonie kam. Das ist wohl sehr selten – oder nicht ganz wahr.

Schließlich brüstet Klos sich, Kostüme für das Badische Staatsballett entworfen zu haben. Die Aufträge hierzu erhielt er von seiner Frau.

Die Zeichnungen und Fotos im Buch belegen aber, dass Klos kein großes Designertalent hat. Provinziell und langweilig wirken seine Kostümideen – und wenn man bedenkt, dass an der Schule seiner Frau die aufwändige Verwaltung eines reichhaltigen Kostümfundus über viele  Jahre nicht mal extra bezahlt worden ist, jedenfalls nicht an Joseph Willems, sagt dieser – dann klingt es doch ein bisschen makaber, wie sich der Gatte einer weiblichen Machtfigur mit seinem nicht vorhandenem Genius schmückt, um höchst mittelmäßige, schlecht sitzende Kostüme zu entwerfen.

Hat das Paar Keil-Klos vielleicht ziemlich willkürlich vor allem den eigenen Ruhm gepflegt statt seinen Aufgaben zu dienen?

Nach außen stand Prof. Birgit Keil für Disziplin, Eleganz, Größe.

Nach innen aber agierte sie zumindest in der Erinnerung von Joseph Willems ganz anders: überheblich, gefühlskalt, maßlos. Willems: „Sie war unsere Prinzessin, und wir mussten alles geben, damit sie zufrieden ist.“ Was nicht ins Bild passte, wurde nach Willems‘ Erfahrung von Keil-Klos einfach ausgeblendet.

Viele Aspekte, die die Arbeit im Profi-Ballett berühren, ignoriert Klos in seinem Buch denn auch hartnäckig, weil sie die Schattenseiten der Ballettwelt bilden. So ist Magersucht faktisch eine stete Gefahr in der Ausbildung zu einem Beruf, der auf extreme Schlankheit setzt. Und wenn man einen Lehrer wie Professor Willems dazu befragt, kommt die Antwort, dass es selbstverständlich im Ballett Fälle gibt, in denen vor allem Mädchen sehr nah an eine Essstörung kommen.

Auch die Überbetonung technischer Leistungen im Ballett führt international zu Problemen. Verletzungen und Fehlstellungen der Beine und Füße können die Folgen sein.

Bei Vladimir Klos steht davon kein Wort. Auch die Integration von ausländischen  Student:innen, der Umgang mit Homosexualität, die Autonomie des Einzelnen – all das war wohl nie ein Thema unter Keil-Klos‘ Regime.

John Neumeier kreierte ein Ballett über die "Duse".

Ein Blick in ein echtes Buch: „Das Geheimnis des schauspielerischen Erfolgs“ von K. S. Stanislawski brachte Generationen von Bühnendarstellern das Spielen bei. Ob es in Mannheim an der Akademie des Tanzes bekannt ist? Die Memoiren von Vladimir Klos sagen dazu nichts. Foto: Gisela Sonnenburg

Und wie ist es um die theoretischen Unterrichte bestellt? Bei Klos gar nicht. Man erfährt schlicht nichts darüber. Überhaupt scheint es, dass Klos sich noch nicht mal für die Balance von klassischem und modernem Tanzunterricht interessiert, denn er schreibt dazu kaum was.

Für Klos scheint die AdT vor allem ein Mittel zum Zweck gewesen zu sein, um bis ins hohe Alter gesellschaftlich möglichst weit oben zu stehen. Spaß scheint ihm das Unterrichten nicht gemacht zu haben. Diesen Eindruck erweckt das Buch – und dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man sich mit Schicksalen wie dem von Joseph Willems beschäftigt.

Als er 2018 beschuldigt wurde, befragte er ehemalige Student:innen nach Meinungen zu seiner Person. Sie waren nicht mehr von der Hochschule abhängig und konnten sich frei äußern.

Und siehe da: Eine Welle der Sympathie schlug Willems entgegen. Langjährige Student:innen von ihm erklärten ihre Solidarität und ihr Entsetzen über die Anwürfe. Auszüge lesen sich so:

„Von der Aufnahmeprüfung an bis zum Ende“ habe eine ehemalige Schülerin ihren Professor Willems „ausschließlich als professionellen Dozenten“ erlebt, und zwar „auch im Pilates“.

Und: „Auch wenn andere schon Feierabend hatten“, habe Willems mit den jungen Leuten noch Vorbereitungen für den nächsten Tag getroffen.

Überaus fleißig und engagiert, uneigennützig, hilfsbereit und kompetent – so hat der Großteil seiner Student:innen Joseph Willems nachweislich erlebt.

Eine heutige Karlsruher Solistin hatte 8 Jahre lang Unterricht bei Joseph Willems. Sie schrieb ihm 2018: „Ich habe mich keine Sekunde unwohl in Ihrer Unterrichtsstunde gefühlt. Weder ich noch meine Mitstudenten wurden von Ihnen sexuell belästigt“. Und: „Sie waren immer ehrlich, menschlich und haben sich um Ihre Studenten gekümmert.“

Eine andere junge Dame berichtet, dass sie nie vergessen wird, wie er stundenlang nach den richtigen, passenden Schuhen für ihren Folklore-Tanz gesucht habe.

Die Liebe und der Respekt, den man im Ballett füreinander hegen sollte, strömten nur so zu Joseph Willems.

So etwas ist von Vladimir Klos offenbar nicht überliefert. Oder er fand es nicht wichtig genug, um es in seine Memoiren aufzunehmen.

Birgit Keil und Vladimir Klos contra Joseph Willems

Birgit Keil 2018 mit ihrer Nachfolgerin als Ballettdirektorin vom Badischen Staatsballett, Bridget Breiner. Breiner war einst, wie Keil, Erste Solistin beim Stuttgarter Ballett. Foto: Arno Kohlem

Ein männlicher Ex-Student der AdT erinnert sich denn auch, Willems habe ihm und anderen Auszubildenden stets „mit Rat und Tat zur Seite gestanden“, er habe die Student:innen aufgebaut und neuen Mut gegeben wie kein anderer Lehrer.

Andere lobten wiederum vor allem die Qualität des Unterrichts von Willems und befanden, dass sie durch ihn eine optimale Basis für die modernen Tanzarten erhielten.

Eine Menge solcher Bekenntnisse ging bei Joseph Willems ein. Man hoffte, so der Tenor, alles werde sich aufklären und das Unvorstellbare werde widerlegt.

Aber nichts wurde widerlegt. Es gab nur anwaltliche Korrespondenzen, kein Gerichtsverfahren. Trotzdem schien Willems gerichtet. Für ihn fühlte sich all das an wie Rufmord. Er wurde an der Hochschule geschnitten, scheel angesehen. Ihm war schleierhaft, wie es zu den Unterschriften der Student:innen unter die Beschuldigungen kam.

Er hielt dem nicht stand, musste sich krank melden, verfiel in Depressionen, wurde jahrelang behandelt. „Mein Leben wurde fast vernichtet“, sagt er. Letztlich schied er aus gesundheitlichen Gründen aus seinem langjährigen Dienstverhältnis aus.

Seit dem 1. August 2021 befindet er sich im Ruhestand, in der Frühverrentung. In eine andere Stadt ist er mit seinem Lebenspartner sowieso gezogen, denn das kleine Mannheim wurde für ihn zur Rufmord-Hölle.

Abschied vom Badischen Staatsballett in Karlsruhe: Birgit Keil und Vladimir Klos 2019. Foto: Uli Deck

Man müsse begabt dafür sein, Menschen zu führen und zu leiten, „man kann nicht alles in Seminaren lernen“, sagte Birgit Keil vor nicht allzu langer Zeit in einem Radio-Interview dem swr. In der Tat: Alles kann man nicht lernen. Aber vieles. Wir empfehlen Birgit Keil und Vladimir Klos trotz ihres vorgerückten Alters ein Seminar: über das Gefühl, wie es ist, benutzt und weggeworfen zu werden.
Gisela Sonnenburg

Vladimir Klos: „Ups and Downs. Mein Leben, ein einziger Tanz“, erschienen im Henschel Verlag, Leipzig, 2021. ISBN 978–3–89487–834–4 (www.henschel-verlag.de), 26 Euro

 

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