Im Wechsel der Gezeiten Das Stuttgarter Ballett serviert vier Stücke von drei Altmeistern der Moderne: „Kylián / van Manen / Cranko“

Das Stuttgarter Ballett zeigt einen Vierteiler.

Bei der Uraufführung tanzten Margot Fonteyn und Egon Madsen in „Poème de l’Exstase“ – 1970 war das, beim Stuttgarter Ballett. Und auch, wenn nicht alle Kritiker begeistert waren: Die Posen der Fonteyn waren alles andere als „zu alt“. Foto und Farbe: freie Bearbeitung

Am spannendsten ist ja manchmal das dicke Ende. In diesem Fall, im Fall der kommenden Premiere „Kylián / van Manen / Cranko“ beim Stuttgarter Ballett, folgt auf drei mehr oder weniger typische moderne Kurzballette – typisch auch für ihre jeweiligen Tanzschöpfer – ein ganz und gar untypisches Konglomerat aus Aktion, Gefühligkeit und Stimmung. Der Titel des Stücks „Poème de l’Extase“ deutet schon an, dass hier noch einmal die ganze bedrückende Schwülstigkeit der Belle Époque aufzuleben scheint; John Cranko schuf damit sicher sein umstrittenstes Ballett.

Bei der Uraufführung 1970 in Stuttgart schrieb die lokale Zeitung „Stuttgarter Nachrichten“ denn auch recht kryptisch, sogar unlogisch: „Liebe scheint sich für Cranko nur in tödlicher Ekstase zu erfüllen oder – im Verzicht, was auf eins hinaus läuft.“ Dabei war die weibliche Hauptrolle prominent besetzt, mit Margot Fonteyn, der Dame Margot Fonteyn (Dame ist hier ein englischer Titel) als Gaststar in Stuttgart. Fonteyn galt als Superstar, war die Supraballerina Westeuropas – und als Tanzpartnerin von Rudolf Nurejev in London, aber auch bei ungezählten Gastauftritten, hat sie der Ballettwelt jener Zeit unverkennbar ihren Stempel aufgedrückt.

Es geht in „Poème de l’Extase“ um eine alternde Diva, in deren Salon ein junger Verehrer erscheint. Sie fühlt sich durch ihn an ihre Jugend und ihre Lebenslieben erinnert; ihre Erinnerungen werden tänzerisch vorgeführt. Dann aber verzichtet die einst begehrte Lady auf ein Abenteuer mit dem jungen Mann vor ihr; sie sieht, der Konvention früherer Jahrhunderte gemäß, ein, dass sie ihren Spaß am Leben hatte und als nicht mehr ganz appetitliches altes Mädchen in den Stürmen der Liebe vielleicht untergehen könnte. Aber immerhin: Das Tabu von der deutlichen älteren Frau im Liebesspiel mit einem jüngeren Mann wird gebrochen und das Thema mehr oder weniger ungeschminkt aufgetischt.

Wenn auch jede Menge Scham im Bühnenraum mitwabert! Denn die Hebungen und Posen sind keineswegs „unromantisch“ oder direkt, sondern vielmehr verbrämt von poetischen Gesten; das ganze Ballett scheint choreografisch vor sich hinzuschmelzen wie ein großer Eisbecher mit Sahne in der prallen Sommersonne. Dabei ist es opulent aufgemacht, mit vielen tänzerischen, aber auch ausstattungsmäßigen Details.

Das Dekor des Balletts stammt, wie auch die Kostüme, von Jürgen Rose, und der wiederum hielt sich hier ganz an Gustav Klimt als Quelle der Inspiration. Jugendstil mit Grandezza-Anspruch schwebt über allem; dieser Gedanke John Crankos trägt der Zeit der Entstehung der Musik Rechnung.

Das Stuttgarter Ballett tanzt einen Vierteiler.

So frivol sahen die erotischen Fantasien der „Schönen“ in „Poème de l’Exstase“ bei früheren Aufführungen aus. Das brisante Thema des Balletts: die alternde Dame und die begehrenswerten Jünglinge… Choreograf John Cranko hat sich da 1970 wirklich was getraut! Das überaus ästhetische Foto, das die sehnsüchtigen Linien des Tänzers zeigt, stammt von Karl-Heinz Riesch

Der russische Komponist Alexander Skrjabin hatte vor Erscheinen seines Orchesterwerks mit dem dramatischen Titel „Poème de l’Extase“ 1908 tatsächlich ein Gedicht mit demselbenTitel verfasst. Darin geht es um Liebe und Freiheit, um große Gefühle in starker Erregung. Symbolismus, Impressionismus und Spätromantik mischen sich darin.

Die musikalische Dichtung des begabten Künstlers – etwa 20 Minuten lang – klingt entsprechend fast nach Richard Strauss und seinen schwallenden Akkordbögen, ist allerdings nicht so dramatisch-rhythmisch zuspitzend. Aber auch Skrjabin experimentiert hier hörbar mit der Auflösung von bis dahin gängigen Konventionen, was Musik angeht.

Man muss John Cranko sowohl bei der Musikwahl als auch bei dem Gesamtunterfangen eines zu Gute halten: Er berührte ein stark tabuisiertes Thema, indes ohne es befriedigend lösen zu können. Von daher ist es kein Wunder, wenn ihn damals nicht jeder verstehen wollte.

Die „Stuttgarter Nachrichten“ etwa orteten, und das war als suspekt gemeint, „Uni-Sex“ (heute würde man sagen: Androgynität, die ältere Frauen und junge Männer oftmals eint). Margot Fonteyn wurde als unpassend empfunden, die Vokabel „zu alt“ fehlt zwar wörtlich, nicht aber sinngemäß, denn angeblich war sie für die akrobatischen Hebungen nicht flexibel genug. Besser kam übrigens beim selben Blatt Marcia Haydée weg, die die Zweitbesetzung tanzte.

Cranko aber wusste genau, was er da anrichtete und was er den schwäbischen Damen und Herren der höheren Gesellschaft, die damals vor allem in die Oper gingen, um mit ihrem Reichtum anzugeben, zumuten konnte. Man hätte es ihm sicher sehr verübelt, wenn er die Diva und den jungen Mann als Paar zusammen geführt hätte. Aber als Spiel mit dem Feuer ohne Brandblasen ließ man es ihm so gerade durchgehen.

Man könnte Cranko sogar unterstellen, dass er die wohlhabenden älteren Damen der Gesellschaft, die ohnehin des öfteren als Fürsprecherinen des Balletts aktiv sind, mit diesem getanzten Traum von der Liebschaft mit der Jugend ganz gezielt für sich vereinnahmen wollte. Sie konnten hier applaudieren, ohne ihr Gesicht zu verlieren, und zuvor konnten sie, im Schutz der Dunkelheit des Zuschauerraums, ihre heimlichsten Fantasien vom Bühnengeschehen anregen lassen.

Dabei gab es zu allen Zeiten Liebespaare, wie sie in der Öffentlichkeit nicht gut gelitten sind! Die ältere Frau und der jüngere Mann sind da auch nach der sexuellen Revolution – die um 1970 noch längst nicht ihren Höhepunkt hatte – nicht selten ein wunder Punkt im Patriarchat geblieben. Bis heute: Denn seit Frauen als emanzipiert gelten, müsste es solche Paare weit öfter geben, als es sie tatsächlich gibt.

Das Stuttgarter Ballett zeigt einen Vierteiler.

Sue Jin Kang als „Schöne“ und Friedemann Vogel als ihr Verehrer – in „Poème de l’Exstase“ 2015 beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

In der aktuellen Wiederaufnahme des brisanten Stücks beim Stuttgarter Ballett tanzt Sue Jin Kang die Hauptrolle, neben ihr der „drehbuchgemäß“ deutlich jüngere Friedemann Vogel. Sue Jin war einst viel beschäftigt als Erste Solistin in Stuttgart, und zusammen mit dem bereits nach Holland zum Het Nationale Ballet abgewanderten Marijn Rademaker war sie eines der besten „Kameliendamen“-Paare, das es überhaupt zu sehen gab.

Seit einem Jahr allerdings tanzt sie kaum noch in Stuttgart (wiewohl sie den Titel der Ersten Solistin dort hält) – denn sie wurde Ballettdirektorin in Seoul, ihrer koreanischen Heimat. Jetzt hat sie mit der Rolle der „Schönen“, wie John Cranko die Diva nennt, ein spektakuläres Coming home to Stuttgart in künstlerischer Hinsicht.

Zweifel kann man allenfalls insofern haben, als die Uraufführung etwa noch einen erotisch-verwegenen Geist atmete und für damalige Verhältnisse ungeheuer lasziv war. Egon Madsen, der den begehrten Jüngling tanzte, trug sein weißes Hemd weit offen und erst in der Taille verknotet, sodass seine muskulöse Männerbrust viel Haut zeigte.

Auf den Pressefotos der heutigen Besetzung wirkt Friedemann Vogel ungleich braver, weniger naturhaft-draufgängerisch, und auch sein Hemd ist darauf längst nicht so freizügig gebunden, wie es bei Madsen der Fall war. Aber der Tanz wird alles retten – die Erotik wird knistern, so die Tanz- und Theatergöttinnen wollen, und die musikalische Leitung wird in den Händen von James Tuggle genau richtig liegen. Tusch! (Es gibt einen phänomenalen Quintenakkord in dem Stück!)

Dagegen wirken die abstrakten modernen Stücke von Jiří Kylián und Hans van Manen, die dem „Liebesdesaster“ von Cranko voran gehen, beinahe ein bisschen langweilig.

„Vergessenes Land“, der Einstiegshappen des Abends, wurde von Kylián 1981 für das Stuttgarter Ballett kreiert. Die Musik stammt hier von Benjamin Britten („Sinfonia da Requiem“), und wie diese Klänge wirken auch das Bühnenbild und die Kostüme von John Macfarlane fast überzogen dramatisch, dabei aber tragisch-düster in der Grundstimmung.

Das Stuttgarter Ballett zeigt einen Vierteiler.

Paare, die sich zwar nicht streiten, deren Miteinander aber nicht unkompliziert ist: In „Vergessenes Land“ von Jiri Kylián zu sehen, beim Stuttgarter Ballett. Foto. Stuttgarter Ballett

Dennoch faszinieren die Gruppenszenen und vor allem die Pas de deux der insgesamt zwölf Tänzerinnen und Tänzer. Inspirierend war für Kylián zum Einen der Gedanke an den Tidenhub, also an den faktisch vorhandenen Unterschied zwischen Ebbe und Flut. Ein Bild einer Küstenlandschaft hatte ihn zum Anderen angeregt, ebenso ein Gemälde des norwegischen Malers Edvard Munch.

Im Wechsel der Gezeiten steht hier nicht die Libido einer Femme fatale, sondern das Auftauchen von Einzelpersonen vor der Folie eines Beziehungsgefüges. Da scheint ein weit über die Bühne gesprungener Herrenspagat alles zu sprengen, was an gefestigten Gefühlen vorher da war. Andererseits hat das auch etwa vom Ablegen alter Fesseln – und auch die Paartänze schwingen hin und her zwischen den Gegensätzen.

Mal geschmeidig, mal hart. Mal langsam, mal schnell. Mal kantig, mal rund. All dies in flottem Wechsel, in steter Harmonie der Paartanzenden, wie immer bei Jiří Kylián. Menschen und Natur, Menschen in Veränderung, Menschen im Gespräch mit der unaufhaltsam verrinnenden Zeit – wer sich auf solche Themenkreise einzulassen vermag, wird hier wohl grandios bedient werden.

Übrigens tanzte Nacho Duato, der später selbst ein genialer Choreograf wurde und heute Ballettintendant in Berlin ist, in seiner Zeit als Tänzer für Kylián in Den Haag beim Nederlands Dans Theater sehr gekonnt in diesem Stück!

Die beiden darauf folgenden Stücke von Hans van Manen sind, ummantelt von diesen beiden „Fasthalbstündern“, die Petitessen des Abends. Der Titel des ersten Minitanzes „Solo“ ist dabei irreführend: Es handelt sich um ein Stück für ein Trio. Es stammt von 1997, die Musik stammt von Johann Sebastian Bach. Sie hat eine gewisse Ironie, einen gewissen Humor, diese Dreiecksbeziehung zwischen einer Frau und zwei Herren. Sie lebt von der Vergänglichkeit und der Huldigung an den Moment, in rasantem Tempo herunterchoreografiert. Diesen Drive muss das Tänzertrio unbedingt bieten!

Das Stuttgarter Ballett zeigt einen Vierteiler.

Bei Hans van Manen geht es immer zwei Schritte vor und einen zurück, bildlich gesprochen: Seine Figuren wollen meist mehr voneinander, als sie schaffen. Foto: Stuttgarter Ballett

Dann folgt noch „Variations for two Couples“, ebenfalls von van Manen, aber zu collagierter Musik, von Benjamin Britten (zum zweiten Mal an diesem Abend) bis zu Astor Piazzola, dem ungekrönten Tango-König am Bandoneon. Maßvolle Erotik ist da zu erwarten, aber nichts, was dem melancholisch-ziselierten Stück von Jiří Kylián zu Beginn des Abends oder dem „fetten Brocken“ von John Cranko am Ende dieses neuen Programms das Wasser reichen könnte.

Noch einmal sei das Wort den „Stuttgarter Nachrichten“ von 1970 erteilt, die bezüglich „Poème de l’Ekstase“ befanden: „Dieses Ballett kann in seinem Charakter als Gesamtkunstwerk nur dann goutiert werden, wenn es perfekt aufgeführt wird.“ Denn: „Es schreit geradezu nach Perfektion.“ Da müsste es ja in Stuttgart noch immer genau am richtigen Ort sein, oder etwa nicht?
Gisela Sonnenburg

Premiere ist am 27. Oktober 2015, weitere Termine: siehe „Spielplan“

www.stuttgarter-ballett.de

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