Der dunkle Wiedergänger Dario Franconi verleiht „Liliom“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett eine dunkle Note

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

Hier tanzt die Premierenbesetzung, auf dem Foto: Anna Polikarpova (die heute Lehrerin an der Ballettschule vom Hamburg Ballett ist) und Carsten Jung, der den „Liliom“ grandios mit starker, burschenhafter Erotik sprich „Mackerattitüde“ tanzt. Foto: Holger Badekow

Die gelben Plakate, die zu Beginn das einzig Auffallende im Bühnenbild sind, tragen sein Konterfei: „Mr Liliom – Carrousel King“ steht drauf. Dario Franconi zieht da ein geheimnisvolles Gesicht, ein bisschen schurkenhaft-verschlagen wirkt es, und so legt er auch den „Liliom“, den Titelhelden von John Neumeiers 2011 uraufgeführtem Politballett an. Dunkler ist er als sein Kollege Carsten Jung, der die Rolle kreierte. Und „dunkler“ bezieht sich keineswegs nur auf die Haarfarbe und den Teint. Franconi hat dieses Mysteriös-Düstere, das aus dem jahrmarktschreienden Absteiger Liliom (den es als Typ schon im 1909 publizierten, gleichnamigen Theaterstück von Ferenc Molnár gibt) einen Macho mit Latin-lover-Flair macht. Tatsächlich mag schon allein die Herkunft des Ballettsolisten Franconi – er wurde 1977 als Argentinier geboren – dazu beitragen. Der Tango und dessen passionierte Konnotationen liegen ihm halt im Blut. Aber es ist auch das Schauspielerisch-Gestische, das Franconi von anderen unterscheidet. Nicht, dass seine Bandbreite enorm groß wäre. Aber er hat etwas Laszives, Undurchsichtiges im Blick, in den tief liegenden Augen. Und dazu etwas Verschmitzt-Verwegenes in den Zügen um den Mund. Das ist genau richtig für einen schrägen Vogel wie Liliom, der in „Playland“, dem amerikanischen Vergnügungspark der 30er Jahre, die Damenwelt aufscheucht und mit seinem Fluidum verwirrt wie kein zweiter.

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

Der gebürtige Argentinier Dario Franconi tanzt seit 2006 als Solist beim Hamburg Ballett – der „Liliom“ ist seine erste Titelrolle. Foto: Holger Badekow

Das Ballett ist ein Rundumschlag: vom Diesseits ins Jenseits, vom Tragischen ins Komödiantische, vom Amerikanisch-Kitschigen ins Europäisch-Innige. Liliom ist der heiß umworbene Macker in seinem Umfeld, alle Mädchen schwärmen für ihn, und er ist „natürlich“ der Geliebte der Karussellbesitzerin Frau Muskat, seiner Chefin. All das findet sich mitten in der Weltwirtschaftskrise, die alle unter Druck setzt und die Macht der Chefs, auch der Chefinnen, verschärft. Ist Liliom nun der allzeit bereite Sklave seiner Arbeitgeberin oder nur ihr Gelegenheitsliebhaber? Mal so, mal so, möchte man meinen, eine solide Basis haben sie jedenfalls nicht zusammen – was die beiden dennoch verbindet, ist nicht nur die Erotik, sondern auch der oberflächliche Glanz, den das Leben als Schausteller auf die Persönlichkeit abfärbt.

Frau Muskat wird in dieser Besetzung von Patricia Friza getanzt, die somit aus der Babypause zurück auf der Bühne ist. Welcome back! Mit schöner Lüsternheit und zackigem Hüftschwung zeigt La Friza, dass ihre Frau Muskat sowohl ein liebeshungriger Vamp als auch eine kühl rechnende Geschäftsfrau ist. Wie sie den eitlen Liliom für ihre Zwecke benutzen kann, ist perfide und fein zugleich gezeichnet – absolut sehenswert!

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

Patricia Friza, Tochter der österreichischen Primaballerina Lilly Scheuermann, agiert verführerisch und dennoch dominant als Frau Muskat in „Liliom“ beim Hamburg Ballett. Die Rolle ist ihr Comeback aus der Babypause. Foto: Holger Badekow

Aber Liliom spürt, dass es da noch was anderes im Leben geben muss. Prompt verliebt er sich, in die arglose Julie, von Hélène Bouchet mit großartiger, eigenwilliger Haltung verkörpert. Die Partie wurde ja von Neumeier einst seiner Londoner „Gastmuse“ Alina Cojocaru auf den Leib choreografiert. Und Cojocaru tanzt die Julie besonders lieblich, sie ist ein niedliches, süßes, sehr gefälliges Weibchen darin. Doch La Bouchet holt mit ihren überschlanken Beinen und ihrem keck-kantigen Mädchencharme noch ganz was anderes aus der Rolle raus: Eigensinn.

Die Eigenwilligkeit einer jungen Frau, die sich einen Mann nimmt, der dadurch seinen Job verliert – denn natürlich kündigt Frau Muskat dem Untreuen umgehend – hat bei Hélène Bouchet die Anmutung der Verzweiflung zur letzten Tat. Sie sieht Liliom, sie verfällt ihm – und obwohl er da noch auch für Julie offenkundig mit der Muskat liiert ist, lächelt Julie jenes kirres Grinsen, das nur bis zur Selbstaufgabe Verliebten zuzuschreiben ist. Das Risiko, das sie selbst einzugehen bereit ist, überträgt sie auf ihren Geliebten – und tatsächlich erfasst der Strudel des sozialen Abstiegs die beiden.

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

Hélène Bouchet tanzt die Julie mit starkem Eigenwillen – zu sehen in „Liliom“ beim Hamburg Ballett in der Zweitbesetzung. Foto: Holger Badekow

Als Julie schwanger ist, befindet sich Liliom bereits auf der schiefen Bahn. Die Frustration seiner anhaltenden Arbeitslosigkeit und, damit verbunden, des Mangels an Aufmerksamkeit hat ihn zu einem unberechenbaren Choleriker gemacht. Dario Franconi spielt das sehr überzeugend, und Hélène Bouchet als seine feste Freundin Julie mutiert denn auch rasch zum eingeschüchterten Hausmütterchen. Häusliche Gewalt – nicht eben häufig ein Thema im Ballett – wird hier, als schreckliche „Zutat“ zum normalen Leben, mit Aktionen wie dem wütenden Umschmeißen eines Stuhls dargestellt, weniger mit tänzerischen Mitteln.

Aber als Julie die Hand von Liliom ergreift und auf ihren Bauch legt – da sind alle Bedenken der beiden im Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft vergessen. Natürlich ist diese Pseudoromantik ein Fehler im Programm der beiden, ebenso, wie sie ein Fehler in vielen an sich schon zerrütteten realen Partnerschaften ist, die mit einem Kind gekittet werden sollen.

So nimmt das Übel seinen Lauf. Liliom wird auch außer Haus kriminell, lässt sich von seinem Freund Fiscur dazu verführen. Und es ist köstlich anzusehen, wie Marc Jubete als Fiscur einen mackigen, durchgeknallten, zerstörerischen Kleinkriminellen spielt. Er zuckt mit der Schulter, verzieht sein Gesicht, und der ganze ruckartig vor- und seitwärts geschobene Körper scheint in Wellen verbergen zu wollen, was im Geist dieses verdorbenen Menschen vor sich geht oder auch nicht. Toll!

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

John Neumeier kreierte mit Carsten Jung die Rolle des „Liliom“ – im vierten Quartal des Jahres 2012, in dessen Dezember de Uraufführung beim Hamburg Ballett war. Foto: Holger Badekow

Mit abgefeimter Miene überredet Fiscur denn auch seinen Kumpel Liliom zu einem Überfall – auf die blechglamouröse, nun nicht nur gehörnte, sondern auch noch geschockte Frau Muskat. Die Arme erschreckt sich, als die beiden auf sie einstürmen und ihr brachial die Tasche mit den Tageseinnahmen und sogar ihr Collier vom Hals entreißen. Sie kann sich aber gerade noch zur Wehr setzen – und als Liliom ihr sein lächerlich wirkendes Taschenmesser ungelenk an die Kehle hält, taucht auch schon die Polizei auf. Pfiffe, Schüsse, diese Verbrecherkarriere war kurz – Liliom sitzt in der Falle, wörtlich auf dem Esstisch einer Hochzeitsgesellschaft tanzend, von Polizisten mit gezückter Waffe umzingelt.

Er ersticht sich. Dramatisch, gekonnt, banal. Er sinkt nieder, liegt auf dem weißen Tischtuch, so selbstverständlich, als sei’s von vornherein als sein Leichentuch bestimmt.

Dario Franconi vollführt das mit einer inneren Notwendigkeit, die absolut glaubhaft ist. Er stirbt schlicht, aber authentisch. Und als Julie alias Hélène Bouchet seine Hand nimmt, sie an ihre Stirn hält und so einen vorerst letzten Pas de deux mit Liliom beginnt, da ist es, als seien die beiden bereits in einer jenseitigen Sphäre angekommen – von allen Sorgen ums Weiterleben entbunden und nurmehr in der Zweisamkeit sich selbst empfindend.

Aber auch Frau Muskat, die triebbestimmte Femme fatale, und ihre rein sexuelle Liebe zu Liliom bekommen noch ein paar Takte rauschhafte Musik (von Michel Legrand, dem großartigen französischen Filmmusik- und Jazzkomponisten, der das Ballett für Neumeier komponierte).

Ein schönes Solo legt Patricia Friza da hin. Die Tochter der Wiener Primaballerina Lilly Scheuermann zeigt vorzüglich das Abschiednehmen vom Geliebten, die Trauer um die Lust, aber auch das Schuldgefühl, das die aberwitzige Situation erfordert.

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

Ein Quartett, das Realität und Traum auf vielschichtige Art und Weise verbindet: Sasha Riva (mit den Luftballons), Alina Cojocaru (im blauen Kleid), Alexi Martínez (hinter Cojocaru) und Carsten Jung (ganz hinten) bei den Proben im Ballettzentrum des Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Der Rest ist Legende. Liliom fährt zur Hölle, wird vom „Mann mit den Luftballons“ dorthin geführt. Wunderbar melancholisch und in seinen Balancen (bei seitlich weit empor gehobenem, leicht geknicktem Bein) kaum zu toppen ist Sasha Riva als Luftballon-Mann. In dieser Szene brilliert er ganz in Weiß, auch mit weißen Ballons, ist ein Todesengel und Totenclown in eins.

Edvin Revazov als „Konzipist im Jenseits“ ist dann eine Nummer für sich. Man kann sich wirklich daran ergötzen, wie er mit gegeltem Haar und im knallweißen Satinanzug den Sachverwalter der ganz besonderen Art gibt. Da rutscht er auf dem Schreibtisch umher, brütet Ideen für die Organisation der Hölle aus, versucht Ordnung ins Chaos zu bringen – als smarter Gott und bemühter Teufel in einer Person. Die Doppeldeutigkeit, auch Janusköpfigkeit seiner fiktiven Figuren ist bei John Neumeier stets von Bedeutung.

Dass Liliom dann nach vielen Jahren noch einmal zurück zur Erde, zu seiner Familie, darf, mutet zwar an wie ein Wunder. Dass erneut alles schief geht, er wieder ausfällig und gewalttätig wird, ist hingegen weniger mirakulös. Der dunkle Wiedergänger kann auch die zweite Chance nicht nutzen – als Moral von der Geschicht’ ist das zwar vom Urlibretto des Theaterstücks so vorgegeben, aber durchaus schwer auf der Bühne zu zelebrieren, zumal im Ballett. Dario Franconi und Hélène Bouchet gelingt es dennoch, teils auch als Trio mit Aleix Martínez (als Sohn Louis), der Fatalität der Geschichte etwas Zauberhaft-Magisches einzuhauchen.

"Liliom" in einer neuen Besetzung!

Hier noch einmal die Premierenbesetzung: Alina Cojocaru als Julie und Carsten Jung als ihr „Liliom“. Foto: Holger Badekow

Was sich beim ersten Pas de deux dieses schwierigen Liebespaares – dem Pas de deux mit Parkbank – innerhalb einer guten Viertelstunde an Beziehungsreichtum aufgebaut hat, wird jetzt, am Endpunkt des Stücks, als Konzentrat und Kontrapunkt noch einmal gezeigt. Legte Liliom am Ende des ersten Paartanzes seinen Kopf in den Schoß der Geliebten, so steht er jetzt – geisterhaft – hinter ihr auf der Bank, während sie auf der Kante zur Seite sitzt. Zu Beginn kam er zu ihr, jetzt ist er im Begriff zu gehen.

Ihre Arme treffen sich aber noch einmal in der Luft, tanzen miteinander, ohne dass Franconi und Bouchet sich ansehen. Da ist sein Kuss in akrobatisch-eleganter Pose, ihren Mund von oben treffend, ein sanfter Höhepunkt – eine einmalige Sache, unwiederholbar. Der Abschied der beiden für immer steht kurz bevor, bis zur nächsten Vorstellung in dieser Besetzung.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“ (Dario Franconi noch einmal heute, am 28.10.15, als Liliom, am 31.10. dann als Fiscur)

Es gab im übrigen weder eine Pressekarte noch aktuelle oder wenigstens ergänzende Szenenfotos vom Hamburg Ballett für diesen Bericht – wiewohl dieses ohne großen Aufwand möglich gewesen wäre. 

Weitere Berichte zu „Liliom“ (auch in der Premierenbesetzung):

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-liliom-neumeier/

 www.hamburgballett.de

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