Wer sagt denn, dass Tanzkünstler sich mit den Wissenschaften nicht auskennen? Die ersten zwanzig Stellen der Zahl „Pi“ kennt der vielseitig begabte New Yorker Choreograf Miro Magliore auswendig. Sie sind in seinem Gedächtnis von einer Wette übrig geblieben, die er einst mit seinem Mathematiklehrer abschloss. Der Schüler Miro gewann damals, indem er sich die ersten hundert Einzelzahlen von Pi merken konnte. Das war damals übrigens in Deutschland, denn Magliore wurde in München geboren und studierte in Köln zunächst Komposition, bei keinem Geringeren als bei Mauricio Kagel. Doch dann erfasste ihn die Liebe zum Tanz. Und die blieb. In New York City nahm er Unterricht, und dort gründete er auch, vor fast zwanzig Jahren, sein eigenes Ensemble: das New Chamber Ballet (NCB), das Neue Kammerballett. Es entstand aufgrund Magliores Überzeugung, „dass große Kunst am besten im Kleinen gedeiht.“ Sein künstlerisches Konzept umfasst modernes Ballett im Verein mit zeitgenössischer, anspruchsvoller Musik: an Orten, die es zulassen, dass das Publikum intim nah an der Tanzfläche und am besten um sie herum sitzen kann. Mit dem Stück „Pi“, das sich bei näherem Hinsehen als Gesamtkunstwerk aus Kunst, Tanz und Musik entpuppt, war das NCB jetzt in Deutschland zu sehen. Zunächst in Magdeburg, und zwar im Kunstmuseum, einem ehemaligen Kloster, und dann in Berlin, dort wiederum im Kulturstall des ehemaligen Ritterguts Schloss Britz im Süden der Stadt, wo sich Natur und Kultur intensiv und harmonisch begegnen.
Ein Park mit Rosengarten und viel Grün, ein vornehmes, barockes Gutshaus aus dem frühen 18. Jahrhundert, zünftige Nebengebäude aus gelbem Ziegel sowie tierwirtschaftliche Anlagen machen den Charme vom Schloss und Gutshof Britz aus: Historische Nutztier-Rassen werden hier gehegt und gepflegt, von attraktiven Pferden über langbärtige weiße Ziegen bis zu schwarzköpfigen Schafen, Auerochsen und Milchkühen. Bienen gibt es extra, etwas weiter entfernt.
Die Kulturstiftung Schloss Britz kümmert sich um Kinder- und Erwachsenenbildung, hat vielfältige klassische Konzerte, Aufführungen, Crossover-Events im Programm.
Sonntagsmittags gibt es übrigens, wie sonst nur nach Anmeldung, reguläre Führungen durchs Gelände, die sich lohnen. Ein Restaurant mit Garten lädt zum weiteren Verweilen ein. Insgesamt ist es ein Geheimtipp, der Ruhe und Konzentration im quirligen, oft überbevölkerten Berlin verheißt. Mit dem Bus ist das Schloss Britz auch gut zu erreichen. Und: Die Anlage ist übersichtlich und keinesfalls so groß, dass man sich darin leicht verlaufen könnte. Gepflegte Parkbänke – wo gibt es die sonst noch in Berlin? – runden das Spaziergängerglück ab.
Aber am Samstagabend lag zudem noch ein besonderer Zauber über dem Gut.
Die hell-bunte Kuh beginnt kurz vor Aufführungsbeginn schon mal zu kalben, und eine Palomino-Stute gegenüber ist auch schon trächtig. Die erstere sucht mit großen Augen Beistand, die letztere kommt angetrabt, um schon mal willige Paten für ihr erwartetes Fohlen zu finden.
Im Rosengarten am anderen Ende vom Gelände duftet es derweil nach Teerosen, das Grün vom Rasen leuchtet satt und kräftig.
Unverkennbar regiert der Frühsommer in Britz, das übrigens seit dem 12. Jahrhundert besiedelt ist und für seinen fruchtbaren Boden oft gelobt wurde.
In dieses modern-historische Idyll passt der angesagte tänzerische Gruß aus Übersee: Das New Chamber Ballet tanzt im so genannten Kulturstall vom Schloss das Gesamtkunstwerk „Pi“, benannt nach der mathematischen Einheit 3,14.
Diese Zahl findet bekanntlich kein Ende. 62,8 Billionen Stellen wurden nach dem Komma schon ermittelt, als vorläufiges Ergebnis. Berechnet wird Pi, indem man den Umfang eines Kreises durch seinen Durchmesser teilt. Damit beginnt das Mysterium.
Das Publikum sitzt an allen Seiten der Tanzfläche. Weil das Tanzfeld hell leuchtet, ist die Atmosphäre anregend sakral. Zeichnungen werden dorthin projiziert, wo die fünf Tänzerinnen ihre Körperkunst ausüben werden. Auch später sind Momente der optischen Ruhe eingeplant, in denen die bildende Kunst und die Musik ohne Tanz auf die Zuschauenden einwirken.
Der Künstler Korvin Reich legt Wert darauf, dass seine Werke händisch entstehen. Im Original mit bis zu zwei Metern Höhe. Das erste Bild zeigt geschwungene Linien, die nummerierten Kugeln verbinden. Zum Beispiel 62, 63, 45, 10 – und eine hellblaue Kugel trägt die Ziffer 3. Der Clou daran: Das Bild ist Pi, denn mithilfe einer ausgetüftelten Farbgebung plus Nummerierung stellen die weiteren Kugeln die Stellen nach dem Komma dar. Blau steht darin immer für die Ziffer 3, Weiß für die 1 und Dunkelgelb für die 4. Einfach kompliziert – und schön kryptisch.
Korvin Reich, 1970 gebürtig in Niedersachsen, hat an der Universität der Künste in Berlin studiert und war Meisterschüler der Karl-Hofer-Gesellschaft. Zeitgleich begann er aber auch als Lyriker eine professionelle Tätigkeit. Für ihn ist das Zeichnen dennoch eine existenzialistisch-künstlerische Angelegenheit, die separiert von seiner Wortkunst steht.
Kreise spielen, im Kontrast zu geraden und eckigen Linien, in Reichs Arbeiten für „Pi“ eine besondere Rolle. Farbe setzt er nur sehr sparsam ein; die meisten der projizierten Blätter sind dem Eindruck nach in Schwarzweiß gehalten.
Manchmal erinnern die Schraffuren mit ihrer eleganten Linienführung dennoch an die Zeichnungen von Vaslav Nijinsky, jenem Tänzer aller Tänzer und innovativen Choreografen, der aufgrund schwerer mentaler Erkrankung in seinen letzten Lebensjahrzehnten bis zu seinem Tod 1950 nur noch zeichnete, aber nicht mehr tänzerisch arbeiten konnte.
„Pi“ lässt einem Zeit, auch über all die Verstorbenen, die man kannte oder auch nicht, nachzudenken. Denn auch deren Zahl wächst unweigerlich unendlich – und ist gerade in den schrecklichen Zeiten der großen Kriege nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis zu verbannen.
Das Bild wechselt, die Musik hebt an: ein Surren, Brummen, Bimmeln, Dröhnen beginnt. Konsequent wirkt ein tiefer Grundton, fast wie von einem Bass.
Caspar René Hirschfeld, der in Dresden unter anderem Komposition und Klavier studierte, schuf mit „Pi“ ein komplexes, elektronisches Werk, dessen Sounds mal an Naturlaute, mal an technische Geräusche erinnern.
Hirschfeld, der auch schon mit Thomas Hartmann in Dresden Ballette zur Uraufführung brachte, wähnt sich von Henze, Messiaen und Lutoslawski beeinflusst. Der heute 58-Jährige hat sich speziell mit Mathematik beschäftigt, als er den Auftrag annahm, für das New Chamber Ballet die Pi-Musik zu komponieren.
In seiner frühen Jugend wollte er kurzzeitig Mathematik studieren, und daran erinnerte er sich jetzt. Der absolute Klang in der Musik ist für ihn der der absoluten Abstraktion.
Dennoch lassen viele Passagen in der elektronischen Collage Raum für ganz konkrete Assoziationen: an Glockenklang und Flugzeugdröhnen, ans Sirren von technischen Geräten oder auch an naturhafte Laute wie aus einem exotischen Urwald. Sie bezaubern und bedrängen das Ohr zugleich. Manche Klänge sind schwebend, andere wiederum bilden ein dunkles, kontinuierlich erscheinendes Muster, fast wie ein Leitfaden.
Zwei Tänzerinnen betreten die Spielfläche: weiß gewandet, weiße Turnschuhe tragend. Sie wirken so surreal wie Neuausgaben von Barbarella. Abwechselnd tanzen sie im Stehen, lassen ihre Partnerin, am Boden liegend, einen Fuß von sich festhalten. Als könne man beim anmutigen Tanz leicht fortgeweht werden.
Zwei andere Protagonistinnen führen das Miteinander fort. Eine von ihnen zeigt ein makelloses Penché, also einen vertikalen Spagat. Eine dritte Frau in Weiß kommt, tanzt ein Solo. Anmutig und elastisch-elegant sind die Bewegungen, doch niemals wird gesprungen. Es gibt ästhetische Posen, die lange gehalten werden, aber keine ruckhaften, zackigen Gesten. Der Stil ist entschieden soft.
In der Tanzgeschichte gibt es seit 1928 Frauen in hellen Bodysuits, die moderne Elfen oder Feen verkörpern. Léonide Massine hat sie für sein Stück „Ode“ bei den Ballets Russes – bei denen auch Vaslav Nijinsky wirkte – erfunden. Max Reinhardt hat wenige Jahre später nach diesem Muster seine Titania im Film „Ein Sommernachtstraum“ geschmiedet, welche wiederum für John Neumeier 1977 mit seinem „Sommernachtstraum“-Ballett das Vorbild war. Seither haben Choreografen wie Heinz Spoerli, Merce Cunningham, Glen Tetley und Christopher Wheeldon diesen Look variiert.
Miro Magliore, der Macher und Choreograf vom New Chamber Ballet, umarmt diese Tradition und führt sie weiter, indem er seinen Ballerinen die Anmutung zeitlos-edelmütiger, fast überirdischer Wesen verleiht. Sie heben einander, drehen sich, gehen langsam und lautlos zu Boden, stehen wieder auf.
Geometrische Formen, Kreise, Winkel, Linien – auf ihre Nachbildung mit den schönen Körpern legt Magliore mit großer Akkuratesse viel Wert. Die Natur des Tanzes entspricht hier der Natur der Mathematik: Logik und Gefühl vereinen sich.
Die Tänzerinnen haben trotz der klinisch-weißen Leotards und der darüber gezogenen schlichten Shirts eine mädchenhafte, auch warmherzige Ausstrahlung.
Anabel Alpert, Megan Foley, Nicole McGinnis, Amber Neff und Rachele Perla verfügen über genügend Tanztechnik und Persönlichkeit, um im kleinen Rahmen ausdrucksstark zu wirken.
Wie in einem Sog erfühlt man ihre Welt: einen Kosmos ohne Neid und Hass, in dem Zuneigung das Grundgefühl bildet.
Verstärkt wird dies, als die Musik und Projektionen gegen den Plan teils zusammenbrechen. Die jungen Damen tanzen trotz der Panne einfach weiter, gleichmäßig und souverän. Und siehe: Auch die Stille ist ein guter Partner, wenn man sie zu nehmen weiß.
Später sorgen bunte Kreise für die Erinnerung an Pi. Eine Tänzerin legt sich auf den vorgestreckten Rücken der anderen, dann stehen sie Rücken an Rücken, einander Halt gebend. Pi scheint auch eine soziale Größe zu sein.
Für den Komponisten Carsten René Hirschfeld ist ohnehin klar: Mathematik ist eine Geisteswissenschaft. Philosophischer Zuschlag inklusive. Ein gutes halbes Jahr lang hat er in Wernigerode im Harz, wo er lebt, an „Pi“ gearbeitet, bevor sein Werk nach New York ging. Die deutsche Erstaufführung von „Pi“ fand dann letzte Woche in Magdeburg statt.
Somnambul heben und senken die Tänzerinnen ihre Arme, Köpfe, Beine. Die Zeichnungen von Korvin Reich werden scharfkantig, bekommen harte Kontraste.
Dualität zeigt sich in schwarzen Formationen, die mal wie ein Labyrinth, mal wie ein Abgrund wirken. Doch dann bröckelt das Bild, es zerfällt, löst sich auf. Übrig bleiben die Tänzerinnen, zart und dennoch stark.
Choreograf Magliore sagt es so: „Beim Thema ‚Mensch und Technologie‘ hat sich zum Glück herausgestellt, dass auf den Menschen mehr Verlass ist.“ Das Rätsel Pi scheint somit fast gelöst. Und draußen lernt das neu geborene Kalb gerade gehen.
Natur und Kultur, Kunst und Wissenschaft, letztlich auch die künstlerische Energie drinnen und die Lebenskraft draußen bildeten hier eine Einheit, wie sie wirklich rar geworden ist. Bravi!
Gisela Sonnenburg