Im Herzen immer jung John Neumeier wird morgen 78,0027 Jahre alt – kein Grund, sich aufzuregen, aber einer, ihm und uns zu gratulieren

John Neumeier wird 78

John Neumeier an seinem Arbeitsplatz, im Ballettsaal in Hamburg: ein absoluter Ausnahmekünstler! Foto: Holger Badekow

Im Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier stand ein langer, weißer Tisch voller Geschenke und Blumen zum Geburtstag. Wie ein vornehmes Büffet aus bunten Gratulationen sah das aus! Dort stellte man seine mitgebrachte Gabe einfach dazu. Viele Gäste kamen aber auch mit einer roten Baccara-Rose und stellten sie in eine riesige Sammelvase. Sodass sich sozusagen ein Mega-Blumenstrauß ergab. In den Studios wurde nicht langweilig oder gar steif gefeiert, sondern getanzt: Es gab mal quirlige, mal berührende Kostproben von Neumeiers Choreografie-Kunst zu sehen, von seinen Tänzern wie von den Ballettschülern interpretiert. Und wie nebenbei traf sich auf den Gängen mit den Gratulanten auch die Crème de la Crème der Ballettszene: von der in schwarzen Lackpumps sehr feminin stolzierenden Birgit Keil über ehemalige Mitarbeiter von Neumeier – wie Barbara Hering (die ihm mal eine fabelhafte Dramaturgin war) – bis hin zu Dutzenden von glamourösen Ballerinen und Ballerini, Ballettdirektoren und Choreogafen, deren Namen hier nicht alle aufgezählt werden können. Am Ausgang lag außerdem ein großer Zeitungsstapel, der im Laufe des Tages bestimmungsgemäß immer kleiner wurde: Jeder Gast durfte sich ein aktuelles Exemplar der ostdeutschen Tageszeitung Neues Deutschland aus Berlin mitnehmen, welches ein großes Portrait des Ballettdoyens vom Hamburg Ballett enthielt. „Der ehrliche Schamane“ hatte ich, die Autorin jener Würdigung, sie übertitelt, und der damals gefeierte Geburtstag von John Neumeier war sein 60.: man schrieb den 24. Februar 2002.

Heute ist alles ganz anders. Dieses Jahr hat Neumeier auf das Feiern seines 75. Geburtstages verzichtet, um das Publikum mit einer schamanenhaft großartigen, ehrlichen Botschaft zu erfreuen: Er outete sich vor wenigen Tagen als jemand, der sich zu Beginn seiner Karriere um drei Jahre jünger machte, um nicht drastisch benachteiligt zu werden.

Man könnte meinen, das Ballett-Journal habe diese Offenheit angeregt; im Beitrag „Gucken wie Angela Merkel“, der vor wenigen Wochen hier erschien, lege ich nämlich dar, dass es ein großer Unterschied ist, ob ein junger Künstler sich mit einer kleinen Lüge bezüglich seines Alters vor Diskriminierung schützen muss, oder ob eine gealterte Diva aus reiner Eitelkeit plötzlich ein paar Lebenslenze zu verschweigen sucht.

John Neumeier wird 78

Beim Bildergoogeln kennt das Internet viele schöne Gesichter von John Neumeier, dem Intendanten des Hamburg Ballett. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Im Fall des Tanzstudenten Neumeier war es eindeutig Notwehr. Die Royal Ballet School in London hätte den jungen Amerikaner sonst 1962 womöglich abgewiesen. Und damit den heute größten lebenden Choreografen – der zudem für viele Kulturkenner der bedeutendste Künstler überhaupt ist – aus der Ballettwelt einfach ausgesperrt. Eine grauenhafte Vorstellung, und man muss John Neumeier dankbar dafür sein, dass er damals das Risiko einging, ein bisschen zu schwindeln.

Insider und aufmerksame Beobachter der Medienszene wussten indes schon seit 2012, dass der Jahrgang 1939 für Neumeier wahrscheinlicher ist als der von 1942: Seine katholische Kirchengemeinde in Hamburg hatte damals – ohne nachzudenken – öffentlich zum „falschen“ Geburtstag gratuliert. Mir erschien, wenn ich das anfügen darf, das Jahr 1939 schon deshalb für Neumeier passender, weil er somit im Chinesischen Horoskop in das Sternzeichen der Katze (bzw. des Hasen) fällt. Sehr passend für ihn. Sonst wäre er hingegen ein Pferd, was mit seiner hohen Sensibilität überhaupt nicht zu vereinbaren ist.

Nach ersten choreografischen Inszenierungen auf dem College, nach den erwähnten Studien und dem Militärdienst arbeitete John Neumeier an seiner Tänzerkarriere. Klassik und Modernes gingen bei ihm dabei zusammen; die berühmteste seiner Lehrerinnen war Vera Volkova, die ihm einige Stunden Einzelunterricht in Kopenhagen erteilte. Für ein leider nur auf Englisch erschienenes Buch über sie („Vera Volkova – A Biography“ von Alexander Meinertz) verfasste Neumeier das Vorwort – und beschreibt darin, wie Volkova ihn das Cou de pied lehrte, indem sie gefühlvoll ihren eigenen Fuß um den Knöchel des Studenten legte.

Marcia Haydée entdeckte Neumeier dann in London und holte ihn zu John Crankos Truppe nach Stuttgart. Cranko vertraute Haydée mit gutem Grund, was die Talentsuche anging. In der schwäbischen Metropole erlebte Neumeier das, was man das „Stuttgarter Ballettwunder“ nannte und was er später als „Hamburger Ballettwunder“ selbst entfachte – und er reüssierte nicht nur als Solist, sondern auch früh als Choreograf. Die Noverre Gesellschaft bot damals jungen Tanzkreativen in Stuttgart die Möglichkeit, Uraufführungen zu zeigen.

John Neumeier wird 78

Und noch ein Blick ins Internet, auf die Vielfalt der Fotos, die sich beim Bildergoogeln von John Neumeier finden… Faksimile: Gisela Sonnenburg

In Frankfurt am Main nahm Neumeier nach ersten Erfolgen alsbald sein erstes Direktorat an – und seit 1973 pflegt er das Hamburg Ballett (das zunächst noch Ballett der Hamburgischen Staatsoper hieß). Seit 1996 ist er nicht mehr nur dessen Direktor, sondern auch dessen Intendant, was heißt, dass er seinen Vertrag direkt mit der Stadt Hamburg macht und somit seither nicht mehr einem Opernintendanten untersteht.

John Neumeier baute seine Truppe zu einer der wichtigsten Ballettcompagnien der Welt aus und leistet kontinuierlich sensationelle Uraufführungen.

Ein Sommernachtstraum“, „Dornröschen“, „Matthäus-Passion“, „Liliom“, vorerst zuletzt „Das Lied von der Erde“ – hier könnte man jetzt über hundertfünfzig weitere Ballett-Titel nennen, aber das würde den Rahmen hier doch sprengen. Buh-Rufe hat er nur selten ertragen müssen – Standing Ovations hingegen verwöhnen den Künstler und auch Geschäftsmann John Neumeier nachgerade ständig, in Hamburg wie auch an den vielen anderen internationalen Ballett-Orten, an denen er wirkt. Paris, Wien, Moskau, Kopenhagen, New York, Boston, Chicago, Peking, Tokyo…

Die Beliebtheit Neumeiers basiert auf all seinen Werken, aber auch auf seiner Befähigung, über Kunst zu referieren und zu kommunizieren. Seine „Ballett-Werkstätte“ sind oft kopiert und nie erreicht worden; seine Interaktionen mit anderen Künstlern und mit gesellschaftlichen Institutionen sind legendär. Von Leonard Bernstein über Michel Legrand und Lera Auerbach bis zu Kent Nagano, was die Musikwelt angeht. Von Jürgen Rose über Peter Schmidt und Jil Sander bis zu Ferdinand Wögerbauer, was die Ausstattung angeht.

Politik und Wirtschaft, sonst oftmals eher kulturscheu, drängen sich, so hat man den Eindruck, danach, seine Arbeit zu unterstützen – wieviel geduldiges Networking des Grand Seigneurs da hinter den Kulissen von nöten ist, bleibt unerkannt.

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Ein prominentes Paar, auch beim Bildergoogeln keine Seltenheit im Internet: John Neumeier, Ballettchef, und Hermann Reichenspurner, Herzchirurg. Das Thema Herz verbindet sie… Faksimile: Gisela Sonnenburg

Mit seinem Lebenspartner, dem Herzchirurgen Hermann Reichenspurner, hat Neumeier zudem zwar erst relativ spät – erst in diesem Millennium – aber mit großem Glück eine Seele gefunden, die ihn versteht und ihn in all seiner Besessenheit von der Kunst zu halten weiß.

Das Herz, als Antrieb des Lebens und der Liebe verstanden, verbindet beide auch in ihren Berufen miteinander, beide üben sozusagen Operationen am offenen Herzen aus: Reichenspurner wörtlich im OP am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Neumeier im metaphorischen Sinn durch seine Kunst.

Und mit Preisen, ach!, mit Preisen hat man Neumeier regelrecht überhäuft, allein dieses Jahr prasselten schon mehrere nennenswerte Auszeichnungen auf ihn herab. Vielleicht spricht das für sich: Ich wüsste keinen anderen Menschen, zumal nicht aus dem Ballett, der wie Neumeier rund 200 Ehrungen und Auszeichnungen aus aller Welt erhielt.

Dabei war er zunächst gerade kein rundum geförderter Eliteschüler, sondern ein Außenseiter, dessen Stipendium beinhaltete, dass er den Boden des Ballettsaals putzen sollte. Der Kapitänssohn aus dem amerikanischen Milwaukee kam so gerade eben hinein in diese „geschlossene Gesellschaft“, als die man das internationale Ballett auch manchmal bezeichnet. Dass Neumeier seine beispiellose Karriere mit einer Notlüge beginnen musste, spricht da für sich.

Ein Grundsatzproblem: Kann man junge Leute guten Gewissens wegen drei Jahren Altersabweichung von der gewünschten Norm ablehnen? Sollte man nicht vielmehr Ausnahmen machen, wann immer man kann, zumal, wenn man Talent und Strebsamkeit erkennt?

 

John Neumeier wird 78

Ein tolles Paar: John Neumeier und Hermann Reichenspurner an Neumeiers 78. Geburtstag im Internet beim Bildergoogeln. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Neumeiers Lebensweg rührt an einen wunden Punkt im Betriebssystem Ballett: Äußerlichkeiten und Formalitäten wie eben das Geburtsdatum werden da doch noch oftmals überschätzt. Der Mangel an heute jungen choreografischen Genies mag damit auch zusammen hängen, dass man die Mädchen und Jungen immer jünger und immer aufwändiger zu Profi-Tänzern nach den Maßstäben der Hochleistungstechnik ausbildet, ungeachtet der Tatsache, dass in der Teenager- und der Twenzeit wichtige intellektuelle Weichen gestellt werden.

Wenn Jugendliche aber nicht, wie damals John Neumeier, zunächst auch viel Zeit mit anderen Themen als mit Tanz verbringen können, reicht es später nicht, um inhaltsvolle Ballette zu kreieren.

So fällt auf, dass Glen Tetley, John Cranko und eben John Neumeier relativ spät zum Profi-Tanz kamen. Neumeier studierte vorher Literatur, Theater, Malerei – er inhalierte sozusagen Kultur, nachdem er zuvor auch noch seinen Militärdienst abgeleistet hatte.

Als er in den Endspurt seiner Ballettausbildung kam, war Neumeier nicht nur hoch begabt – sondern verfügte auch über eine Lebenserfahrung, die vielen anderen, die als pure Ballettkinder groß werden, völlig abgeht. Von daher wird es kein Zufall sein, dass es gerade John Neumeier ist, der die Poesie und die Kraft des Tanzes mit vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen zu vernetzen weiß.

Es ist die Zeit der Jugend, die die Menschen prägt, und in der die Grundsteine auch im geistigen Feld gelegt werden. John Neumeier bleibt im Herzen immer so jung und frisch, wie uns seine Ballette entgegen kommen – da spielen drei Jahre mehr oder weniger an Welterfahrung eher keine Rolle.

John Neumeier wird 78

John Neumeier 2017 – natürlich sieht er viel jünger aus, als er ist, und natürlich verströmt er ein unvergleichliches Fluidum! Auch auf dem Foto von Kiran West

78 Jahre und ein Tag (als Dezimalzahl 78,0027) ist dennoch ein wunderschönes Alter, von dem man heutzutage sagen kann, dass es nicht mehr ganz jung, aber ganz sicher auch noch nicht ganz alt ist.

Gratulieren wir uns und natürlich John Neumeier dazu, dass er sein Leben so gelebt hat, wie er es tat und tut!

Dazu gehört natürlich auch seine Arbeit…

Von den 156 Balletten, die Neumeiers Werkverzeichnis derzeit kennt, sind denn auch viele regelrechte Verständnisschlüssel in andere Künste, in andere Kunstwerke hinein.

Die Literatur, der Film, das Theater, die Oper, die Malerei, die Musik, aber auch Bildhauerei und Performance haben Neumeier nicht nur immer wieder angeregt, sondern vor allem ermöglichen seine Ballette es, zu diesen Kunstwerken einen Bezug zu bekommen.

Mir erging es als Teenager so mit Rainer Maria Rilke, dessen symbolistische Lyrik sich mir erschloss, als ich das Programmheft zu „Wendungen“, einem Abend mit den beiden herrlichen Neumeier-Balletten „Streichquintett C-Dur von Franz Schubert“ und „Vierte Sinfonie von Gustav Mahler“, las.

Ach, und wie viele Querverweise erlauben Neumeiers Ballette, was heißt erlauben: Sie erfordern sie nachgerade! Auch darin liegt der hohe Wert seiner Kunst: dass sie nicht egozentrisch nur um sich selbst oder um die Tanzkunst kreist, sondern in die verschiedensten anderen gesellschaftlichen Gebiete kultureller Sphären inhaltssatte Verbindungen anregt.

Dass Neumeier ein Allround-Künstler ist und eben nicht nur Choreograf, mag da noch eine weitere Starthilfe in unsere Hochkultur geben.

John Neumeier wird 78

Noch ein Blick in die vielen Ergebnisse vom Bildergoogeln: Ballett, John Neumeier, Hermann Reichenspurner – hier vermengen sich Kunst und Leben aufs Schönste. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Wenn er das Licht, die Kostüme, das Bühnenbild oder eine Musikcollage kreiert, merkt man, dass sich hier kein Dilettant irgendwie wichtig machen möchte. Sondern wir haben es mit einem vielfältig begabten Genie zu tun, das keine seiner Aufgaben leichtfertig lässig oder oberflächlich wahrnimmt.

Für die Uraufführung seines frei nach dem gleichnamigen Theaterstück von Anton Tschechow entstandenen Balletts „Die Möwe“ schrieb Neumeier sogar ein Gedicht. Es war auf Englisch und auf Deutsch im Begleitbuch der 28. Hamburger Ballett-Tage im Sommer 2002 abgedruckt:

„What does it mean to be in love?

What does it mean to be an artist?

What does it mean to be an artist who is in love?

What does it mean to be someone who loves to be an artist?“

Und übersetzt:

„Was bedeutet es, verliebt zu sein?

Was bedeutet es, ein Künstler zu sein?

Was bedeutet es, ein verliebter Künstler zu sein?

Was bedeutet es, jemand zu sein, der in die Idee verliebt ist Künstler zu sein?“

Diese philosophischen Steigerungen erinnern an die Entwicklung so mancher Soli, Pas de deux, Pas de quatre oder Ensemble-Steps, die John Neumeier kreiert hat.

tanzt seit 1994 in Hamburg

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Wenn er uns dann in zwei Jahren erlauben wird, seinen 80. Geburtstag zu feiern, so werden wir uns daran erinnern, wie es war, als der große John Neumeier vor rund zwanzig Jahren ein Gedicht schrieb, um das Konzept seines Tschechow-Balletts, das im Künstlermilieu spielt, konzise und verständlich zu formulieren.

Aber vorher sehen wir uns sein Ballett „Die Möwe“ wieder an – die Wiederaufnahme beim Hamburg Ballett steht kurz bevor!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.hamburgballett.de

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