Es herrscht großer Trubel. Und es ist gar nicht mal einfach, in eine der Ballettproben beim „Eröffnungsfest“ letzten Sonntag zum Spielzeitauftakt in der Deutschen Oper Berlin (DOB) zu gelangen. Die großzügigen Galerien, von denen man auf das Geschehen in den 2011 errichteten Ballettsälen hinabschauen kann, sind an diesem Tag viel zu klein, um all die interessierten Besucher zu fassen. Berlin hat eine große Ballettgemeinde, kein Zweifel, und zum „Eröffnungsfest“ sind die meisten gekommen! Kinder mit ihren Eltern, Eltern mit ihren Kindern, Großeltern, mit und ohne Enkel, Singles, Paare, Freundescliquen: Geschätzt finden dreitausend bis viertausend Menschen und Menschlein den Weg Richtung Staatballett Berlin.
Heiß begehrt sind vor Ort: die Tickets für die Ballettproben. Letztere stehen ganz im Zeichen der kommenden Wochen. Das Staatsballett Berlin wird ein Gastspiel in Madrid absolvieren und dort unter anderem „Dornröschen“ in der modernisierten Version des Berliner Ballettintendanten Nacho Duato tanzen. Außerdem gibt es Proben für Duatos Bach-Ballett „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“, mit dem die Saison am 12. September in der Komischen Oper eröffnet wird. Und Proben für „White Darkness“, ebenfalls von Nacho Duato, sowie für Marco Goeckes Stück „Die Unterdrückten“, Pardon, „And the Sky on that cloudy old Day“.
Man ist aufgeregt. Es wird gedrängelt. Zwei von drei Ballettsälen sollen für 45 Minuten jeweils 25 Zuschauer aufnehmen. Mit Sitzplatzgarantie! Doch die silbrigen Papierbändchen, die als kostenlose Tickets ausgegeben werden, sind schnell in ihrem Vorrat erschöpft. Oje! Ein junges Mädchen beschwert sich: Eine Stunde habe sie gewartet! Und nun sei sie leer ausgegangen! Sie geht enttäuscht – zu früh. Denn ob des großen Andrangs geben die Ballettmeister grünes Licht und lassen den dritten Ballettsaal fürs Publikum öffnen. Wow, es gibt nochmal Tickets! Die Freude könnte größer nicht sein, und irgendwie herrscht richtig Premierenstimmung.
Obwohl es um das genaue Gegenteil einer Premiere geht: Es geht um den Alltag von Profitänzern. Was für uns als Besucher die große Ausnahme ist, ist für die Ballerinen und Ballerinos das täglich Brot: eine Probe nach der anderen haben sie zu absolvieren, und manchmal müssen sie dabei hart ran. Manchmal aber ist es auch die pure Freude, und es gibt Tänzer wie den Berliner Solisten Michael Banzhaf, der sagt: „Für mich ist das Tanzen bei den Proben eigentlich noch wichtiger als bei den Vorstellungen!“ Er meint dieses intensive Gefühl, an sich mit den anderen zusammen zu arbeiten, und er meint auch den Tanz pur – ohne Schminke, ohne Kostüm, ohne den „Zwang“ zur Show.
Genau das wollen wir auch genießen. Etwa im größten Studio im Ballettzentrum in der DOB, der namentlich der Choreografin Tatjana Gsovsky gewidmet ist: Dort laufen die Proben für „Dornröschen“, zweiter Akt. Die Titelrolle tanzt das Dornröschen der Premiere, der Berliner Weltstar Iana Salenko. Ach, sie ist so niedlich! So graziös, so zart, so anmutig – und doch so erhaben. Kann eine Frau mehr Würde haben als eine Ballerina? Mehr Offenheit und Contenance zugleich?
Salenko ist ein Wunder als Prinzessin Aurora, die perfekteste aller Jungfrauen, sie ist ein Mädchen, das Eleganz und Schönheit mit frohem Mut und großer Aufgeschlossenheit verbindet. Keine Femme fatale, aber umwerfend in ihrer unschuldigen Freiheit von Fehlern. Iana Salenko tanzt das Dornröschen mit allem, was Ballett ausmachen muss: Balance, Ausdruck, Technik stimmen harmonisch überein; der lauterbare, dennoch kecke Charakter von Aurora übermittelt sich in jedem Trippeln und jeder Handhebung, erst recht in jedem Penché und jeder Arabesque.
Interessant sind die Neuerungen und Abweichungen von der Originalchoreografie, die Nacho Duato in seine Paraphrasierung des Stücks eingeflochten hat. Im Einklang mit der Folie der Originalnummern von Marius Petipa von 1890 (die man als Ballettfan einigermaßen deutlich im Kopf hat) ergibt sich ein changierendes Spiel aus Historie und Zukunft, aus Tradition und Moderne. Auch wenn Duatos „Dornröschen“ auf den ersten Blick ein klassisches Stück ist und keineswegs die Sensationsgier oder auch die Lust auf krasse Vergegenwärtigung bedient: unter der Oberfläche ist es hoch modern, verweist auf viele Gemüts- und Gefühlszustände, die uns in unserer Zeit präzise Mitteilungen machen.
Nacho Duato und der Ballettmeister Tomas Karlborg leiten die Probe, mit Genauigkeit und Hilfsbereitschaft, das Ziel, wie es sein soll, immer fest im Blick und im Hinterkopf. Und mit viel Gefühl in den Fingerspitzen, mit denen sie korrigieren, dirigieren, Bewegungen andeuten.
Das hier ist Spitzenklasseballett zum Begreifen – wer vorher nicht wusste, wie im Ballett gearbeitet wird, der lernt es jetzt.
Iana Salenko als Aurora. Sie ist es auch ohne aufwändiges Prachtkostüm. Schaut man sie an, gleitet der Blick von ihrem mädchenhaft-süßen Gesichtchen unter den rotblonden Haaren ganz schnell über ihre feingliedrige Statur herunter zu den Füßen. Die Ballerinenfüße! Sie stecken in lachsroséfarbenen Spitzenschuhen, die sichtlich benäht und behämmert wurden. Viel Arbeit mag drin stecken, die Ballerina stichelt und näht vermutlich mehrfach die Woche mehrere Stunden an ihrem Schuhwerk herum. Nur, um diese überhaupt tauglich als Arbeitsinstrument zu machen! Und die Mühe lohnt. Wenn Iana, die aus der Ukraine stammt und über ihren Gatten Marian Walter zum Staatsballett Berlin fand, einen Fuß vorstreckt, so öffnen sich damit bereits Welten der Freude. Wenn sie gar auf der Spitze steht, scheint sie zu schweben oder einen neuen Aggregatzustand von Menschheit zu demonstrieren: Feenhaft, elfenhaft, überirdisch ist der auf jeden Fall.
Iana Salenko als Aurora ist ein Erlebnis – auch und gerade im Probensaal. Ihr rot-hautfarbenes Trikot täuscht ein großes Dekolleté vor, ohne anstößig zu wirken. Das helle Probentutu steht mit vielen Schichten und Lagen brav ab. Sie wiegt die Arme, als wolle sie ihr Köpfchen drauf legen und schlummern. Sie wedelt mit den Händen, als sei sie eine Fee auf Arbeitssuche. Sie stellt sich hin, den Kopf in den Nacken gelegt, träumend, wie einst Edgar Degas’ Statue „Die kleine Tänzerin“, aber in vornehmer Tendu-rückwärts-Haltung. Nacho Duatos „Dornröschen“ ist voller versteckter Hinweise: auf die kommende Handlung, auf die Vergangenheit – und immer wieder auf die Liebe.
Im zweiten Akt erscheint sie dem Prinzen, den sie heiraten wird, als Vision. Die Fliederfee, ihre Lebensretterin, führt sie dem jungen edlen Mann, der sich von seiner dekadenten Hofgesellschaft gelangweilt fühlt, zu – und sowohl im Pas de trois als auch im Pas de deux, aber auch in den Soli zeigen sich die Sehnsüchte und Wunschträume der agierenden Personen. „Dornröschen“ ist zwar ein Märchen, aber es ist auch eine stete Bestandsaufnahme von Zuständen durchaus moderner Charaktere.
Aurora ist darin eine sexuell erwachende Pubertierende, die unter der wohl erzogenen Fassade eine Menge an Emotionalität zu geben hat. Sie reift ja sozusagen wie im (hundertjährigen) Schlaf – ein Sinnbild für eine behütete Kindheit und Jugend. Ein Mädchen, das an seinem 16. Geburtstag statt in eine Verlobung in einen Tiefschlaf fällt, hat natürlich keine durchschnittliche psychologische Entwicklung in dieser Zeit. Das ist ja gerade der Clou dieses Kunstmärchens, das eben nicht nur aus verbal transportierten Legenden entstand, sondern von dem raffinierten Verstand eines französischen Meistererzählers (Charles Perrault) ersonnen und durchgestylt wurde.
Als Vision des Prinzen zeigt sich Aurora von ihrer verführerischsten Seite. Somnambul erwartet sie die Liebe und ihre Bewegungen, auch die Berührungen der Verliebtheit. Die moderne Formensprache von Nacho Duato webt ein Tänzeln und ein Sichverbiegen, ein Sichbeugen und Sichkrümmen in die klassischen Haltungen mit ein. Da beides blitzschnell wechselt, erscheint die Modernität als organisch in den klassischen Kontext integriert. Es ist, als würde man Mozart mit Stockhausen kreuzen – die Lieblichkeit des Tanzes geht allerdings nicht verloren, im Gegenteil: Die stilsicheren starken Schulterbetonungen und Rückenverbiegungen, die Dutaos Version kennzeichnen, ergänzen die geradlinige Choreografie von Petipa – etwa so, wie ein neuartiges Gewürz den Geschmack eines Risottos verändern kann.
Diese Aurora ist keine statuarische Silhouette aus „Happiness“ pur, sondern zeigt auch das mitunter fast verzweifelte Sehnen und das Wünschen der jungen Frau. Das ist neu an Nacho Duatos Interpretation, die Salenko wundervoll wiedergibt.
Dinu Tamazlacaru, der auf der von mir gesehenen Probe den Prinzen Désiré tanzt, ist hingegen auch kein Draufgänger, was der Prinz in „Dornröschen“ normalerweise in gewisser Weise ist. In Nacho Duatos Märchen aber hat er mehr Feingefühl, er ist ein Zartbesaiteter, der ob seiner swingenden Jagdgesellschaft ziemlich heftige melancholische Anfälle bekommt. Auch er ist ein somnambul Veranlagter wie Aurora – ein Träumer, ein Traumtänzer in dem Sinn, dass ihn Anwandlungen und eben Visionen wie diese von der Fliederfee und von Aurora überkommen.
Tamazlacaru stellt ihn mit jugendlicher Frische und großer emotionaler Tiefe dar. Dieser Prinz sucht wahrlich keine Abenteuer mehr, sondern erhofft sich unter Liebe etwas Allumfassendes. Junge wie ältere Menschen streben ja immer wieder die totale Liebe an – und danach sehnt auch dieser Désiré sich, ganz normal und in diesem Sinne ganz unprinzlich. Darum erteilt er der schönen Jägerin, die ihn umgarnt, auch recht schnell eine Absage.
Es ist eben so, wie es sein soll, und es liegt eine gewisse Pikanterie darin, dass sich dieser Märchenheld und diese Heldin wirklich kriegen. Denn außer dem Zauber des Jahrhundertschlafs und dem Erwecken durch einen Kuss ist die Geschichte durchaus real: Zwei Menschen sehnen sich nach einem passenden Pendant, finden und heiraten es. Allzu oft aber gehen die wirklich tollen Liebesgeschichten in der realen Welt eben doch schief. Übrig bleiben Kompromissbeziehungen – und noch die schönste Lovestory kann, wenn die Entwicklungen der Liebhaber es wollen, zu einer routinierten, von Kompromissen und Gewohnheiten überbrämten, lauwarmen Non-Liebesgeschichte mutieren.
Liebe ist kaum festzuhalten, es sei denn, beide Parteien haben den starken Willen und auch den Fleiß dazu. Aber ist das üblich?
Im Ballett sind wenigstens die Prinzessinnen und die Prinzen dazu fähig! Und sie bilden damit ein Vorbild für jene, die sie tanzen, genauso wie für jene, die ihnen dabei zuschauen.
Hilfreiche Feen werden dabei bedankt und keineswegs wegen angeblichem Personalüberschuss gekündigt! Die moderne Welt mit ihren menschenfeindlichen Mechanismen, sie muss draußen bleiben aus der prinzlichen Atmosphäre aus Traum und Handlung.
Denn das ist das Heldische an Duatos Désiré: Er träumt nicht nur von der Liebe, sondern er greift auch beherzt zu, als sich dazu die Gelegenheit bietet. Er folgt einer Fee durch den Wald, lässt sich von weiteren Feen (den Waldfeen) in seinem Liebeswunsch bestärken – und findet, wie ein Hellseher, seine Traumprinzessin, schlafend auf ihn wartend, vor.
Und auch Dornröschen, also Aurora, ist von Feen geprägt. Die guten Feen machten sie zu dem, was sie ist – man könnte von erzieherischen Effekten qua Wunschbonus sprechen. Feen als Erzieherinnen sind übrigens ein uraltes Motiv in der Mythologie, etwa im Sagenkreis der Ritter der Tafelrunde. Dort wuchs Lanzelot vom See als Ziehkind von Feen auf.
Ob Feen Dinu Tamazlacaru die Kraft zu seinen superschönen, hohen Sprüngen verleihen? Und die Anmut bei den weichen Gesten? Und die Balance bei den souverän gedrehten Pirouetten?
Désiré jedenfalls hat mit der Feen- und Frauenwelt viel zu tun. Er tanzt mit der Fliederfee, die Sarah Mestrovic mit entschlossener Zielbewusstheit ganz bezaubernd darstellt. Désiré tanzt aber auch mit der Fliederfee und Aurora zugleich – er partnert beide in einem charmanten Pas de trois, gibt ihnen beiden den Halt und die Möglichkeit, mit Posen im Kleeblatt-Format zu glänzen.
Und auch die Fliederfee ist eine moderne Fee! Sie gaukelt niemandem etwas vor, hat ihre eigenen Regeln statt das höfische Zeremoniell zu verkörpern – und ihre Weihe wirkt so ermutigend und belebend wie der Flair einer Amorette. Sarah Mestrovic erfüllt diesen Part mit distinguierter Hingabe, im Geiste ist auch sie eine Adlige. Und was würde der Hochadel in diesem Stück ohne Feenkraft machen?
Gerade Prinz Désiré wäre aufgeschmissen ohne die wundersame Weiberpower der Fliederfee und ihrer Mitgeschöpfe aus dem Wald.
Auch ihn ergreift, zwischen seinen Träumen und seinem Streben, so eine Art unbestimmte Verzweiflung. Er schlägt sich die Hände vors Gesicht – allerdings nicht im Zorn oder aus Unbill, sondern um sich einen Moment abzuschotten von der Außenwelt.
Dieses Sich-die-Hände-vors-Gesicht-Legen ist ein wichtiger Bestandteil in Nacho Duatos Choreografien und taucht nicht nur in „Dornröschen“ auf.
Es ist keineswegs der simple Ausdruck von Unglück. Sondern vielmehr ein Signal für die Bereitschaft einer Person, sich zurückzuziehen und alles neu zu überdenken, um dann zu handeln. Es ist von daher mehr eine Rückzugs- als eine Kummergeste bei Nacho Duato. Und sie drückt die moderne Befähigung des Menschen aus, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und es zu ändern.
So taucht diese Geste der Hände vorm Gesicht auch in Duatos brillantem Bach-Stück „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ auf.
Hier ist es eine Frau, die sie vollführt – aber auch sie hat in Beziehungsfragen Bedarf, Dinge zu ändern.
Die „Vielfältigkeit“, die sonst vom Staatsballett Berlin in der Komischen Oper getanzt wird (wieder ab 12. September 2015), konnte beim „Eröffnungsfest“ auf der großen Bühne in der Deutschen Oper Berlin besehen werden. Und zwar als Bühnenprobe – mit einer einmaligen, exzellenten Aura!
Die lebte nicht nur vom konzentrierten körperlichen Vortrag der Tänzerinnen und Tänzer, sondern auch von ihrer Interaktion mit Nacho Duato. Es ist einfach schön zu sehen, wie etwas wächst, wie die Tänzer sich nach der Sommerpause wieder einfinden in ein choreografisches Werk, um dieses mit ihrem Können und auch mit ihrer Persönlichkeit zu füllen.
Vorab begrüßte der Intendant der Deutschen Oper, Dietmar Schwarz, das Publikum – und besonders einige Flüchtlinge aus dem der Oper benachbarten Flüchtlingsheim. Nacho Duato hielt eine Ansprache, in der er sich freute, mit einem Weltklasse-Ensemble wie dem Staatsballett Berlin arbeiten zu können. Er dankte auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Oper Berlin für die gute Kooperation – ein gutes Einvernehmen zum Beispiel mit den Technikern (die am Theater ja oft wahre Künstler sind) ist für ein großes Ballett unbedingt vonnöten.
Eines der neuen T-Shirt-Designs mit dem Schriftzug „Ich bin das Staatsballett Berlin“ (der in Anlehnung an den Stadtslogan „Ich bin Berlin“ entstand) führte Nacho Duato denn auch gleich selbst vor. Eine peppige Typografie und sowohl sanfte als auch klare Farbtöne mit trendy rundem Ausschnitt verleihen den Shirts zweifelsfrei den Nimbus von Mode, nicht nur von Nützlichkeit.
Der Emanzipation des T-Shirts folgt die Emanzipation eines Musikinstruments in einer der Sequenzen der „Vielfältigkeit“.
Das Cello als Geliebte, auf der der Musiker (gemeint ist der Barockkomponist Johann Sebastian Bach) mit dem Bogen und mit den Händen spielt – Nacho Duato dachte sich hiermit eine der köstlichsten erotischen Ballettpassagen unserer Zeit aus.
Michael Banzhaf und Guiliana Bottino tanzen dieses delikate Stück nach dem ersten Satz der Suite No. 1 für Violoncello solo G-Dur von Bach mit jener Leichtigkeit und Verspieltheit, die es braucht, dennoch aber auch mit der nötigen Ernsthaftigkeit, die so eine surreale Fantasie in sich birgt.
Die Dimension dieses Rollenspiels, der Gleichsetzung von Frau und Cello, wird in dem Pas de deux ausgelotet und ausgekostet.
Und obwohl das Glanzstück seit der Berliner Premiere am 14. März 2015 stets „saß“ und entzückte, muss bei der Probe doch jede kleinste Sentenz wieder neu erarbeitet werden.
Es ist ja die Besonderheit des Balletts, dass diese Kunst sehr probenintensiv ist und darin mit anderen Genres überhaupt nicht verglichen werden kann!
So unterbricht Nacho Duato nicht ganz selten, erklärt etwas, verlangt etwas, zum Beispiel: „Soft! Soft!“ („Weich! Weich!“) und zeigt mit starker Gestik, in welche Richtung der jeweilige Ausdruck zu gehen hat.
Auch Alexander „Sasha“ Shpak und Xenia Wiest, die zusammen die Sentenz „Musikalisches Opfer – Per motum contrarium“ tanzen, bekommen Erklärungen.
Und Lob!
Tanzen sie ihre witzig-absurde Partie, in der der Mann die Frau am Ende wie ein Möbelstück zusammenklappt und mitnimmt, doch mit hinreißendem Elan.
Dominic Hodal muss sich hingegen stärker korrigieren lassen. „Too much ballet!“, lautet der Hinweis von Nacho Duato, „zu viel Ballett!“ tanzt Dominic in einer Suite mit Polonaise von Bach. Gemeint ist: zu geradlinig, zu einfach, zu auswärts, zu gleichmäßig ist der tänzerische Impetus. Aber auch hier verändert sich bei der Wiederholung der Stil des Tanzens, wird schwerer, erdiger, intensiver, weniger „luftig“.
Im Trio mit Federico Spallitta und Michael Banzhaf verkörpert Dominic Hodal dann einen Wesensaspekt des genialen Komponisten; wie ein bewegter Bilderbogen ziehen innere und äußere Geschehnisse aus Bachs Leben, in Tanz übersetzt, vor uns vorbei.
Michael Banzhaf verkörpert dabei Bach seit der Premiere; erst seit der letzten Vorstellung der Spielzeit 2014/2015 übernimmt auch Alexej Orlenco (der soeben zum Solisten befördert wurde – Glückwunsch!) diesen Part.
Für Duato ist Bach eine existenzielle Angelegenheit. Die in sich verwobenen Harmonien, die immer wieder kippen, um sich dann neu zu verbinden, spiegeln für ihn die Essenz von Leben und auch Sterben, insoweit dieses zum Leben dazu gehört.
Der Mut, die Intensität, die von dieser Choreografie ausgehen, zeigen sich erstaunlicherweise ohne die edlen Designer-Kostüme noch einmal mehr.
Das stellten viele Zuschauer fest, und mir erging es sogar so: Obwohl ich zumeist die in der Contemporary Szene durchaus üblichen Trainingsklamotten anstelle von Kostümen nicht sehr mag und häufig sogar ganz fürchterlich finde, kommt die „Vielfältigkeit“ ganz hervorragend ohne „Edelkledage“ aus.
Die Probenkleidung der Tänzer – bunt durcheinander gewürfelt – schien die Reinheit der Choreografie sogar noch zu betonen.
Es sind aber auch wirklich lauter Mini-Ballette, die Nacho Duato hier kreiert hat.
Fünfzehn Stück sind es im ersten Teil, der den Namen „Vielfältigkeit“ trägt, acht weitere dann im zweiten Teil „Formen von Stille und Leere“.
Der erste Teil war komplett bei der Bühnenprobe zu sehen – und die Steigerung von kleinen Kammerstückchen bis zum Ensemblestück zur Musik eines Adagios wirkte betörend!
Da gibt es ja das Gehen von Tänzern auf der Bühne, vorwärts, in einer Linie oder in mehreren Gruppen.
Das Gehen der Tänzerinnen und Tänzer, das Gehen mit diesen trainierten Körpern und diesen disziplinierten Geistern: Es hat eine solche Zartheit und doch Wucht, eine solche Ruhe und doch Kraft – eine Intensität, die einen erfasst und einem immer wieder deutlich macht, wieviel Menschen vermögen, wenn sie zusammen halten!
In der aktuellen Situation kommt man nicht umhin, es auch als Metapher für die Tapferkeit und Standhaftigkeit der Künstler vom Staatsballett Berlin zu sehen.
Immerhin unternehmen sie mit ihren gelegentlichen Streiks eine zwar publikumsunwirksame, aber fürs Ballett absolut bedeutsame Sache.
Dass diese starke Truppe auch künstlerisch eine solche Stärke hat, ist einfach fantastisch!
Als Gruppe hat das Staatsballett Berlin seit seiner Gründung vor elf Jahren ein ganz großartiges Zusammenspiel.
Ob in klassischen oder modernen Stücken – der Corpsgeist im positiven Sinn ist von Beginn an kontinuierlich verfestigt worden.
In der Synchronizität, in harmonischer Abstimmung aufeinander, im Eingehen aufeinander bei den Interaktionen ist dieses sichtbar.
Aber jede Gruppe besteht aus starken Individuen, aus denen sich dann auch die Reihen der Nachwuchssolisten formieren.
Weronika Frodyma zum Beispiel begeistert mit einem Solo in der „Vielfältigkeit“ und sucht an expressiver Kraft darin ihresgleichen.
Da schmettert sie den Streicherbogen durch die Luft, dann wieder führt sie ihn sachte an ihrem Körper vorbei, als sei er ein Fächer.
Michael Banzhaf spielt derweil „Luftspinett“ – und wird von Nacho Duato darin korrigiert: präziser muss das Fingerspiel sein, so, als stünde vor ihm wirklich ein Musikinstrument. Jaaa, soooo!
Auch Arshak Ghalumyan erhält so lange Korrekturen, bis er die manchmal eckige, manchmal runde Bewegung der Schulterarm-Muskulatur im Duato-Stil wieder optimal auffährt.
Als am Ende das Ensemble iim langsamen Schreiten seine Energie mit minimalem tänzerischen Aufwand, aber mit einer maximalen Wirkung, zelebriert, bricht das Publikum in Jubel aus.
Und Nacho Duato und Dietmar Schwarz fallen sich in die Arme – es war ja auch für sie, die Chefs, ein Wagnis, eine solche Probe so zu zeigen.
Draußen geht das ganz normale Leben weiter, aber im Ballettzentrum wird weiter geprobt.
Dort, im Foyer de la Danse, der Foyerhalle, kann man sich mit ausgestellten „echten“ Bühnentutus beschäftigen, sich Spitzenschuhe ansehen oder die schon erwähnten schicken neuen T-Shirts ausprobieren. „Ich bin das Staatsballett Berlin“ – ja bitte! (Meine Neuerwerbung hat übrigens einen mauve-artigen graubraunen Farbton und eine lustig-psychedelische 70er-Jahre Type im Schriftzug. Funny!)
In der „Tischlerei“ der Deutschen Oper zeigen derweil die Kinder von „Tanz ist KLASSE!“, was sie alles drauf haben.
Und im „Unteren Ballettsaal“, der unter dem Ballettzentrum liegt, lehrt Birgit Brux Kinder und Eltern bei einem „Familienworkshop“, was es mit Spitzenschuhen und Stoffschläppchen auf sich hat – und wie man sich locker und sich gleichermaßen selbst befreiend (weil entspannend) zu swingender Tanzmusik bewegt.
„Wie sehen wohl nach sieben Stunden Spitzentanz die Zehen aus?“, fragt Brux die neugierigen Kleinen, und man sieht den Kindern – Durchschnittsalter etwa 8 bis zehn Jahre – an, wie die Gehirne zu rattern anfangen.
Ja, die Zehen werden rot. Ja, es gibt Druckstellen. Auch Hühneraugen, weiß Frau Brux. Und was macht die verehrte Erste Solistin Beatrice Knop, um ihre Fußschmerzen zu mildern?
Sie schneidet jeweils in ihren Spitzenschuh an der Stelle, an der es am meisten drückt, einen Schlitz.
Schwupps. Dann öffnet sich der Spitzenschuh an der Stelle leicht, und der Fuß wird an der Stelle entlastet.
Aha! Die Mädchen, die Birgit Brux lauschen, werden sich das gut gemerkt haben. Man kann ja nie wissen!
Und warum Spitzenschuhe umhäkelt werden, ist auch ein interessantes Thema. „Damit sie einen besseren Stand haben!“ ist eine Vermutung.
So manche Ballerina würde dem sogar zustimmen.
Die meisten aber umhäkeln die Spitze, damit sie nicht ausrutschen, wenn sie draufsteigen oder Pirouetten drehen.
Der Schuh von Iana Salenko etwa, dem „Dornröschen“-Star aus der Ballettsaal-Probe, ist auch da – und er bleibt nicht stehen, wenn man ihn einfach so auf die Spitzenkappe stellt.
Dazu braucht der Spitzenschuh eine Ballerina, die ihn mit Leben füllt und ihn zum Tanzen bringt!
Gisela Sonnenburg
Alle Fotos hier entstammen den Proben auf dem „Eröffnungsfest“!
Weitere Texte und Fotos zu „Dornröschen“ und „Vielfältigkeit“ hier im ballett-journal.de!
Termine der Stücke: siehe „Spielplan“
Kontakt und Infos zum Staatsballett Berlin:
(Dort gibt es im Online-Shop auch die T-Shirts, für 15 Euro pro Stück!)