Welch ein Traum – und auch noch wahr! Primoballerino Rainer Krenstetter vom Miami City Ballet (vormals beim Staatsballett Berlin) brillierte in der Wochenendnacht beim „Mitternachtstanz“ im Kino Babylon in Berlin-Mitte: mit dem Solo „Satyrisches Erwachen“, choreografiert von Gisela Sonnenburg, also von mir, und koproduziert vom Ballett-Journal. Die Bühne vor der Leinwand mutierte zur Tanzfläche – und der junge Mann im Stück korrespondierte tanzenderweise mit der Natur.
„Satyrisches Erwachen“ – hinter dem Titel steckt eine kleine Geschichte: Ein junger Mann, sommerlich gestimmt, nächtigt im Wald. Da wecken ihn seltsame Klänge.
Es ist wie ein Ruf, ein Aufruf, ein Lockruf zugleich.
Suchende Unsicherheit weicht zunehmend einer Verwandlung: Aus dem zünftigen Naturburschen wird ein lyrisches Geschöpf, ein Wesen, das zwischen den Sphären schwebt und Vergangenheit und Zukunft vereint.
Der Klang der Musik, die hier von Gustav Mahler stammt, hat im „Satyrischen Erwachen“ mehrere Funktionen.
Man könnte sagen: Die Natur spricht zu dem jungen Mann. Der Wald wird laut – und fordert das menschliche Wesen in uns allen heraus.
Es entwickelt sich zur Musik – also zur Stimme des Waldes – eine Beziehung, und die ist nicht nur von Harmonie geprägt. Mensch und Natur reiben sich aneinander, kämpfen manchmal fast, bis die Natur das Herz des Mannes erobert.
Er selbst wird ein Stück Natur. – Er wächst über sich hinaus, indem er sein erd-behaftetes Dasein eintauscht gegen die magische Kraft, die hier sowohl für das Sinnliche als auch für das Übersinnliche steht.
Das hat er mit Julien, dem jungen Helden im Stummfilm, der dem Live-Tanz folgte, gemeinsam. In dem Film „Le fantôme du Moulin-Rouge“ – auf deutsch: „Das Gespenst vom Moulin-Rouge “ – von René Clair aus dem Jahr 1925 soll die Verlobte des verliebten Parisers Julien einen Anderen heiraten.
Aus Kummer flüchtet Julien ins Varieté Moulin-Rouge mit seinen berauschenden Tänzen… Dort trifft er auf einen dubiosen Magier, und lässt sich so stark hypnotisieren, dass sein Geist seinen Körper verlässt…
Ganz so weit gehen wir im Ballett nicht. Im Tanzsolo „Satyrisches Erwachen“ ist es so:
Aus dem von der Natur erleuchteten jungen Mann wird ein Faun – ein Satyr, wie die alten Griechen diese Mischwesen nannten. Die Kräfte der Menschen, der Götter, der Tiere vereinen sich in ihm. Er kann ein Bote sein, der vermittelt – und ein Empfänger von Nachrichten. Er korrespondiert mit den Sternen ebenso wie mit dionysischen Geistern.
Dionysos als Gott des Rausches war den alten Griechen auch der Hüter der Theaterrituale. Die Satyre bilden sein Gefolge, seine engsten Mitarbeiter, wenn man so will.
Das also ist die Geschichte: Man erwacht zu seltsamer Musik im Wald und verwandelt sich dem eigenen Erlebnis nach in einen Satyr – und darum heißt das Stück eben so: „Satyrisches Erwachen“.
Als Musik wurde dazu eine Passage aus der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler gewählt, es ist die Reprise aus deren Erstem Satz, der ursprünglich „Pan erwacht“ hieß.
Ballettconnaisseure wissen, dass John Neumeier 1975 ein großartiges Gruppenstück zu dieser Musik kreierte.
Mahler komponierte übrigens vier Jahre lang an dieser Sinfonie, von 1892 bis 1896 – und er tat es hauptsächlich in den Sommermonaten.
Die Hitze, auch die Hitzigkeit, die dadurch gesteigerte Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, bildet hier im Tanz wie in der Musik eine Basis.
Und auch im Film „Le fantôme du Moulin-Rouge“ geht es um existenziell Neues im Bannkreis der Magie. Man sieht mit ihm einen der ersten Fantasy Filme – mit dem, was damals an Special Effects schon möglich war.
Zunächst aber zurück zu den Spezialeffekten des Tanzes – die Rainer „the dirty“ Krenstetter mit dem „Satyrischen Erwachen“ hervorzuzaubern weiß.
Der Stil, so sagte mir später auch ein fachkundiger Zuschauer, sei unverkennbar an Maurice Béjart geschult.
Tatsächlich ist das genau richtig. Die Ästhetik der französischen Moderne, wie Béjart sie gegen das klassische Ballett und doch auf den Grundlagen des klassischen Tanzes schuf, die Dynamik und die Ausdrucksstärke dieser Tradition, sollen im „Satyrischen Erwachen“ ihre Fortführung und eine Spielart finden.
Insofern ist das Tanzstück auch eine Hommage à Béjart.
Zumal der dramatisch-komödiantische Film, dem es bei der Uraufführung zuarbeitet, in Paris spielt.
Paris: Béjart hatte dort nicht nur Sternstunden, sondern auch schwere Anfänge zu erleben. Die akademisch ausgerichtete Ballettwelt wollte den aufstrebenden Sohn eines Philosophen zunächst nicht akzeptieren, wollte nicht wahrhaben, welche Kraft in seinem temperamentvollen Bewegungskanon steckt.
Als die barbrüstigen Männertänze von Maurice aber unaufhaltsam ihren internationalen Anklang fanden, konnte auch Paris ihrem Charme, ihrer Erotik, ihrer existenziellen Schönheit nicht mehr widerstehen.
Dieses Flair von zeitloser Moderne verströmt auch der „Mitternachtstanz“ des Satyrs.
Rainer Krenstetter hat mit Béjart ja noch persönlich gearbeitet, in seiner Berliner Zeit und zwar während der Einstudierung des Béjart’schen Mammutballetts „Ring um den Ring“.
Die Partie des Loge, der das gezähmte Feuer personifiziert und als göttlicher Ratgeber zu allen Seiten zu korrespondieren vermag, war wie gemacht für diesen vielseitig begabten Spitzentänzer!
Sogar mit der auf der Bühne platzierten Pianistin Élizabeth Cooper gab es Interaktionen, die jeden „normalen“ Rahmen eines Balletts sprengten. Feinsinnig und feinfühlig, galant und respektvoll begegneten sich so Tanz und Musik.
Am Abend des „Satyrischen Erwachens“ bestand dieser Dialog für das Publikum aus dem Tanz einerseits und der Interpretation der Musik von Gustav Mahler live durch Anna Vavilkina andererseits.
Als Organistin auch in Konzerten ist sie erfahren und als souveräne Begleiterin von Stummfilmen über die Grenzen von Berlin hinaus ein fester Begriff. Ihre Rolle als Partnerin für Live-Tanz ist da relativ neu. Aufregend war der Abend also für alle Beteiligten!
Das zierliche Instrument, das Anna Vavilkina im Babylon bespielt, stammt von 1929 und wurde einst als Spitze der technischen Errungenschaften auf dem einschlägigen Gebiet gefeiert. 2019 wurde das Berliner Exemplar im Babylon aufwändig restauriert – und verströmt seither seine individuelle Aura eines echten, unverfälschten Orgel-Klangs.
Ein Hauch von Nostalgie ist dabei durchaus zu genießen, wobei hier sowohl der Tanz als auch die Klangwelt unverkennbar und bewusst zeitgenössische Züge tragen.
Auf eine weitere Entwicklung dieser Verbindung von Musik, Tanz und Film werden wir im Ballett-Journal hoffentlich bald wieder zu sprechen kommen.
Mahlers Partitur jedenfalls entwickelt sich von der Düsternis und Ungewissheit, von der bloßen Aufbruchstimmung zur hell aufjauchzenden Einlassung auf ganz Neues.
Und immer wieder blitzt die Natur darin auf – man scheint das rhythmische Rauschen des Sommerwindes in den Bäumen nachgerade mitzuhören.
Was die Natur, die in uns steckt, mit uns im Positiven bewirken kann, wie sie eine Verwandlung und ein neues Erfahren ermöglicht – das verkündet der Tanz von Rainer Krenstetter allemal.
Er ist anmutig und geschmeidig, sinnlich und erhaben, virtuos und schelmisch – und all das auf Weltniveau.
Wer Rainer Krenstetter im Babylon verpasst hat, kann sicher sein, einen wirklich tollen Event verpasst zu haben. Darin waren sich dem Applaus nach auch die Zuschauer:innen größtenteils einig.
Für das Ballett-Journal war eine große Ehre, hier mit Rainer Krenstetter, einer bezaubernden Koryphäe des Balletts, zu arbeiten! Und es ist erst recht eine große Ehre, hoffen zu dürfen, dass es sich nicht um das letzte Mal gehandelt hat.
Danke dafür an Rainer Krenstetter, der übrigens nicht nur als Tänzer höchsten Rang hat, sondern auch als Künstlerischer Leiter sowohl der Margot Fonteyn Academy of Ballet als auch des in Japan angesiedelten Unterrichtslabels Unblanche.
Zu danken ist an dieser Stelle zudem dem ganzen Team vom Kino Babylon für eine definitiv hervorragende Kooperation – und auch dem für Neues aufgeschlossenen, trotz oder wegen der späten Stunde bestens gelaunt erschienenen, praktisch für „ausverkauft“ sorgenden Publikum. Es war uns Künstler:innen eine Freude. Und:
Der Tanz geht so neue Wege und lässt sich dabei nicht aufhalten!
Gisela Sonnenburg
Mehr Infos zur Vorstellung auch hier!