Romantische Männlichkeit, klassische Weiblichkeit Das Bayerische Staatsballett brilliert mit „Le Corsaire“ in der Choreografie von Ivan Liška – da wird jeder Feminist weich!

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Großer Schlussapplaus, der in Standing ovations mündet: „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Es gibt Aufgaben, die liegen vor einem – und man weiß nicht, ob und wie man sie bewältigen wird. So erging es mir mit dem Schreiben über „Le Corsaire“, in der Inszenierung von Ivan Liška beim Bayerischen Staatsballett. So vieles gibt es dazu zu sagen! 2007 war die Premiere in München, was zugleich die Uraufführung dieser Version des „Balletts aller Ballette“ war. Der Tanzhistoriker und Musiker Doug Fullington hatte die choreografischen sogenannten „Stepanov-Notationen“, die aus der Zeit um 1900 stammen, studiert, dechiffriert und in mühevoller Kleinstarbeit zusammen mit Ivan Liška zu einem neuen Ballett werden lassen. Um es gleich zu sagen: Kreativität und Sorgfalt haben hier zu einem Glücksfall für die Weltgeschichte des Balletts geführt!

„Le Corsaire“ – das ist damit nicht mehr die wie für ein Tournee-Theater „eingekochte“, vom Bühnenbild her abgespeckte, ansonsten aber etwas zerfaserte Version von Konstantin Sergejew, die er 1973 fürs Leningrader Kirow-Theater schuf und die es bis ans American Ballet Theatre in New York ins Repertoire schaffte. In der gibt es viel derben Klamauk und ein seltsam anmutendes Happy Ending nach großer, tragischer Schlussdramatik. Diese Version galt Jahrzehnte lang als Nonplusultra.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Ein schöner Mann – und Freibeuter noch dazu: Lukas Slavicky vom Bayerischen Staatsballett in der Titelrolle von „Le Corsaire“ in Ivan Liskas Version. Foto: Wilfried Hösl

Jetzt jedoch geht man – mit Liška – zurück zu einer Version, die sich an der dritten Fassung von Marius Petipas „Le Corsaire“, an der von 1899, orientiert. Und siehe da: Es gibt im authentischen Stil unendlich viel lieblichere Szenen der holden Weiblichkeit darin, unendlich viel mehr Männlichkeit außerdem – und einen Ensemblegeist, der einen geradezu vom Hocker reißt.

Kurz: Es ist ein Juwel, das Liška und Fullington da geglückt ist. Zumal das Bayerische Staatsballett mit seinen sprungstarken Solisten und seinen gar nicht stereotypen Superballerinen dafür wie geschaffen scheint! Oder ist es umgekehrt? Fakt ist: Hier laufen alle Fäden, die vereint sein sollen, zusammen, und hier entsteht vor den Augen der teilnehmenden Zuschauer ein Konglomerat aus Historie, Glückseligkeit und Authentizität.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Das Ensemble trägt maßgeblich zum Erfolg bei: „Le Corsaire“von Ivan Liska beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Ivan Liška sagt es ganz schlicht so: „Wir sind zurück zu den Wurzeln gegangen, und Doug Fullington hat nicht nur eine Dramaturgie, sondern auch choreografische Elemente völlig neu herausgelesen – auch in musikalischer Hinsicht.“ Dabei ist das Licht von Liška als Choreograf nicht unter den Scheffel zu stellen – tatsächlich hatte er dank einigen Leerstellen im Stepanov-Gefüge genügend Freiraum, auch selbst kreativ zu werden. Das Resultat ist somit eine typische Münchner Fassung, mit einem Charme und einer detailstimmigen Figurenzeichnung, die einfach nur begeistern.

Zur Sache: Das Stück beginnt hier nicht, wie bei Sergejew, mit dem bunten Treiben auf einem orientalischen Bazar. Sondern man sieht zur Ouvertüre erst den Himmel durch ein Bullauge und dann ein Schiff bei Sturm auf hoher See, ein stolzes Segelschiff, wie es Mitte des 19. Jahrhunderts üblich war und wie es seit Johnny Depps Auftritt als Piratenkönig in „Fluch der Karibik“ (2003) in unser aller Köpfen als vermeintliches Urbild eines mannbewehrten Segelschiffs umher wabert.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Daria Sukhorukova als Medora in „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett – ein Triumph an majestätischer Weiblicheit. Hier beim Schlussapplaus, mit aus dem Publikum geworfenem Teddybär. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Theatermaschinerie des Münchner Nationaltheaters hat hier viel zu tun, bewältigt das Spiel aber ohne Mühe: Gruselig-fantastisch wirken die Sturmböen, die man auf der Gesichtshaut zu spüren scheint, wenn man auf die Bühne schaut. Die Ausstattung von Roger Kirk und das Licht von Christian Kass tun ein übriges, damit wir Zuschauer ein cineastisches Gefühl haben – es ist soghaft, wie bei einem aufwändigen Kinofilm.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Zwei Männer im Sturm auf See: Konrad und Birbanto, hier noch gute Freunde, zu Beginn von „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

Der Focus liegt auf zwei Männern, Konrad und Birbanto. Ersterer ist der Chef an Bord, der zweite sein engster Mitarbeiter. Man kann sie sich beinahe als Firmenbosse oder leitende Angestellte von heute vorstellen, zumindest, weil solche Menschen sich auch mitunter so fühlen, als hätten sie ein mächtiges Schiff durchs wütende Meer zu bringen. Die Selbstbilder treffen aufeinander, auch wenn die Erscheinungsweisen in Wahrheit ganz andere sind – das ist das Vermögen von Kunst und Kultur, das uns verbindet, und auf das wir niemals verzichten sollten, koste es, was es wolle.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Birbanto, getanzt von Matej Urban, ist der Bösewicht in „Le Corsaire“ – und hier ein ganz braver toller Junge beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Es tanzt auf im ersten Akt: Lankedem, ein reicher Sklavenhändler. Einst verkörperte ihn der Ballerino Cyril Pierre in München, mit geschmeidiger Dominanz und dennoch auch regelrecht orientalischer Hinterfotzigkeit.

Mit Norbert Graf gibt es jetzt einen Lankedem, der das Darstellerische betont und vor allem auch während des Tanzes auf die wechselnden Situationen eingeht. Sein Lankedem ist pragmatisch, er denkt an seinen Nutzen – und nichts liegt ihm ferner, als Männlichkeit und Gefühl zusammen zu denken. Wir alle kennen solche Leute, und dass so einer Menschenhändler ist, passt nur allzu gut.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Ein Ballett mit Action, und mit Szenen, die direkt aus einem Kinofilm stammen könnten: „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Aber tanzen kann auch er. Ein Andante mit Sprüngen und Pirouetten zeichnet sein Solo aus; das Ensemble hinter ihm illustriert derweil das muntere Treiben auf einem Markt, der Menschen gleichermaßen wie Kürbisse zu Ware macht. Das finden in diesem Szenario aber alle voll in Ordnung, und selbst die Sklavinnen und Sklaven fügen sich mit so erfrischt-gutmütiger Miene wie sich heutzutage eben auch so viele Dumping-Bezahlte sich ebenfalls mit bester Laune aufs Höchste anstrengen, um mindestens das Fünffache, wenn nicht sogar das Zehnfache ihres Gehalts wert zu sein. Ohne zu wissen, dass man ihnen das, was sie aus Gründen der Menschlichkeit verdienen sollten, niemals bezahlen wird!

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Gern nehmen die Künstler den großen Applaus entgegen: Das Bayerische Staatsballett in Ivan Liskas „Le Corsaire“ in München. Foto vom Schlussapplaus. Gisela Sonnenburg

Wenn dann Konrad, der Piratenchef, kraftvoll getanzt vom hinreißenden Lukáš Slavicky, auftaucht und ein Solo sowie einen daraus sich entwickelnden Pas de deux tanzt, und zwar mit Birbanto (der Rolle gemäß von eleganter Sturheit: Matej Urban), dann besteht die Welt schon aus soviel Abenteuerlust und Tatkraft, dass man am liebsten mit auf die Bühne und wenigstens eine „Glocke“, einen russischen Folkloreschritt, springen möchte.

Explosiv, diese Manneskraft, die aus starken Oberschenkeln, gut trainierten Pliés und einer federnden Leichtigkeit, gepaart mit testosterontriefender, lüsterner Männlichkeit besteht.

Dazu rieselt die Musik unter der Orchesterleitung von Aivo Välja kristallklar herab, das Bayerische Staatsorchester ist in Hochform!

Der Geist dieser Aufführung ist – und das erstaunt – ungeheuer leichtfüßig. Diese flirrende Leichtigkeit setzt sich in der Damenwelt des Personals hier fort.

Da ist die Pflegetochter von Lankedem, Medora. Daria Sukhorukova tanzt sie ausdrucksstark, majestätisch und präzise in allem, was sie tut. Ein Ausbund an Feminität! Sie becirct mit flinken, schön gestreckten Beinen, mit lieblichen Arm- und Handbewegungen und mit Kopfneigungen, die ihresgleichen suchen. Lisa-Maree Cullum, die letzte Saison hoch gefeiert ihren Bühnenabschied nahm, wusste in dieser Rolle übrigens ebenfalls zu brillieren. Medora ist eine Partie für Könnerinnen, auch wenn die zweite bedeutende Frauenrolle in „Le Corsaire“ ihr darin nichts nachsteht: Gulnara, eine mit Medora befreundete Sklavin, ist die mädchenhaftere von beiden und ihrer Freundin dennoch ebenbürtig. Von duftiger Lebensfreude beseelt, bezaubert hier Mai Kono als Gulnara – und wird im Verlauf des Abends eine tänzerische Sensation in dieser Rolle.

Mit dem Sklavenhändler Lankedem stellen sich diese charmanten schlauen Mädchen lieber gut.

Aber dieser Lankedem, was hat er eigentlich vor?

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Auch die liebliche Ivy Amista tanzte schon in „Le Corsaire“ – in Ivan Liskas fulminanter Version beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

Einen Deal. Nichts sonst. Nur Geld bewegt sein Herz wirklich, so scheint es. Er sucht eine hübsche Femme fatale für den Said (sprich: Sa-id) Pascha, den Regenten, dem er sie verkaufen will. Das also ist es, warum er Medora so gut gelaunt und blitzenden Auges anfeuert!

Hier sei eingeflochten, dass wahre Fans des Bayerischen Staatsballetts sich unbedingt für den 8. November 2015 ein Ticket besorgen müssen! Denn dann wird Ivan Liška den Said Pascha tanzen, auf den Punkt genau an seinem 65. Geburtstag, in seiner letzten Spielzeit als Ballettdirektor des Bayerischen Staatsballetts.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Ballettdirektor Ivan Liska wird am 8. November einmalig den Pascha in seiner Inszenierung von „Le Corsaire“ darstellen. Eine schöne Geste zu seinem 65. Geburtstag! Foto: Gisela Sonnenburg

Liška hat sich ja schon mit Rollen wie Monsieur Duval in John Neumeiers „Kameliendame“ oder in Hans van Manens „The old Man and Me“ für Partien, die für ältere Tänzer gemacht sind, allerbest renommiert. Jetzt wird er noch einmal den spaßig-hinterlistig einher kommenden, arabischen Pascha verkörpern. Das wird eine Gaudi, wie man in München sagt, da man kann sein letztes Hemd darauf verwetten!

Ansonsten aber darf auch, wie in der Wiederaufnahme-Premiere, Vittorio Alterton gern zeigen, was so richtig abgehen kann, wenn der Pascha nicht fad ist.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Er erfreut mit schönen Sprüngen und expressiver Erotik: Maxim Chashchegorov als Ali in „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett nach seinem Rollendebüt. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Und irgendwie wissen die Damen das ja auch zu schätzen. Gulnara zum Beispiel. Sie wird, so zart wie verständig, dabei höchst anmutig von Mai Kono getanzt. Gulnara ist eine Sklavin aus Lankedems Bestand, aber sie wird immerhin wie eine Freundin behandelt. Und: Sie trägt dasselbe Yves-Klein- und „Blauer-Vogel“-Blau wie der schöne Sklave Ali (stark, ganz stark und trotzdem gern auch demütig: Maxim Chashchegorov), der noch eine besondere Rolle einnehmen wird.

Das Ensemble tobt und tanzt derweil, als gäb’s kein Morgen – und doch halten die Damen und Herren hier so wohltuend zusammen, gehen so exakt und freundlich miteinander um, dass man sie glatt eine nach der anderen und einen nach dem anderen umarmen möchte.

Da ist Temperament das Wichtigste, und die feurigen Tänzerinnen und Tänzer lassen einen einfach alles vergessen, so begeistern sie einen!

Medora aber hat sich verliebt, in Konrad, dem sie Blumen zuwirft – und er versteht sofort, was sie meint. Lankedem ist der große Feind dieser Liebe, und darum muss eine List helfen: Medora wird entführt (und zwar nicht zum letzten Mal in diesem Stück).

In der Version von Konstantin Sergejew besorgt die Entfühung Ali, der damit die Seite wechselt: aus Lankedems Besitzstand zum freien Dasein als Pirat unter der Führung von Chef Konrad. In der Münchner Fassung ist es Chefpirat Konrad selbst, der seine Medora mitnimmt. Ali wechselt sozusagen ohne Initialhandlung das Lager.

Jedenfalls bringt Ali bzw. Konrad das schöne Mädchen in eine Liebesgrotte, die typisch ist für die Ballette der Romantik. Auch „Napoli“ hat so eine Grotte mit erotischem Nimbus zu verzeichnen, und nicht ganz weit hergeholt sind Hollywood-Filme, die den Mythos von der potenzsteigernden feuchten Grotte replizieren.

Im Ballett geht es aber vor allem um den aufregenden Effekt, der auch bei Handlungsstillstand gegenwärtig sein soll. Muntere Piratenbräute, die den sinnlichen Stil von Fanny Elßler, einer der großen Tänzerinnen des 19. Jahrhunderts, wiedergeben, dürfen da nicht fehlen!

Medora findet sich flugs wieder bei ihrem sie in der Grotte erwartenden Konrad, der ihr sehr gefällt, obwohl oder weil er sie rauben ließ. Ali, ihren Entführer, kennt sie vermutlich ohnehin von Kindesbeinen an, das neue Leben in der fremden Umgebung wird also von vorn bis hinten versüßt.

Eine solche Versüßung erfährt auch die Choreografie. Denn jetzt tanzen Medora, Ali und Konrad zu dritt den berühmten Grand Pas de deux aus „Le Corsaire“, der so oft auf Galas das Glanzstück ist, der jetzt aber eindeutig ein Grand Pas de trois ist.

Einem Adagio von Medora mit beiden Kavalieren folgen die Sprungorgien der Männer.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Tanzt! Als Grand Pas de deux oder als Grand Pas de trois – in „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett sieht man klassisches Ballett vom Feinsten. Foto. Charles Tandy

Konrad darf hier also auch richtig tanzen, sogar den großartigen Beginn, mit Sprungbewegungen von vorn links nach rechts hinten – während er in der Sergejew-Version lediglich ganz am Ende die Dame in die Höhe heben darf. Aber zwei Männer haben naturgemäß mehr Sprungkraft als ein Mann. Also wird hier gleich doppelt gepowert und geglänzt, dass es eine Freude ist!

Konrad beginnt, Ali übernimmt die zweite Runde – und die tadellosen Pirouetten und Fouettés von Medora in den weiblichen Zwischenparts tun ein übriges. Welch Raffinesse, welche Power! Es ist ein Augenschmaus! Und die Bravos prasseln nur so auf die Protagonisten nieder!

Und auch für die eine oder andere Gala ist dieses zudem auch noch anrührende Spektakel (anstelle der immergleichen, von Rudolf Nurejew ohnehin „besetzten“ Version) wirklich empfehlenswert.

Inhaltlich ergibt sich so auch eine interessante Neuerung: Medora hat jetzt zwei Kavaliere – sie ist die „Königin“ der Herzen, und sowohl ihr Liebhaber als auch dessen ergebenster Freund stehen ihr zu Diensten. Wenn das man nicht schon eine Vorstufe zum Matriarchat ist…

Gediente Feministen werden denn auch weich bei einer solchen Umorganisation im klassischen Ballett. Und all das geschieht auch noch mit dem Segen des Tanzhistorikers Doug Fullington – man kann sich eigentlich nur darüber freuen, festzustellen, dass die Blüte des Balletts im 19. Jahrhundet längst nicht mit einer verbiesterten Festlegung auf traditionelle Paarbildung einher ging, wie man später mitunter vermuten musste.

Ivan Liška weiß zudem noch mehr über die Urversion dieses Balletts: „Der Ursprung liegt ja bei Lord Byron, und daher ist es jetzt auch so anders als die veränderten Versionen. Man hat damals nämlich aus dem an sich trübseligen Epos ein fröhliches Libretto gemacht!“

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Auch das königliche Verbeugen will gelernt sein: Daria Sukhorukova und Lukas Slavicky nach „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Das ist wichtig: Das lange, handlungsreiche Gedicht, das der englische Poet Lord Byron (George Gordon Byron) mit dem Titel „The Corsair“ 1814 erstmals publizierte, hatte bei den Zeitgenossen einen sensationellen Erfolg. Das Thema vom tollen Piraten war damit kulturgeschichtlich en vogue – konkurrenzlos, sozusagen.

Es geht darin um einen ausgestoßenen Abenteurer namens Conrad. Mit C, denn es spielt ja in England. Dieser Conrad wurde aus Rache an der ihn missachtenden Menschheit zum Freibeuter. Frauen gegenüber blieb er allerdings stets ein Kavalier, während er zu Männern grausam und erbarmungslos agierte. Als historisches Vorbild empfiehlt sich hier der Pirat Jean Lafitte, was dazu führte, dass „The Corsair“ vor allem die Sensationsfreude der damaligen Zeitgenossen bediente.

An dem Erfolg von der Story wollten viele partizipieren, auch die Ballettleute. Allerdings eignet sich die Originalaufbereitung des Stoffs, wie sie Byron in der Dichtung pflegen konnte, nicht so gut für das Theater. Also verkürzte und veränderte man Handlung und Personal – und kreierte in „Le Corsaire“ ein ganz eigenes Kunstwerk.

Aber noch bevor 1855 Adolphe Adam die Ballettmusik dafür schrieb, schrieb schon Hector Berlioz 1844 seine Konzertouvertüre „Le Corsaire“, denn auch er war von Byron inspiriert und wollte an dessen Ruhm teilhaben. 1848 wurde dann sogar eine Oper, „Il Corsaro“ von Giuseppe Verdi, zu dem Plot uraufgeführt. Das Piratentum an sich in der Kultur war ohnehin bei den Bürgern und beim Adel in Europa so beliebt geworden, dass man darin schon einen Erfolgsgaranten sah.

Spannend für uns Ballettfans ist Folgendes: Bereits 1837 hatte es ein Ballett „The Corsair“, auch nach Byrons Poem, in London gegeben – aber es hatte, vermutlich weil es eben keine weitreichenden, aber theaterwirksamen Abweichungen vom Poem zu bieten hatte, keinen dauerhaften Erfolg.

Anders die Version von „Le Corsaire“, die im Januar 1856 in Paris uraufgeführt wurde, von Joseph Mazilier und bereits zur Musik von Adolphe Adam. Es gab sehr viel Applaus dafür! Von Paris aus kam das Stück nach Russland, wurde dort 1858 erstmals in einer von Mazilier inspirierten Fassung von Jules Perrot gezeigt.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Jubel beim Schlussapplaus: Nach „Le Corsaire“ von Ivan Liska beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Dieser Strang von „Le Corsaire“ entwickelte sich weiter, bis hin zu einer Version von Yuri Burlaka, die 2007 unter choreografischer Beihilfe von Alexei Ratmanski am Bolschoi entstand. Anders als das Münchner Team Liška / Fullington, hatten Burlaka / Ratmanski aber nicht die historische Rekonstruktion zum Ziel, sondern die Nachempfindung und Neukreation. Man könnte die verschiedenen Herangehensweisen mit der Übersetzerdebatte vergleichen. Die Münchner gingen dabei den Weg der Wort-für-Wort-Übersetzung, während die Moskauer die Paraphrasierung wählten.

Verschiedene Versionen gehören zur Geschichte von „Le Corsaire“ wie der berühmte Grand pas de deux (Grand pas de troi) aus der Grotte.

Marius Petipa, der Meister aller Meister, choreografierte „Le Corsaire“ bereits 1863 erstmals selbst in Sankt Petersburg. 1880 schuf Petipa eine erweiterte Neueinstudierung seines eigenen Werks. Und 1899 kam es zu seiner dritten „Corsaire“-Inszenierung, also zu jener, an der sich auch die Münchner Version orientiert.

Insgesamt besorgte Petipa eine Übertragung des romantischen Balletts ins Klassische: ohne allzu bombastische Ausstattungsorgien und ohne die romantischen Pantomime-Einlagen entstand die Grundlage zur heute gespielten Münchner Version.

Die heldischen Männer, so kann man verallgemeinernd festhalten, verkörpern im „Corsaire“, zumal in ihren Freibeuter-Outfits die romantische Figur des Piraten, des Abenteurers, des edlen Wilden, der sich keinem Unsinn irgendeiner Willkür-Herrschaft noch irgendeiner dusseligen Konvention beugt.

Die Damen hingegen, allen voran die zwei unterschiedlichen Frauentypen Medora und Gulnara, verkörpern die Tugenden der Klassik im Ballett: Präzision, Keckheit, Grazie. Das Melancholisch-Sehnsüchtige überlassen sie hier den Herren, insoweit diese auch aggressiv und kampftauglich genug sind, daraus eine Aktion und eben nicht eine der Spätromantik verpflichtete Nachlässigkeit zu machen.

Das Männer- und Frauenbild im Stück ist wirklich etwas Besonderes – und keineswegs nur traditionell!

Noch einmal ein Einschub zur Historie: Der altbekannte, viel gerühmte Grand Pas de deux der Sergejew-Version, der so häufig auf Galas gezeigt wird und der auch das Paradestück von Rudi Nurejew und Margot Fonteyn war (der mit dem Solo daraus bereits als Berufsanfänger in der Sowjetunion Furore gemacht hatte), stammt derweil nicht nur von Petipa, sondern wurde von einem späteren Choreografen namens Vaktang Schabukiani überarbeitet. Im Laufe der häufigen russischen Neuinszenierungen wurde dann immer noch mal was geändert und ohne historische Rekonstruktionsabsicht einfach durch die Praxis tradiert. Bis Konstantin Sergejew seine Version als die bis dahin bedeutendste durchsetzen konnte.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Lukas Slavicky in der Titelrolle „Le Corsaire“ beim Schlussapplaus im Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Unterschiede zwischen der Sergejew- und der Liška-Version gibt es faktisch im Libretto und in der Choreografie, aber auch musikalisch: „Wir sind, was die Musik angeht, sehr stark auf Adolphe Adam zurück gegangen, und das war dann die größte Überraschung: wie man plötzlich wieder in diesen französischen Esprit versetzt wird“, sagte mir Ivan Liška auf Nachfrage. Und wirklich: Das Verspielt-Romantische, das diese Münchner Version auch akustisch hat, reißt einen mit und verführt einen, während die sonst gängige Musik zu „Le Corsaire“ zwar prunkvoll und bombastisch wirkt, aber eben auch etwas grob.

Und man sieht es nicht nur, sondern hört es auch: „Le Corsaire“ ist, wie „Paquita“, ein „Schwellenballett“, es steht stilistisch zwischen der Romantik und der Klassik im Ballett, wobei die romantischen Elemente noch aus seiner Pariser Frühzeit stammen.

Mit der Musik zu „Le Corsaire“ geschah indes so Einiges: Im Laufe der Zeit wurde die Originalpartitur von „Le Corsaire“ um wechselnde zusätzliche, eingeschobene Stücken immer mehr erweitert. So stammen Einlagen und Zusätze von Léo Delibes, von Cesare Pugni, Prinz von Oldenburg und Riccardo Drigo – und auch von Léon (Ludwig) Minkus, der aber in der aktuellen Münchner Fassung wieder entfernt wurde.

Dafür wurde in den Orignalnoten von Adolphe Adam recherchiert, um die Urfassung der Partitur zu rekonstruieren. Die Pariser Nationalbibliothek war da mit den bei ihr verwahrten Schriftstücken hilfreich.

Von Léo Délibes stammt wiederum der „lebende Garten“ gen Ende des Stücks: ein Ballett im Ballett, das in seiner Mischung aus dekorativen und spielerischen Elementen auch gut allein für sich stehen könnte.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Ein Blick in den Garten des Paschas: So zu sehen in „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tändy

Nur um Spaß geht es in „Le Corsaire“ aber übrigens nicht. Medora und ihre Freundin Gulnara sind nämlich Griechinnen, während der Pascha und der Sklavenhändler Lankedem Orientalen sind. Die griechischen (christlichen) Mädchen werden darin die Opfer der arabischen (islamischen) Fürsten, die ihr Land besetzt halten.

Das erinnert an „Giselle“, die ebenfalls von Adolphe Adam komponiert wurde und im von Deutschen besetzten Grenzgebiet Frankreichs spielt.

In der Münchner Version vom „Corsaire“ spielen diese Ideen von Nationenkonflikten und „Clashs of culture“ zwar keine große Rolle mehr. Dafür aber sind die psychologischen Muster viel differenzierter und die Zeichnung der Figuren ist sehr viel nachvollziehbarer als in den alten französischen und in den Sergejew-Passepartouts.

Besonders liebreizend in der Münchner Version: die Frauenfreundschaft von Medora und Gulnara. Sie vertrauen einander, sie helfen einander, sie tanzen miteinander – da spielt eine gewisse Dosis Erotik mit hinein. Diese Vielseitigkeit der Charaktere trägt die folgende Handlung mit, die sonst fast nur mit Muskelprotzerei und Hinterlist zu tun hätte.

Denn die Konflikte kommen hier ganz typisch aus der Männerwelt. Da ist der Großmut von Konrad, der die Sklavinnen, die er Lankedem entrissen hat, in die Freiheit entlassen will. Sein Mitstreiter Birbanto ist da allerdings ganz dagegen! Erbittert macht er seinen patriarchalen, auch grausamen Anspruch mit großen Sprüngen in der Rotunde geltend. Ali, der Getreue von Konrad, hat viel zu tun, um eine von Birbanto angezettelte Meuterei abzuwehren. Fast würde ein aufgehetzter Pirat Konrad mit dem Messer attackieren!

Als Birbanto dann allein mit den Piraten ist, schlägt seine Stunde. Er gibt nämlich nicht auf, dieser Bösewicht! Mit Pirouetten, bei denen einem schwindlig werden kann, wenn man sie nur ansieht, besiegelt er seinen listigen Plan. Matej Urban absolviert diese Szene mit soviel Inbrunst, dass man die Rolle des Bösewichts fast für die beste im ganzen Stück halten möchte. Toll!

Birbanto wird denn auch sehr aktiv, er holt sich von Lankedem ein Schlafmittel, mit dem er Konrad außer Gefecht setzen kann. Bumm. Die Intrige ist damit gesponnen.

Medora und Konrad genießen derweil nichtsahnend ihre Zweisamkeit im Boudoir. Da steht wirklich ein Bett in der Grotte! So ein Idyll muss die Fantasie der historisch-zeitgenössischen Zuschauer maximal entfacht haben. „Big Brother“ gab es damals noch lange nicht, und die aufgeladene Situation des Bühnenbilds mit Blick in die freie mediterrane Natur – mit der Küste und dem Meer anbei – tut ein übriges. Wie schön muss man da sein Liebesglück pflegen können!

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Applaus für den Dirigenten, die Primaballerina und den Primoballerino des Abends! Nach „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Medora, die durchaus sinnenfreudig ist, tanzt denn auch in einem seidigen Negligé ein Allegro voller lieblicher kleiner Hüpfer. Ganz schnell ist sie, ganz rasend vor Glück. Scherzhaft zieht sie sogar Konrads Weste an, allerdings links herum gewendet – und sie imitiert das Mackerverhalten darin, als sei eine kleine kabarettistische Einlage in Spitzenschuhen die schärfste Verführung. Köstlich!

Der anschließende Pas de deux mit Konrad bereitet denn auch den nun eigentlich vorgesehenen Liebesakt vor. Es ist ein sehr elegant-erotisches Stück, in dessen Verlauf Konrad seine Medora auch mal sich kopfüber an seinen muskulösen Körper schmiegen lässt. Himmlisch, wie die beiden hier aufeinander eingehen!  Doch da tauchen zwei kleine Mädchen auf, mit der verhängnisvoll präparierten Blume als Geschenksendung. Medora gibt die große Blüte gleich an Konrad weiter – anscheinend ist es seine Lieblingsblume. Und Konrad ist angetan, er riecht gleich dran – und fällt in einen Tiefschlaf. Wie ärgerlich! Und wie gefährlich, in dieser Situation!

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Schlussapplaus mit Freude: Nach „Le Corsaire“ vom Bayerischen Staatsballett im Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Schon rücken die Menschenräuber und Meuterer heran. Medora schafft es gerade noch, Birbanto mit einem Messer in den Arm zu stechen. Aber es hilft ihr nichts, sie ist zu schwach, um ihn zu töten, zudem ist er ja nicht allein, und sie wird verschleppt. Mal wieder.

Ali kann dann immerhin noch verhindern, dass Birbanto den Schlafenden umbringt. Dafür muss er Birbanto töten. So ist das Leben Konrads knapp gerettet. Doch Medora ist vorerst verloren für ihn, der nur langsam aus seinem künstlich erzeugten „Kurzkoma“ wieder zu sich kommt.

Der dritte Akt spielt dann im Reich des Paschas, das hier Andrinopel heißt. Mit einem kostbaren Zelt-Tuch und etlichen hübschen Harems-Mädchen zeigt Said Pascha seine Macht, seine Potenz. Seine Mädchen dürfen sich sogar mitunter über ihn lustig machen und ihn unter seinem Zelt-Tuch verschwinden lassen.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Mai Kono tanzt die Gulnara in „Le Corsaire“ mit Anmut, Witz und Raffinesse – wow! Hier beim Schlussapplaus im Münchner Nationaltheater. Foto. Gisela Sonnenburg

Gulnara, die der Pascha von Lankedem gekauft hat, lässt sich da nicht gehen, sondern tanzt ein entzückendes Solo. Sie walzert sogar mit dem riesigen, güldenen Zepter des Paschas! Als sie dann auch noch eine Goldschatulle von ihm öffnet, um ein seidiges Tuch herauszufummeln, ist das Publikum ganz von ihr becirct. Der Pascha aber bleibt skeptisch, sitzt ungerührt auf seiner Chaiselongue. Anscheinend sind zuviele Frauen auch nicht unbedingt luststeigernd…

Dabei umgarnt Gulnara ihn nach bester Ballerinenart! Kein Wunder, dass der transparente Schal, mit dem sie tanzt, rosarot ist.

Da kommt Lankedem mit Medora herein. Er will sie dem Pascha anbieten…

Drei Odalisken geben noch rasch ihr Bestes, mit Wiegeschritten, mit Pirouetten, mit Sprüngen. Ach! Luiza Bernardes Bertho, Séverine Ferrolier und Zuzana Zahradníková bilden eine glamouröse Grazien-Truppe, in Soli wie in der Gemeinschaft liefern sie bestes Petipa-Ballett!

Aber der Appetit des Paschas auf die Damenwelt ist offenbar gestillt. Er sollte immer an neuen Frauen interessiert sein, vom Prinzip her, aber jetzt ist es wie verhext mit seinem Missmut. Nur Gulnara scheint vielleicht noch eine Option für ihn zu sein.

Doch da kommen ungebetene Gäste, nämlich Pilger, heran. Christliche Pilger. Der Muphti (Peter Jolesch) ringt die Hände!

Es sind tatsächlich keine normalen Priester, sondern die verkleideten Männer von Konrad, der unter ihnen ist. Da klingt er wieder an, der „Clash of culture“: Die Piraten, ausgerechnet, stehen hier als ehrbare Vertreter des Christentums gegen die „barbarischen“ oder zumindest sündigen Moslems.

Und während die süßen Haremsdamen in rosafarbenen Tutus mit ihrer ebenfalls in Rosé gekleideten Kinderschar tanzen, geht von den merkwürdigen Priestern in den braunen Kutten eine gefährliche Stimmung aus.

"Vorhang auf" ist der festliche Auftakt!

„Le Corsaire“ ist das Gala-Stück schlechthin, aber auch als Ganzes bietet es viel Märchenhaftes, viel Begeisterndes, viel Charme. Mit Kinderballett – das allerdings Hintersinn hat! So  beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Charles Tandy

Dass es hier ein so großes Kinderballett gibt, freut natürlich die tanzenden Kinder und sicher auch deren Eltern. Dramaturgisch ist damit aber vor allem klar gestellt, wie groß die Macht des Paschas ist. Sein Harem ist kein „geliehener“ oder rein repräsentativer. Es geht auch nicht um mit Rosenöl parfümierte Sexmädchen. Sondern die Frauenschar hat in der Tat die Aufgabe, ihren Herrscher mit zahlreichen Geburten zu erfreuen.

Irgendwie erinnert das an manches Patchwork-Modell, das heute gelebt wird. Ein Freund von mir hat Kinder auf vier Kontinenten gezeugt, mit unterschiedlichen Müttern, und um alle seine Sprösslinge kümmert er sich persönlich, nach bestem Streben und den Flugverbindungen entsprechend. Vor allem die Urlaubszeiten werden bei ihm zu großfamiliären Einsätzen, wenn auch nicht im traditionellen Sinn.

Man sollte ja nicht vergessen: Auch Bertolt Brecht und Rudolf von Laban lebten zeitweise in Haremsmodellen; Laban „nur“ als Quasi-Bigamist, Brecht aber mit regelrechtem Gefolge aus Ehefrau, Geliebten und Kindern.

Zurück in den Bühnenorient. Höhepunkt des Haremsdaseins in „Le Corsaire“ ist das Spiel der Haremsgesellschaft mit Blüten und Blütenbögen, das an ein Frühlingsfest erinnert und von den morganitfarbenen Nuancen des Mittelmeers geprägt ist.

Der „Jardin animé“, der lebende Garten, wird denn auch angeführt von der lieblichen Gulnara – und ergänzt von einer großen Schar junger Frauen sowie dem Kinderballett.

Es ist relativ selten im Ballett, dass Erwachsenen- und Kindertanz eine solche Einheit bilden. Es zeichnet das Stück-im-Stück, den sogenannten lebenden Garten, aus, die Qualitäten von Frauen mit den Qualitäten von Kindern zu verbinden – tänzerisch und auch menschlich, insoweit es den Ausdruck betrifft.

Schließlich tänzelt auch Medora heran, und zusammen mit dem Damencorps verströmen die Freundinnen die Schönheit natürlicher Frische, und ihre geschmeidigen Körper lassen es zu, dass sie sich auch aneinander erfreuen.

Der Pascha segnet die Frauenverbindung ausdrücklich! Dabei gefällt ihm Gulnara aber offenbar noch viel mehr als Medora…

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Eine Szene im Liebesleben eines Paschas: Said Pascha lässt sich in „Le Corsaire“ von seinen Haremsdamen mit einem Tuch-Tanz erfreuen… und auch manchmal necken! So zu sehen beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Zwei Mal steigert sich der Blütentanz zu je einem großen Panoramabild – dann darf man stets einige Sekunden der Musik lauschen, während die Tänzerinnen und Tänzer ihre Pose halten.

Dann wird es plötzlich spannend. Die vermeintlichen Priester umkreisen den Pascha, sie machen tänzerisch Druck. Immer enger schließt sich der Kreis um den Herrscher, der bald nicht mehr entkommen kann. Und dann lassen die Priester die Kutten fallen, es sind die bewaffneten Piraten Konrads, die jetzt für Chaos und Kämpfe sorgen – und dann wird wieder eine Frau entführt (natürlich wieder Medora), während die eingeweihte Gulnara sich mit einem Schleier als Medora tarnt.

Konrad und Ali trumpfen auf! Was für wunderbare Sprungkombinationen die beiden Jungs draufhaben! Immer wieder muss man sie an diesem Abend bewundern.

Lankedem wird in der Sergejew-Version dann naoch mühelos enteignet, die Mannschaft von Konrad kann da fette Beute machen. Schmuck und Schätze versprechen ihnen eine glänzende Zukunft. In München verzichtet man auf diese materialistische Note. Hier muss die Freiheit zur Liebe, die Freiheit zur Bindung des Hauptpaares, als Triumph für alle genügen.

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Mai Kono gab ihr Rollendebüt am 30. Oktober 2015 als Gulnara in Ivan Liskas „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett – umjubelt! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

In Adrinopel wird hingegen keineswegs Trübsal geblasen. Die Verluste scheinen verwindbar. Und der Schleier von Gulnara (der Schleier ist ja eine Frühform der Dessous) verfehlt seine Wirkung auf den Mann im Pascha nicht, vor allem nicht, als Gulnara ihn abnimmt: Der Pascha verliebt sich endlich in Gulnara, die seine Männlichkeit gerettet hat. Von daher ist er gar nicht traurig darüber, dass ihm Medora entwischte. Arm in Arm wenden sich Gulnara und Said ihrer Zukunft zu.

Das letzte Bild zeigt die Heldencrew auf hoher See, auf zu neuen Abenteuer segelnd…

Ein feines Ende – und ein anderes, als in der Version von Konstantin Sergejew. Denn dort gibt es zwar auch die Flucht mit dem Schiff, aber es zieht dann rasch ein Sturm auf, der das Fluchtgefährt zum Kentern bringt.

Das letzte Bild bei Sergejew zeigt Konrad und Medora als Schiffsbrüchige, die sich gerade noch auf einen Felsen retten konnten. Jenseitig wirkt das, denn die beiden feiern da glückstrunken ihre Rettung. Aber was für eine Zukunft hätten sie denn, ganz allein, an einer fremden Küste?

"Le Corsaire" bezeugt in München die Lebensfreude.

Jubel beim Schlussapplaus: Nach „Le Corsaire“ von Ivan Liska beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist ein zwiespältiges Happy Ending, das sich in der Sowjetunion während deren Endzeit etabliert hatte. Einerseits schien da alles eitel Sonnenschein, weil das Liebespaar ja gerettet war. Andererseits waren die Aussichten auf Glücksvermehrung eher karg. Es war also ein trügerisches Happy End, das viel mehr versprach als es offenkundig halten konnte.

Ivan Liška jedenfalls war froh, als sich herausstellte, dass er in seiner Version, die auf Marius Petipas Fassung von 1899 beruht, ein „realistischeres“ Ende hat.

Für ihn steht außerdem fest, gerade im Hinblick auf die Zukunft des Balletts in München: „Das Stück hat seine Berechtigung nicht nur wegen der Tänzer, sondern auch wegen der Zuschauer. Es ist ein unersetzbarer Teil des Repertoires vom Bayerischen Staatsballetts – gerade im Hinblick darauf, dass wir hier auch Stücke von Richard Siegal und anderen modernen Choreografen haben.“

Liška weiter: „Das Ballettpublikum in München ist freundlich-kritisch. Das ist darauf zurückzuführen, dass es weiß: Hier wird es immer wieder etwas Ungewöhnliches erleben.“ Dem kann man nur beipflichten. Ein Blick beim Schlussapplaus der Wiederaufnahme von „Le Corsaire“ ins Publikum zeitigt zudem: Standing ovations!
Gisela Sonnenburg

Weitere Termine: siehe „Spielplan“. Und am 8. November 2015 trat Ivan Liska in der Rolle des Pascha auf – zu seinem 65. Geburtstag!

www.bayerisches-staatsballett.de

ballett journal