Wie die Liebe es erzählt Das Ballett der Superlative: „Die Kameliendame“ von John Neumeier mit Stargast Artem Ovcharenko vom Bolschoi und Alina Cojocaru in der Titelrolle beim Hamburg Ballett

Artem Ovcharenko und Alina Cojocaru in „Die Kameliendame“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Im „Blauen Pas de deux“ trägt sie ein blauviolettes Kleid – und er ist ein anderer Onegin, ein Möchtegern-Dandy, ein junger Mann ohne Erfahrungen, der sich Hals über Kopf in die Lebedame verliebt. Foto: Kiran West

Dieses Ballett ist das größte Geschenk, das ein Choreograf den Tanzliebenden machen konnte. Es thematisiert die Lieblingskinder des Tanzes – die Liebe und die Sehnsucht – und es macht trotz tragischen Ausgangs Hoffnung auf eine weniger kalte, weniger missverständliche, weniger materialistische Welt. „Die Kameliendame“ von John Neumeier, 1978 für Marcia Haydée und das Stuttgarter Ballett unter Hochdruck und fast wie eine Notlösung entstanden und 1981, wieder mit Marcia Haydée, in der Hamburgischen Staatsoper erweitert, gekürzt und überarbeitet, ist ein derart kolossaler Geniestreich, dass das Stück für viele Fans und Experten den Evergreen vom klassischen „Schwanensee“ in der Beliebtheit wie auch an Bedeutung überholt hat. Das ist nicht nur beim Hamburg Ballett, sondern weltweit so. Jede große Ballerina will die Titelrolle tanzen, nicht mehr nur den weißen und den schwarzen Schwan, und Ballerinos sehen sich am liebsten als Armand, den Liebhaber der „Kameliendame“. Mit Alina Cojocaru in der Titelpartie und Artem (sprich: „Artjom“) Ovcharenko vom Moskauer Bolschoi Theater tanzt das Hamburg Ballett eine hochkarätige Einstudierung.

Zu Beginn kommt Nanina, die hinterbliebene Dienerin der Titelfigur, auf die Bühne. Patricia Friza macht das mit bemerkenswerter Präsenz, hat die richtige Mischung aus Wehmut, Trauer und Glücksgefühlen der Erinnerung im Gesicht.

Denn sie kommt nicht mehr oft in diese Wohnung, in der sie Jahre lang diente und die ein Hort des skurrilen Luxuswahns des 19. Jahrhunderts war.

Jetzt werden die Teppiche aufgerollt, die Bilder sind schon abgehängt – die Auktion steht bevor, man will alles zu Geld machen. Nanina kann das Tagebuch ihrer einstigen Herrin retten…

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In dieser melancholischen ersten Szene, die so cineastisch wie ein filmischer Prolog wirkt, sind bereits etliche Details enthalten, die man bei einmaligem Sehen kaum alle begreifen kann.

So stolpert der Assistent vom Auktionator mit einem Stapel Bücher vor sich hin, als wollten die gedruckten literarischen Werke verhindern, dass die einst so mit Leben und Liebe gefüllten Zimmer der „Kameliendame“ ganz profan entrümpelt und leergeräumt werden. Borja Bermudez, der in dieser kleinen, aber feinen Partie debütiert, strengt sich mächtig an, aus seinem Hinfallen einen dramatischen Akt zu machen – und das gelingt ihm vorzüglich.

Die jungmännliche Aktion bereitet zudem auf das Erscheinen von Armand vor.

Ach! Mit großer Erregung im schönen Gesicht stürmt Artem Ovcharenko als Armand Duval auf die Bühne.

Die Haare romantisch lang, die schönen Augen weit aufgerissen, die muskulös-schlanken Beine wieselflink und die Hände sanftmütig erhoben:

Via Instagram konnte man schon ein Probenfoto sehen: Artem Ovcharenko und Alina Cojocaru proben hier „Die Kameliendame“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett. Faksimile von Instagram (Fotograf dort anonym): Gisela Sonnenburg)

Ovcharenko hat die Anmut, die diese Rolle verlangt, in höchstem Maße – und wie er so dasteht, im Chaos des geleerten Raumes, der das etwas unheimliche Flair einer überdimensionierten Rumpelkammer hat, ist er der Mensch an sich auf der Suche nach seiner Vergangenheit.

Es ist bereits erschütternd, ihn nur so dastehen und um sich schauen zu sehen!

Armand kommt aus Ägypten, aus einer Reise, in die er sich aus Liebeskummer stürzte, während die Frau, die er liebt, ohne ihn in Paris zu Grunde ging. Jetzt ist es zu spät, sich von ihr zu verabschieden – nur die Reste ihres Lebens stehen noch zur Verfügung, um an sie zu erinnern.

Das ovale Portrait, das, mit einem Schild mit der Katalognummer versehen, auf der Couch steht, zeigt hingegen die einstige Bewohnerin selbst. Ihr sanfter Blick aus dem schönen Ballerinengesicht, umrahmt von dunklem Haar, ähnelt dem von Alina Cojocaru. Nicht zufällig, denn sie – diese großartige Ballerina von Welt, die seit 2011 regelmäßig bei Vorstellungen vom Hamburg Ballett gastiert – tanzt in dieser Besetzung die Titelrolle.

Und wie! Sie ist, mehr noch als in den letzten Jahren, in denen sie diese Partie in Hamburg und auch in München beim Bayerischen Staatsballett tanzte, zugleich gereift und auch feinsinniger geworden, immer sicherer in den schwierigen Schritten und Spielphrasen. Man kann sagen, dass sie die Rolle der Marguerite Gautier so verinnerlicht hat, dass sie die „Kameliendame“ regelrecht atmet.

Liebe unter Hochdruck: Alina Cojocaru und Artem Ovcharenko im „Weißen Pas de deux“ in John Neumeiers „Kameliendame“. So viel Gefühl! Foto: Kiran West

Und das wörtlich: Nur Alina Cojocaru darf – und das nur mit dem Hamburg Ballett – an einigen Stellen im Stück laut ausatmen, was mal wie ein Seufzen, mal wie ein Stöhnen klingt. Das ist kein Husten (was diese tuberkulosekranke Hauptfigur stets durch stummes Schütteln oder Biegen des Oberkörpers andeutet), sondern ein mit heller Stimme vollführter eigenartiger Klang, den so nur Alina Cojocaru beherrscht. Er steht für ihr Flehen um Liebe – und für ihre Anstrengungen, diese selbst zu geben.

Dabei ist die „Kameliendame“ eine Meisterin der nicht echten Liebe. Als Luxuskurtisane führt sie ein abwechslungsreiches Leben im Paris des mittleren 19. Jahrhunderts. Ihren ersten Auftritt hat sie als Zuschauerin einer Theater-im-Theater-Szene.

Armand erinnert sich an diesen Abend, an dem er ihr begegnete und sich sofort in sie verliebte.

Er und sein Vater memorieren die Geschichte der ungewöhnlichen Liebe zwischen Armand und Marguerite in Rückblenden, wobei der Vater – sehr fein und dennoch mit der nötigen Autorität von Carsten Jung getanzt – nicht nur Fürsorge, sondern auch ein destruktives Element verkörpert: Er wird Marguerite abverlangen, auf Armand zu verzichten, um dessen gesellschaftliches Vorankommen nicht zu gefährden.

Doch zunächst muss sich diese starke Liebe überhaupt erst entwickeln. Zunächst flirtet Marguerite mit anderen – wie mit dem Grafen N. (Marià Huguet sprang für Konstantin Tselikov – gute Besserung! – ein und spielt die komische Note der Partie voll aus).

Die Theatervorführung, der sie zunächst scheinbar tändelnd beiwohnt, hat dennoch prägenden, symbolhaften Charakter: Es handelt sich um das Thema der Manon Lescaut, jener im Roman von Abbé Prévost berühmt gewordenen barocken Kokotte, die in einer Strafkolonie in den Armen ihres Geliebten stirbt.

Silvia Azzoni ist eine hinreißend lyrische, schwebende, leidenschaftliche Manon, und Alexandre Riabko wirbelt sie als Des Grieux leichthändig durch die Luft, als sei sie aus Chiffon gefertigt.

Heißblütig und leidenschaftlich: „Carmen la Cubana“ reißt mit, bietet Tanz und Gesang vom Feinsten – und zeigt die Geschichte von Liebe und Tod mal ganz anders als in der Oper gewohnt. Das kann nur Musical! Und hier geht es flink zu den Tickets… Viel Vergnügen! Faksimile: Anzeige

Marguerite tanzt hier ebenfalls, denn in ihrer Fantasie hat sie eine starke Beziehung zu Manon. Im dem Ballett zu Grunde liegenden Roman liest Marguerite die Geschichte der Manon Lescaut, das Buch mit ihren handschriftlichen Anmerkungen spielt eine große Rolle darin.

Hier ist es der Tanz der Manon Lescaut, der Marguerite anregt und immer wieder auf das eigene Schicksal stößt.

Für einen Moment wird die Ähnlichkeit dieser barocken Figuren zu Marguerite und Armand deutlich: Sie stehen sich – jeweils die Männer und Frauen zueinander gewandt – spiegelbildlich gegenüber, die Handflächen erhoben und einander (fast) berührend. Dann kann Armand sein Pendant wegstoßen, während Marguerite von Manon weggestoßen wird – ein Hinweis auf die Kräfteverhältnisse hier.

Tatsächlich wird Manon in Marguerites Fantasie immer wiederkehren (einmal auch Des Grieux in der Armands) – und Manon wird eine Art Todesengel für die immer schwächer werdende, am Ende des Stücks in Armut und Einsamkeit an Tuberkulose sterbende Kameliendame.

Im Verlauf des Balletts taucht Manon auch mit ihren Freiern auf, die ihr Geschmeide und Komplimente verehren. Das ist Anlass für exquisite Hebefiguren: drei starke Jungs und eine zarte Dame sind sehr geeignet, um komplizierte Tragefiguren zu entwickeln.

Marcelino Libao, Aleix Martínez und David Rodriguez tanzen mit großer Geschmeidigkeit diese drei Männer, die dem Liebreiz der Manon ebenso erliegen wie ihrer erotischen Offenherzigkeit.

Manon als Schwester-im-Geiste von Marguerite war noch weit weniger als diese in der Lage, sich gegen die materiellen Verführungen zur Wehr zu setzen. Wenn man so will, ermahnt uns das heute an Disziplin gegenüber den ungesunden und unsinnigen Verlockungen der Konsumwelt.

Mit viel Poesie, fantastischen Sängern, origineller Choreografie und einem hervorragenden Live-Orchester hat sich das Musical „Die Schöne und das Biest“ in die Herzen aller getanzt, die es gesehen haben. Kein Grund, es sich nicht nochmal anzuschauen – oder endlich zum ersten Mal hineinzugehen! Viel Spaß! Und die Tickets gibt es hier auf einen Klick! Faksimile: Anzeige

Aber im Ballett hat Manon vor allem die Funktion der Traumfigur, die der Kameliendame auf höchst poetische Art und Weise beim Abschiednehmen vom Leben hilft.

Marguerite wird übrigens „Kameliendame“ genannt, weil sie stets ein Sträußchen Kamelien bei sich trägt. Als Kokotte hat sie solchermaßen ein Erkennungs- und Markenzeichen bei sich.

Am ersten Abend mit Armand trägt sie allerdings eine rote Rose am Dekolleté, die zu ihrem blauviolettglänzenden Kleid einen seltsam auffallenden Kontrast bildet.

Der erste große Pas de deux der beiden ist einer von drei Paartänzen, die die Beziehung von Marguerite und Armand illustrieren, und alle drei sind sowohl nach den Kleiderfarben der Dame benannt als auch einzeln als Gala-Beiträge weltweit begehrt und berühmt.

Der Blaue Pas de deux, als „Spiegel-Pas-de-deux“ vor einem großen Standspiegel beginnend, bezeichnet die Werbung des jungen, unerfahrenen Armand um die Liebe der erfahrenen Frau, die nun erstmals aus Freude am Partner statt an seinem Geld eine Affäre eingehen wird.

Artem Ovcharenko und Alina Cojocaru im „Blauen Pas de deux“ auf dem Kanapee mit dem Spiegel… hier entsteht ihre Liebe, in John Neumeiers genialem Ballett „Die Kameliendame“. Foto: Kiran West

Es ist der Interpretation von John Neumeier des Romans von Alexandre Dumas dem Jüngeren (1848) zu verdanken, dass die Personenzeichnung hier so deutlich ist. Im Roman nämlich bleibt Marguerite verschwommen-jugendlich, naiv-verkitscht, während Armand als verführter und irre geleiteter Jüngling sein Seelenleben ausbreiten und jede triebhafte Regung darin als weltbewegend schildern darf.

Hier, im Ballett, sind die Partner emanzipiert: Auch Marguerite hat ein seelisches Profil, das über Sexiness und Edelmut hinaus geht.

So hadert sie beim Blick in den Spiegel mit sich, erkennt ihr Altern und ihren krankheitsbedingten Verfall – und fühlt sich benutzt, von einem sinnlos dahin hastenden Leben von sich selbst entfernt.

Als Armand eintritt, sorgt er sich sogleich um sie.

Ein körperlicher Dialog der beiden beginnt, in dessen Verlauf er sich mehrfach ihr zu Füßen wirft, sie stürmisch umwerbend, während sie zunächst kokett abweisend, dann aber zunehmend ihm zugewandt agiert.

Zwei Mal liegen sie hier sogar schon aufeinander, mit inniger Heftigkeit – und auch die bedeutenden Hebungen dieses Pas de deux sprechen von leidenschaftlichem Begehren.

John Neumeier – mit Unterstützung von Kevin Haigen bei der Hamburger Überarbeitung 1980/1981 – schuf hier getanzte Psychogramme der beiden Liebenden.

Artem Ovcharenko als Armand – hier hat er ein wenig Ähnlichkeit mit Rudolf Nurejew, den er in einem Biopic auch darstellte. Foto (Ausschnitt): Kiran West

Armand changiert zwischen Devotheit und Kraftakten, um sich als Mann vorzustellen. Marguerite, von seiner Gefühlsstärke überrascht, erklärt ihrerseits in gedrehten Arabesken und Développés ihre Situation. Ja, sie sehnt sich auch nach einer rückhaltlosen Liebe ohne finanzielle Interessen – und ja, sie findet ihn hierfür geeignet.

In Hebungen, die die Dame über dem Kopf des Herren in eine schwebende Horizontale bringen – durchaus von „Giselle“, vor allem aber auch von „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton, dem Vorläufer-Ballett zur „Kameliendame“, inspiriert – finden sie die Besonderheit ihrer Beziehung.

Am Ende übergibt sie ihm ihre Rose, wenn diese verblüht sei – also am nächsten Abend – sollen sie sich wiedersehen.

Artem Ovcharenko gestaltet die Person des Armand ohne Übertreibung, aber mit so viel lyrischem Charme, dass man die Kameliendame nur zu gut versteht.

Zwischen ihm und Alina Cojocaru brennt die Luft – es ist eine Leidenschaft und eine Seligkeit zwischen beiden, die dann vor allem auch im Weißen und später auch im Schwarzen Pas de deux ihren Ausdruck findet.

Denn das Paar beschließt, dem Trubel der Stadt zu entkommen und den Sommer auf dem Land zu verbringen. Ihre Freunde kommen mit – Marguerite leitet ja einen regelrechten kleinen Hofstaat.

Ganz in Weiß sind die Szenen auf dem Land gehalten; links auf der Bühne steht das schwarze Piano, an dem Ondrej Rudcenko die sanften Melodien von Frédéric Chopin spielt, während die Bühne ohne Blumenmalerei oder Baumkulissen auskommt. Und doch ist es unverkennbar dieses neckische Dorf Bougival vor den Toren von Paris, in das sich die vergnügte Gesellschaft in der Sommerhitze flüchtet.

Hier kommen auch die prägnanten „Nebenrollen“, die allesamt interessante Parts sind, zum Tragen.

Da ist Gaston, der Freund, der Armand und Marguerite bekannt machte.

Hier sehen wir die Gesellschaft auf dem Lande in einem dramatischen Moment: Der Herzog (Dario Franconi) unterbricht das muntere Landleben, um Marguerite den Umgang mit Armand zu verbieten. Foto: Kiran West

Kiran West, der heutige Fotograf vom Hamburg Ballett, tanzte den Gaston einst mustergültig, hin- und hergerissen zwischen nimmersatter Lebensgier und schalkhafter Beobachtungsgabe.

Jetzt verkörpert Jacopo Bellussi diesen typischen Vertreter der Pariser Gesellschaft – und er verleiht dem Part eine ausdrucksstarke, jugendliche Frische, gepaart mit tänzerischer Präzision, die einen staunen macht.

Sein Solo im Reiterkostüm mit Reitpeitsche hat die Süffisanz des dominant agierenden Herren, während die Pirouetten und Beinausstreckungen durchaus lasziv zu nennen sind.

Als Trio, mal mit zwei anderen Burschen, mal mit Nanina und Prudence, sorgt er zudem für heftige Lacher!

Prudence ist, in dieser Besetzung allemal, immer einen zweiten Hingucker wert. Madoka Sugai tanzt diese mit Marguerite geschäftlich befreundete Kokotte so köstlich-raffiniert, mit so viel sprühender Sinnlichkeit und Lebenslust, dass man am liebsten aufspringen und ebenfalls nur noch auf Zehenspitzen durchs Leben tänzeln möchte.

Ihr Solo mit gebauschtem Volantrock und spielerisch gehandhabtem Strohhut ist außerordentlich verzwickt, enthält es doch Drehungen und Schritte von der Spitze auf die Spitze, ohne abzusetzen, aber bei Sugai hat man den Eindruck, es sei kinderleicht.

Madoka Sugai als Prudence und Jacopo Bellussi als Gaston – ein brillantes Paar in der „Kameliendame“, und wer weiß, ob sie nicht kommende Saison auch schon die Hauptrollen tanzen werden… Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Sie und Gaston ergeben ein mitreißendes Paar – und Prudence tanzt denn auch ihre Soloschritte um Gaston herum, es ist die Werbung einer Frau um die Liebeskraft eines Mannes.

Aber bitte, keine Heiratsabsichten sind hier zu vermuten!

Schließlich wirft sich Prudence mit dem Podex auf ein ihr zugeschobenes, spitzenbesetztes Paradekissen – und flirtet flugs mit einem anderen.

Es ist die Leichherzigkeit und der Lebensspaß, die sich in dieser Szene so wunderbar unmittelbar äußern!

Eine Kissenschlacht erhöht das Vergnügen nur noch…

Bis – mit dunklen Klängen vom Klavier her – der Herzog auftritt.

Er, von Dario Franconi mit eleganter, aber unnachgiebiger Strenge getanzt, hält Marguerite seit langem aus, ohne mir ihr zu schlafen. Er hatte eine – an Tuberkulose verstorbene – Tochter, der Marguerite ähnlich sieht. Und mit der Launenhaftigkeit eines Mannes, der dabei versucht, Gutes zu tun, glaubt er, Marguerite heilen zu können, wenn er sie unter Forderung nach einem ruhigen Lebenswandel finanziert.

Er will dem fröhlichen Treiben auf dem Lande ein Ende bereiten.

Alina Cojocaru, Florencia Chinellato und Artem Ovcharenko auf dem Herbstspaziergang in Paris in der „Kameliendame“… keine glückliche Menage à trois! Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Armand, eingeschüchtert, will schon gehorchen – da umfasst ihn Marguerite und wirft, statt ihres neuen Liebhabers, ihren Juwelenschmuck dem Herzog vor die Füße. Als wolle sie sagen: „Da hast du deinen Kram, deine Diamanten haben mich nicht glücklich gemacht!“

Entsetzt zieht sich der Herzog zurück. Und Prudence steckt unbemerkt das funkelnde Collier ein, für harte Zeiten, man kann ja nie wissen…

Alina Cojocaru auf den Schultern von Artem Ovcharenko im „Weißen Pas de deux“ in der „Kameliendame“ von John Neumeier: eine Erfahrung fürs Leben, sie zu sehen! Foto: Kiran West

Endlich sind Armand und Marguerite allein. Und tanzen mit dem Weißen Pas de deux eine Ballade der Zärtlichkeit, die in der Ballettgeschichte ihresgleichen sucht.

Wieder hebt Armand sie weit über sich hinaus hoch, dieses mal streckt sie den Oberkörper noch zusätzlich empor, reckt den rechten Arm ganz hoch – als könne sie dort, in luftiger Höhe, nach den Sternen greifen.

In ihrem weißen Volantkleid sieht sie wie eine Braut aus, und Armand in seinem schwarz-weißen Aufzug hat die Anmutung eines Bräutigams.

Zu Armands Kostüm (das er das ganze Stück durch trägt) ist zu sagen, dass es deutlich an ein Ballett von John Cranko anknüpft, dessen Kreation John Neumeier als junger Tänzer in Stuttgart miterlebte: an „Onegin“. Wie dessen Titelfigur trägt auch Armand eine schwarze Weste und einen schwarzen Frack zu schwarzen Leggins – und sein umhangähnlicher Reisemantel könnte nachgerade genau derselbe sein wie der, in dem Onegin zum verhängnisvollen Duell mit Lenski auftaucht.

Florencia Chinellato als Olympia mit Artem Ovcharenko als Armand, im Hintergrund Alina Cojocaru als „Die Kameliendame“ – Liebe, Eifersucht, Todesahnungen… Foto: Kiran West

Der Ausstatter ist ebenfalls derselbe in beiden Stücken: Jürgen Rose, ohne den die größten Ballette der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht wären, was sie sind. Der 1937 in Bernburg an der Saale geborene Bühnenbildner und Kostümdesigner arbeitete nach seinem Studium, das er unter anderem in Berlin absolvierte, an den Stuttgarter Landesbühnen, und zwar als Schauspieler und Bühnenbildner.

Durch die Zusammenarbeit mit Cranko und Neumeier wurde er der Ausstatter für Ballett in seiner Generation – obwohl er auch als Opernregisseur und als Ausstatter weiterer Projekte reüssiert.

Und die tanzgerechten Kostüme, die er schuf, sind nicht ohne Grund bis heute legendär, und jeder, der sie zum ersten Mal sieht, hat den Eindruck, sie seien gerade erst kreiert worden.

Aber so ergeht es einem mit den Choreografien von John Neumeier ja auch!

Alina Cojocaru in den Armen von Artem Ovcharenko als „Kameliendame“ – die Liebenden ahnen, dass ihr Glück nicht von Dauer sein kann. Foto: Kiran West / Hamburg Ballett

Er hat dieses großartige Talent, Zeitgeist und Zeitlosigkeit zu ausdrucksstarker Schönheit zu vereinen, und da er außerdem den Intellekt mit seiner Kunst füttert und bedient, indem er bedeutende Themen aufarbeitet und mit zahlreichen, schlüssigen Inspirationen spickt, macht ihn seine Arbeit zu diesem einzigartigen Tycoon des Balletts, als den man ihn zu Recht immer wieder hoch verehrt.

Ich habe ihn mal „Shakespeare des Balletts“ genannt – und gerade „Die Kameliendame“ ist geeignet, dieses zu manifestieren.

Was wäre das Ballett unserer Tage ohne John Neumeier! Man möchte es sich gar nicht ausmalen, welche Ödnis und Langeweile uns entgegen schlagen würden…

In der „Kameliendame“ subsummiert er die sozialen Konflikte des 19. Jahrhunderts, ohne sie in drastischen Bildern auf die Bühne bringen zu müssen. Aber jedem, der über die Hauptpersonen und das Milieu, in dem sie sich bewegen, nachdenkt, muss klar werden, dass die finanziellen und gesellschaftlichen Zwänge hier die Weltkulissen hin- und herschieben. Sie sind es, denen die Liebe geopfert wird, sie sind es, die die Liebe fressen, um Grausamkeit und Isolation auszuspucken.

Silvia Azzoni auf den Armen von Alexander Riabko: das traurige Ende von Manon Lescaut in der „Kameliendame“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Wunderschön getanzt, sehr ergreifend! Foto: Kiran West

Denn natürlich ist Marguerite nicht aus tändelndem Spaß an der Sache Prostituierte geworden. Natürlich leidet sie unter der Hand am Verkauf ihrer Ware, die ihr Innerstes und Intimstes berührt.

Zugleich aber ist dieser Beruf hier aber auch eine Metapher für jene Selbstveräußerung, die die Gesellschaft jedem ihrer Mitglieder bis zu einem gewissen Grad abverlangt.

Das macht diese Geschichte der „Kameliendame“ bei John Neumeier so vielschichtig und so wahrhaftig, während der Roman von Dumas durchsetzt ist von kitschigen Lügen. Dennoch ist das Buch lesenswert, als Recherche, um das Ballett noch besser zu verstehen, allemal.

Aber die tiefen Dimensionen, die Liebe wirklich haben kann, erschließen sich in Neumeiers Ballett viel eher als in der Botschaft des Romans, die letztlich in einen recht platten Fatalismus mündet.

Die Tragik der beiden Liebenden Marguerite und Armand besteht darin, dass beide nicht finanziell unabhängig und vermögend genug sind, um nur für ihre Liebe zu leben.

Das ist nun ein Umstand, der sehr viele Menschen betrifft. Man muss sich zudem fragen, ob Liebe überhaupt entstehen kann, wenn Menschen völlig unabhängig sind.

Liebe als Geben und Nehmen zwischen Personen ist angewiesen auf Bande und Verbindungen, die diese Personen zueinander bringen können. Eine totalitäre Liebe kann sich in Briefkontakt ebenso wenig erschöpfen wie in wenigen Feierabendsmomenten.

Ein Grundproblem der Partnerschaft!

Der Mensch an sich lebt in Verhältnissen, wie auch immer sie geartet sind. Oft genug steht die Liebe für die Illusion oder auch reale Möglichkeit, aus den bestehenden Verhältnissen auszubrechen und neue, bessere für sich zu finden. Ganz frei aber ist der Mensch nie – und nicht selten vereinnahmt ihn das Leben, das Überleben, zu sehr, um einer wahren Liebe wirklich Gehör zu leihen oder eine solche entwickeln zu können.

Alina Cojocaru und Carsten Jung: „Die Kameliendame“ wird vom Vater ihres Geliebten unter Druck gesetzt, ihren Liebsten zu verlassen – um dessen Wohl willen. Ein perfider Plan – hätte der Vater den beiden Liebenden nicht helfen können? Man wird viel darüber diskutieren können, wenn man möchte. Wie ist es heute mit unerwünschten Liebespaaren? Foto: Kiran West

Hier nun trifft es die beiden Hauptpersonen wie ein Donnerschlag, wie aus heiterem Himmel. Er, jung und ungebunden, sucht vielleicht ein Abenteuer – und findet die Liebe seines Lebens. Sie, in zahllosen Affären steckend, sucht eine weniger verdorbene, weniger herzlose Erotik. Und sie findet – die große Liebe.

Die sozialen Verhältnisse aber stehen dagegen.

Es ist fraglich, ob die beiden je eine wirkliche Chance haben könnten. Ihr Ruf hat sie in Paris auf den dubiosen Beruf der Kurtisane festgelegt. Und er? Er hat noch nicht mal sein Studium beendet, hat keine Berufsausbildung, keine Stellung, außer der Sohn eines vermögenden Vaters zu sein, der ihm einen Weg vorgezeichnet und geebnet hat.

Beide sind im Grunde Sklaven, also Leibeigene: Sie ihrer Freier, er seines Vaters.

Das Kapital herrscht solchermaßen vollends über ihre Lebensmöglichkeiten. Aber ihre Liebe ist die große Revolte dagegen!

Vielleicht hätten sie ohne ihre tödliche Schwindsucht (Tuberkulose) eine Chance. Könnten alles verkaufen, was ihnen gehört, und mit dem Erlös als Startkapital irgendwo in der Ferne eine kleine Existenz aufbauen. Allerdings ist so ein Vermögen auch schnell aufgelebt, und man hat nicht gerade auf sie gewartet – auf zwei Ausgestoßene, die sich nicht an die gesellschaftlichen Regeln hielten. Überall herrschen Netzwerke und Verbindungen, und wer neu hinzu kommt, muss viel Glück haben, um einen guten Platz zu ergattern.

Hätten sie auswandern können? Das 19. Jahrhundert war die Zeit der großen Auswanderungswellen in die USA, und auch, wenn wir uns die kapriziöse Marguerite und den lebensuntüchtigen Armand nur schlecht als Migranten im mittleren Westen vorstellen können – vielleicht hätte es klappen können, wären beide gesund und robust gewesen.

Sie liebt und sie ahnt ihren frühen Tod: Alina Cojocaru als „Die Kameliendame“. Foto: Kiran West

Aber ach, Marguerite ahnt ihren frühen Tod, TBC war zu ihrer Zeit nicht heilbar, und die Krankheit ist bereits weit fortgeschritten (im Roman spuckt sie Blut, bevor es zur ersten intimen Annäherung mit Armand kommt).

Den wahrscheinlich zunächst gefassten Plan, die verbleibende Zeit mit dem Liebsten zu verbringen, scheitert am Veto von dessen Vater. Er sucht Marguerite zu einem Gespräch unter vier Augen auf – ein intensiver, ergreifender Paartanz entstand zu dessen Übersetzung ins Tänzerische.

Marguerite versucht, ihre Liebe zu Armand auch dessen Vater zu vermitteln. Dieser bleibt zunächst hartherzig, lässt sich dann aber doch anrühren von der vereinnahmenden Gestalt der Liebenden.

In der Sache jedoch bleibt er unerbittlich, und Marguerite gibt ihm nach: Aus gesellschaftlichen – nicht aus moralischen – Gründen wird sie Armand den Laufpass geben, um ihm nicht im Wege zu stehen. Er soll studieren, eine angemessene Partie heiraten, eine Familie gründen, und auch seine Schwester soll standesgemäß verehelicht werden, ohne durch den Ruch eines zweifelhaften Lebenswandels ihres Bruders beeinträchtigt zu werden.

Arbeitsmärkte, Heiratsmärkte – das sind hier die gesellschaftlichen Grundfesten, die die Liebe beerdigen.

Marguerite hält Wort und trennt sich von Armand. Sie reist ab und hinterlässt einen Brief für den Geliebten. Dem bricht fast das Herz, aber sein „Wut-Solo“, als er den Trennungsbrief liest, ist einmalig in der Historie des Bühnentanzes.

Artem Ovcharenko zeigt hier sein ganzes Temperament, seine Wut, seine Verzweiflung, sein Nichtfassenkönnen!

Er hat ja diese Anmut einer Porzellanpuppe, und jetzt wirkt diese im Verein mit seiner emotionalen Stärke wie ein Bewegung gewordener Orkan!

Er läuft anschließend nach Paris, hier im Sturmlauf, im Roman bei Regen und Wind zu Fuß eine matschige Landstraße entlang – und sieht den Freier., den Marguerite bislang stets zurückwies, zu ihr ins Bett kommen.

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Hier muss man eine Anmerkung machen: Es handelt sich um eine frivole kurze Szene, in der Marguerite in einem weißen Chiffongewand liegend kurz im Schlaglicht zu sehen ist, während der Graf sich nackt auf sie legt. So war es Jahrzehnte lang.

In der Einstudierung am Moskauer Bolschoi-Theater 2014 wurde – wohl mit Rücksicht auf die Prüderie der Russen – dem Grafen hier ein völlig deplatziert wirkender, hautfarbener Slip als Liebestöter verpasst, der indes eher peinlich und lächerlich wirkt, als dass er die Erotik der Szene erhalten könnte.

Da nun auch in Hamburg (zumindest in dieser Vorstellung) eine Hosennaht am unteren Rücken des Grafen die Szene ziemlich absurd wirken lässt, sollte man dem jungen Mann entweder ein – szenisch passendes – Handtuch um die Hüften gönnen oder ihn sich wieder mit blitzendem schönen Tänzerhintern hinlegen lassen.

Es geht hier nun mal um Sexualität, und vom Anblick eines unbekleideten Podex auf einer Bühne für eine knappe Sekunde ist wirklich noch nie jemand umgekommen.

Prüderie ist jedoch genau das falsche Signal, das unsere Zeit heute braucht.

Sonst müssen Frauen sich bald entschuldigen, wenn sie ihr Dekolleté zeigen oder einen Minirock anziehen.

Alexandre Riabko, Alina Cojocaru und Silvia Azzoni tanzen einen anrührenden Pas de trois – „Die Kameliendame“ mit den literarischen Figuren in ihrer Fantasie. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Alina Cojocaru jedenfalls hat zum Glück eine bildhübsche Figur, die sie auch gerne zeigt, und seit ihrer Schwangerschaft und Geburt ist ihr Körper sogar noch hübscher geworden.

Nach einer aufwühlenden Begegnung mit Armand bei einem Herbstspaziergang und nach einem Eklat auf einem Ball, bei dem er sie beschimpfte und ihr Geld vor die Füße warf, sucht die Kameliendame ihren ehemaligen Geliebten auf, um ihn um Schonung zu bitten.

Als sie sich ansehen, ist es mit der gezwungenen Haltung zueinander vorbei. Das Begehren übermannt beide, er stürmt auf sie zu, zieht ihr den Mantel aus, nimmt sie an die Hand, in den Arm, sie tanzen, als ginge es zum ihr Leben.

Dieser Schwarze Pas de deux, den man auch als „Versöhnungsfick“ bezeichnen kann – und zwar auch vor Minderjährigen, die man gar nicht früh genug aufklären kann, gerade um sie davor zu schützen, ahnungslos missbraucht zu werden – ist eine einzige Liebeserklärung der beiden Partner aneinander.

Schließlich zieht er ihr das Kleid aus, ihren hautfarbenen Unterrock behält sie an – und Alina Cojocaru sieht darin so entzückend kurvig und weiblich aus, dass man sich wünscht, Ballerinen hätten immer so viel Oberweite.

Artem Ovcharenko in "Die Kameliendame" beim Hamburg Ballett

Artem Ovcharenko und Alina Cojocaru in „Die Kameliendame“, im „Schwarzen Pas de deux“ – Liebe, Versöhnung, Schicksal. Foto: Kiran West

Sie ist wie Wachs in seinen starken Armen, die sie sicher halten und führen – und sowohl ihre zumeist seitlich gemachten Synchronschritte als auch die Hebungen haben die Wirkung von getanzten Liebesschwüren.

Schließlich hält er ihr im Knien auch seine Hand hin – und sie ergreift diese, um ihr Gesicht hineinzuschmiegen.

Noch einmal schwingen sich ihre Körper zu gedrehten Hebungen auf, bis sie passioniert am Boden landen, sie auf ihm liegend.

Natürlich gibt es an dieser Stelle Bravos, denn die akrobatisch-darstellerische Leidenschaft in dieser Szene ist wirklich sehr mitreißend.

Dabei sind die Vorzeichen für beide verschieden: Für Armand handelt es sich um eine Versöhnung, und er hat nicht vor, Marguerite wieder gehen zu lassen, obwohl er sich mittlerweile – auch, um sie zu kränken und eifersüchtig zu machen – eine Kurtisane namens Olympia genommen hat.

Für Marguerite hingegen ist es von Beginn an eine Ausnahme, dass sie Armand überhaupt noch einmal allein trifft. Sie weiß, dass es der letzte Beischlaf ist, den die beiden haben. Und sie genießt ihn umso mehr…

Als sie erwacht, tanzt der Geist von Manon für sie, holt sie gewissermaßen in eine andere Sphäre.

Und auch Armand wird vom Geist Des Grieux’ eingeholt, als er etwas später aufwacht und sich allein zurecht finden muss.

Marguerite hat ihn schon wieder verlassen…

Da all dieses in Rückblenden erzählt wird und Armand den Untergang Marguerites ihren Tagebüchern entnimmt, ergibt sich stets noch eine zusätzliche Handlungsebene, eine Rahmenhandlung auf der Bühne.

Links sitzt Duval, der Vater Armands, der zu hartherzig war, um dem ungewöhnlichen Liebespaar Hilfe zu gewähren (vielleicht hätte er es dank seines Vermögens vermocht). Rechts kauert Armand, das Tagebuch Marguerites lesend. Darin findet er ihre Lebensgeschichte, wie die Liebe sie erzählt. Welche Lektüre für den verliebten, seelisch verletzten jungen Mann!

Während auf der Bühne die Szenen ablaufen, liest und liest Armand sie im Tagebuch.

Artem Ovcharenko tut dieses mit großer Aufmerksamkeit, aber ohne zu drastischen Mitteln zu greifen. Unvergessen ist hier Roberto Bolle, der 2011 als Gast-Armand beim Hamburg Ballett laut schluchzte und Tränen vergoss.

Artem ist dafür sehr intensiv in seiner traurigen Konzentration. Und auch beim Miteinander, mit Carsten Jung als Duval, mit Gaston und Prudence und natürlich mit Alina Cojocaru bemerkt man, wie sehr er die Rolle angenommen hat und sie lebt (nicht nur tanzt).

Armand ist aber auch ein verführbarer Junge!

Florencia Chinellato als spritzig-niedliche, katzenhafte Olympia hat keine Probleme, ihn zu trösten und vor Marguerites Augen zu verführen.

Olympia ist ja kein schlechter Mensch, aber für sie bedeutet die Liebschaft mit Armand ein leichthin getätigtes Geschäft, etwas, das beiden Freude bereiten und zudem ihre Kasse füllen soll.

Ist das anrüchig? Niemand, der der körperlichen Liebe einen hohen Stellenwert einräumt, kann wirklich einverstanden sein mit dem Geschäft der Prostitution. Aber andererseits ist wahre Liebe die Ausnahme im Leben – und Freundschaft, Erotik, Sex müssen da oft genug Ausgleich schaffen.

Zudem haben wir es hier mit einem symbolischen Stückgehalt zu tun.

Olympia steht, wie auch Prudence und Marguerite, für jene Unfreiheit, über sich selbst zu gebieten, die die meisten Menschen in einer Gesellschaft wie der unseren betrifft.

Wer ist schon komplett Herr oder Herrin seiner Zeit und seiner Kräfte?

Artem Ovcharenko in "Die Kameliendame" beim Hamburg Ballett

Alina Cojocaru und Artem Ovcharenko in der „Kameliendame“, im „Schwarzen Pas de deux“ – hoch ästhetisch, dennoch erotisch, so soll die Liebe sein. Ach, und so voller Passion! Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Aber wenn uns ein Armand oder eine Marguerite begegnet, dann sollten wir ihnen Respekt zollen, denn sie haben eine Liebe erlebt, die fast mehr vermocht hat als eine Revolution.

Artem Ovcharenko und Alina Cojocaru haben uns das wieder einmal gelehrt. Großen Dank dafür!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

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