Männer sind die besseren Frauen! Wussten wir das nicht schon immer? Les Ballets Trockadero de Monte Carlo sind angetreten, um das wieder und wieder zu beweisen – auf ballettisch. So werden die Spitzenschuhe hier in Größe 47 getragen. Über die Taillenweiten der Tutus herrscht allerdings peinliches Schweigen. Und die Muskelpakete dieser Ballerinen, zum Beispiel ihre Bizepse und ihre Sixpacks, sind es wert, für Männer-Fitness-Programme als Vorbild herzuhalten. Was ist los im Wunderland des Balletts, in dem Frauen zwar alles dürfen, aber vor allem zart und filigran sein müssen? Die Travestie ist los, genau! Und auf diesem Gebiet haben die „Trocks“, wie man die bunte Truppe auch liebevoll nennt, weltweit praktisch keine Konkurrenz, sie sind die einsamen Spitzenreiter einer Kunst, die sich über Kunst lustig macht und dennoch selbst auch zu dieser Kunst gehört. Was ihren Stil, ihre Brillanz und ihre unnachahmliche Art, Klamauk und Ernsthaftigkeit zu vereinen, angeht, so sind die „Trocks“ also schlichtweg einsame Spitze.
Jetzt sind diese Spitzenreiter ballettöser Komik wieder auf Tournee. In Deutschland gastieren sie im Juli und August 2106, und wer noch keine Karten hat, sollte sich sputen: Fans und Neugierige räumen sonst die Eintrittskarten ab. Und auch unter Insidern wie Startänzerinnen, Choreografen und international tätigen Ballett-Coachs gelten die „Trocks“ als ein „Muss“, zumal sie stetig mit überraschenden neuen Programmen aufwarten.
Man wird also auch im Publikum den einen oder anderen wandelnden Glanz erkennen. Vor allem aber rockt die Show, die die Travestie-Profis aus zig Ländern drauf haben – wie keine zweite.
Siebzehn top trainierte „Ladies“ schlüpfen da in so fantasievolle Rollen wie „Nina die Reglose“- die mit einer unerhörten Balance begabt ist – oder „Helena die Springflut“, die nicht nur ihrem Spitznamen nach so schnell wie ein Wasserlauf und fast so sprunggewaltig wie ein Tsunami ist.
Yakatarina Verbosovich („Yakatarina die Geschwätzige“) und Guzella Verbitskaya („Guzella die Vorpreschende“) sind aber auch nicht zu verachten! Und nur Bruno Backpfeifengesicht, der sich als erster ostdeutscher Überläufer feiern lässt, und Roland Deaulin („Roland der Schnittige“) können einen da noch ablenken.
Worum es geht? Um die Brillanz des Machbaren und die Komik des Unerwarteten. Da kratzt sich – mitten im zweiten Akt von „Schwanensee“ – eine Primaballerina glatt mal am Hinterteil, wenn sie glaubt, dass gerade keiner guckt. Und eine Kollegin von ihr bittet sogar beim hingebungsvoll getanzten Pas de deux mit ihrem Prinzen selbigen, ihr hochgestrecktes Bein rasch noch ein kleines Stückchen höher zu drücken. Na bitte! Der Prinz hilft nach, auch solche Handarbeit ist seine Sache… Das also sind die Tricks der Stars…
Natürlich geht es hier denn auch mitnichten um tierisch ernstes Ballett und auch nicht um ernsthafte Zechprellerei bei der Leistungserbringung. Im Gegenteil: Hier wird gescherzt, bis die Schwarte kracht. Bis die Spitzenschuhsohlen brechen, sozusagen. Oder bis der Primoballerino – und auch ihn gibt es hier in möglichst satirischer Ausfertigung – nicht mehr weiß, ob er nun eigentlich Männlein oder Weiblein ist.
Deftiger Humor ist Trumpf hier! Aber nicht selten blitzt auch die Poesie des Balletttanzens auf, und neben der Virtuosität ist sie es, die dann später für die besten Erinnerungsmomente sorgen wird. Und die „Trocks“ haben Nachwirkung, und zwar mächtig!
Das Ganze ist eine Erfindung der wilden Seventies in New York City. Dort gründete sich, während Andy Warhol vom Underground aus die Kunstszene belebte, 1974 diese muntere Satireballetttruppe, die sich rühmen darf, bis heute in mehr als 600 Städten in über 35 Ländern der Erde bejubelt worden zu sein.
Die wenigen Wochen, die sie jetzt in Deutschland auftanzen, sind bei einer derart international rotierenden Gang nachgerade eine kostbare Zeit mit Seltenheitswert.
Dabei ist die Travestie ein Urding des Theaters, ein grundlegendes Faszinosum in der abendländischen Kultur.
Warum aber lachen wir eigentlich und warum sind wir so fasziniert, wenn uns männliche Rücken im Mieder vorgeführt werden und ein fülliges Tutu das beste Stück am Mann schamhaft verdeckt?
Die Psychologie weiß da Rat: Es geht um den Hinweis auf die eigene Geschlechtlichkeit, die durch das Spiel mit der der anderen ohne Zwang oder Druck betont wird. Man darf sich freier fühlen und sogar besonders perfekt, wenn man sieht, wie toll Menschen aussehen, die mit allerhand Tipps und Tricks ihr Geschlecht scheinbar grundlegend verändern.
Ansonsten ist es einfach der pure Jux! Die schiere Albernheit! Der nackte Wahnsinn!
Und wer nicht glauben mag, wie anrührend und lächerlich zugleich so eine verkleidete Primadonna ist, wenn sie, vornehm trippelnd und leichthin mit den Armen wedelnd, mit den falschen Wimpern klimpert, der sollte erst recht ganz zügig in mindestens eine der Vorstellungen gehen.
Denn der Reiz aus Gelingen und Missglückung, aus Vollkommenheit und vollkommen Danebensein ist kaum woanders so becircend und betörend zu erleben wie in den Showprogrammen der Ballets Trockadero de Monte Carlo.
Ob es nun der ganze zweite Akt aus „Schwanensee“ ist – mit Odette und Prinz und Schwanenmädchen und Originalchoreografie von Lew Iwanow und allem anderen drum und dran sowie mit liebevoll eingeflochtenen Sketch-Momenten – oder ob die George-Balanchine-Satire „Go for Barocco“ lockt: Die „Trocks“ zu lieben oder lieben zu lernen, heißt, sich mit der Sache des Balletts hundertprozentig zu identifizieren.
Sie sind nun mal wahre Töchter der Wonne, die sich dem Tanz in so ungewöhnlicher Weise mit Leib und Seele verschrieben haben, dass man Terpsichore selbst beleidigt, wenn man diese wilden „Trocks“ ignoriert.
Auch Auszüge aus der exzellenten „Paquita“ von Marius Petipa haben sie übrigens drauf, und wem das gepfefferte Temperament der Klassik in dieser Zigeunerscharade noch nicht ganz genügt, der findet in „Don Quixote“, ebenfalls von Marius Petipa, oder im Pas de Six aus „Esmeralda“ (frei nach Petipa) bestimmt sein humoristisch-ballettöses Auskommen.
Aber es gibt noch mehr zu bekichern. Die „Patterns in Space“ parodieren den Bierernst des zeitgenössischen Tanzes, und zwar anhand der kantig-quadratischen Körpersprache von Merce Cunningham.
Der Londoner „Guardian“ schrieb, allein dieses kurze Stück lohne bereits einen ganzen Abend mit den „Trocks“, weil darin Cunninghams Stil „mit liebevoll brutaler Akkuratesse“ nachgerade makellos parodiert werde.
Dabei ist die Kunst der Satire eine nicht hoch genug zu schätzende eigene Kunstrichtung, wenn auch oftmals sinnlos unterschätzte. Dass das Lachen genau wie das Weinen im Theater eine kathartische Wirkung haben kann, wusste indes schon Aristoteles. Aber im Ballett, auch im Modern und Contemporary Dance, ist sie gar zu selten ausgeprägt – eben darum sind die „Trocks“ noch eins wichtiger.
Und sooooooooooo deftig sind die Zoten der maskulinen Bräute hier ja nun wieder auch nicht, als dass man darüber vergessen könnte, mit welch ätherischer Kultur des Schwebens in jeder Hinsicht man es beim Ballett zu tun hat.
Darauf einen Spagatsprung! Eine Serie von Fouettés! Eine fulminante Reihe von battierten Assemblés!
Und sollte jetzt da hinten jemand laut gekichert haben, weil die Superprimaballerina Tatiana Youbetyabootskaya doch mächtig viel Anlauf für einen eher mickrigen Hüpfer nahm – na, sei’s drum, dann wurde der tiefere Sinn des Abends möglicherweise genau erkannt. Aber nur möglicherweise!
Gisela Sonnenburg