Ein Gastspiel im eigenen Haus geben Die „Aspekte der Kreativität“ zeigten bei den 42. Hamburger Ballett-Tagen: Choreografien aus dem Hamburg Ballett und seiner Schule. Überraschendes Highlight: Ricardo Urbina, bald im Bundesjugendballett zu sehen

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Anna Laudere und Dario Franconi in „Anima“ von Edvin Revazov – ihr kompliziert-ästhetischer Pas de deux ist das Kernstück dieser Choreografie. Foto: Kiran West

Das Publikum rief – und John Neumeier und das Hamburg Ballett folgten. Damit Nachwuchschoreografen ihre Arbeiten im großen Haus zeigen konnten. Denn es war wohl auch der Tatsache geschuldet, dass die „Jungen Choreografen“ im Frühjahr in der kleinen Zweitspielstätte der Hamburgischen Staatsoper, der Opera stabile, sozusagen total überbucht waren, dass nun – statt eines Gastspiels einer anderen Ballettcompagnie – eine Auswahl an „jungen“ Arbeiten zu einem Höhepunkt der 42. Hamburger Ballett-Tage wurde. John Neumeier als Impresario – ganz neu ist der Ballettchef in dieser Rolle nicht, aber dass er die kreativen Einfälle der Tänzer im Festival-Rahmen präsentiert, ist etwas Neues. So tanzen seine Tänzer und seine Studenten als Gäste im eigenen Haus. Aufregend!

Stolz tritt Neumeier vor den Vorhang und begrüßt die Zuschauer. „Kreativität ist der Motor unseres Berufes“, sagt er – und meint alle, die mit Tanz zu tun haben. „Und obwohl wir gerne Werke der Vergangenheit neu beleben, machen wir gerne auch etwas, das noch nie da war. Das mit unserem Leben, unseren persönlichen Erfahrungen zu tun hat.“

Um einen „runden“ Abend zu präsentieren, wählte Neumeier aus vielen verschiedenen kurzen und längeren Stücken seiner Tänzer sowie auch seiner Ballettschüler dreizehn Arbeiten aus, die er in zwei Kapitel zusammen fasst.

Der erste Teil heißt „Beziehungen“, der zweite „Ballette des Abschieds“.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Die Alleskönnerin Silvia Azzoni mischt auch mit: Sie inspiriert die jungen Choreografinnen und Choreografen vom Hamburg Ballett natürlich besonders. Foto: Kiran West

Dass die jungen Leute überhaupt neben ihren Vollzeitjobs als Profitänzer oder als Tanzstudent im Ballett-Zentrum in Hamburg noch die Zeit und Kraft finden, um eigene Stücke zu schöpfen, ist bemerkenswert. Wenn dann auch noch mitreißende, berührende, interessante und spannende Werke dabei herauskommen – umso besser.

Und natürlich hofft man darauf, Arbeiten zu sehen, die vom Stil und den Werten John Neumeiers in irgendeiner Hinsicht und in angenehmer Weise geprägt sind.

Als verbindendes Element wirkt in den „Aspekten der Kreativität“ im wichtigen ersten Teil übrigens das Bühnenlicht – oftmals färbte es den Bühnenhintergrund, von unten nach oben zügig verblassend, knallbunt ein, in orangerot oder in rosarot, in tiefblau oder mittelblau.

Die Farben des Himmels beim Sonnenauf- oder untergang sowie der Tagesverlauf wurden so zitiert, die Zeit an sich war somit symbolhaft präsent.

Und wer, wenn nicht die unaufhaltsam verrinnende Zeit, könnte wie eine Gottheit einem solchen Abend allegorisch beiwohnen, der indirekt vor allem von der Zukunft und den Möglichkeiten zukünftiger Choreografien berichtet?

Den Beginn darf die Ballettschule vom Hamburg Ballett machen.

„Self Tensions“, vielleicht mit „Spannungen in sich selbst“ zu übersetzen, von der jungen Pariserin Léa Mercurol zeigt vier Tänzerinnen und einen Tänzer im Tango-Gefüge zu Musik von Astor Piazzola. Die Verteilung der Tanzenden im Raum ist hier sehr gelungen, und es entstehen, zu den wechselnden Stimmungen, ästhetische Tableaus. Ein Paar kurvt lasziv über die Bühne, während die anderen mit sich selbst beschäftigt sind. Manches erinnert in seiner Lockerheit an Stretching-Übungen. Anderes geht aus dem Exercisen-Kanon weit hinaus und wird zur expressiven Geste. So das Hochziehen der Arme an den Beinen entlang bis zum Unterleib – ein schöner Ausdruck für weibliche Begierde!

Der einzige Junge hier (kraftvoll-männlich: Florimon Poisson) hat schließlich das letzte tänzerische Wort.

Wenn die jungen Damen (zart und geschmeidig: Natsuka Abe, Albane Fro, Adriana Gaglio und Veronica Sala) sich bereits in einer Neumeier’schen „Sehnsuchtsgeste“ als Schlusspose positioniert haben und einen Arm ausgestreckt, auch mit ausgestreckten Fingern, gen Himmel ragen lassen, braucht der junge Mann noch einige Zeit, um sich auszuzappeln und dann ebenfalls die Körperspannung in den hoch gereckten Arm zu entladen. Der Mann als Spätzünder. Aber am Ende bilden sie alle zusammen – trotz ihrer Verschiedenheit – ein schönes Standbild: eine Apotheose auf die Lust am Leben.

Da sind viele Ideen in diesem Stück erkennbar, und vieles ist darin zu sehen, das für sich einen Wert hat. Nur als fertiges Puzzle würde ich „Self Tensions“ noch nicht bezeichnen. Als work in progress angesehen, war man aber angenehm überrascht von der Vielfalt an Kombinationen, die sich elegant an die Tango-Musik Piazzolas schmiegten, und die durchaus Hoffnung auf mehr zulassen. Vielleicht sollte as Stück noch einmal poliert und überarbeitet werden, bestimmte Passagen sollten Schwerpunkte werden und der Drive zur Schlusspose sollte sich leitmotivisch von Beginn an entwickeln und diese Spannung auch durchhalten. Dann könnte man von einem richtigen kleinen Meisterwerk sprechen – soviel Potenzial ist nämlich in der Tat selten zu sehen bei Jungchoreografen.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

„Oratio“ von Kristina Borbelyova hat sich ein Trauerthema vorgenommen… zu sehen in den „Aspekten der Kreativität“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

„Bist du wirklich hier?“ fragt dann als zweites Stück eindringlich die ebenfalls Begabung versprechende Choreografie von Ziyue Liu. Vier Mädchen (Marjolaine Laurendeau, wieder Veronica Sala und Rachel Wilton) und zwei Jungs (Simone Dalè und Ricardo Urbina) tanzen hierin eine Fantasie auf die Liebe, die von einem schwarzen Tuch versinnbildlicht wird. Ist die Geliebte anwesend oder nur die Erinnerung an sie? Mit dieser poetischen Unwägbarkeit spielt das Tanzstück, sich der Schwärmerei, dem Drängen und der Passion hingebend.

Da hier Ricardo Urbina mittanzt, der aktuelle Shooting Star der Neumeier’schen Schule, liegt der Focus quasi automatisch auf der tänzerischen Darbietung. Es ist nämlich schier unfasslich, was dieser junge Tänzer an Schnelligkeit, Wendigkeit, Präzision und Sprunghöhe schon alles drauf hat. Zu den schön gestreckten Füßen kommt fast in allem, was er auf der Bühne macht, ein edles Ebenmaß, gewürzt von viel Temperament und dem wichtigsten überhaupt: der Ausdruckskraft. Ab kommender Saison wird er im Bundesjugendballett tanzen – und dort sicher noch mehr lernen, um seine hohe Körperkunst zu verfeinern. Ich schreibe das jetzt gar nicht mal gern, weil ich an sich niemanden so bevorzugen möchte. Zumal auch Simone Dalè ein sehr begabter junger Tänzer ist, mit vielen eigenen Vorzügen und Schönheiten. Aber Ricardo Urbina toppt alles, was ich an Nachwuchsbegabungen jemals habe tanzen sehen. Er kommt mir wie eine männliche Sylvie Guillem vor. Das heißt, man könnte ihn sich durchaus schon vor Antritt des ersten Engagements in einer Hauptrolle in einem seriösen Ballett vorstellen. Für seinen Werdegang ist es aber sicher besser, sich nicht selbst zu verheizen, sondern den Beruf von der Pike auf zu lernen, um sich dann mit genügend Erfahrungen im Umgang mit sich selbst, mit den Kollegen, mit den Chefs und auch mit dem Publikum zu entfalten.

Eine bessere wandelnde Werbung kann sich das Bundesjugendballett allerdings nicht wünschen!

Und dann kann Urbina auch noch choreografieren. Das ist nicht selbstverständlich, denn exzellente Tänzer sind nur selten auch choreografisch begabt. Aber selbstredend gab und gibt es solche Doppeltalente, und hier hat man hier offensichtlich ein Musterexemplar dieser sehr seltenen Spezies vor sich. Man muss Neumeier und sein Team zu diesem außergewöhnlichen Jungen beglückwünschen – und man versteht außerdem anhand der Choreografie „Complex Desire“ von Ricardo Urbina die Zusammenhänge zwischen Tanzen und Tanzschöpfung besonders gut.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Forget the money, take the light! Vergiss das Geld, nimm das Licht! Das möchte man diesem Paar zurufen, wenn Alexandr Trusch drauf und dran ist, die Liebhaberrolle neu zu definieren. Einzelne schöne Momente waren quasi schon von den tollen Tänzern garantiert, bei den „Aspekten der Kreativität“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Ziyue Liu (die junge chinesische Choreografin des Vorstücks), Borja Bermudez und Marià Huguet tanzen hier Soli, Pas de deux und Pas de trois, die als gemeinsame und solistische Sinnsuche zu begreifen sind. Die originelle Musikwahl fiel dabei auf einen untermalten gesprochenen Text von Alan Watts: „What do you desire?“ Es ist großartig, dass hier zu einem Text und nicht zu einer Melodie getanzt wird – seit Jahren warte ich auf solche avantgardistischen Innovationen im Ballett.

Doch zu Beginn ist nur die Stille der Taktgeber. Im Spotlight dreht ein Junge Pirouetten, die Hände wie zum Dach über dem Kopf gefaltet. Das dürfte technisch sehr schwer sein, sieht aber federleicht aus.

Hier geht jemand behütet von sich aus in die Welt hinaus, das vermittelt die Choreo deutlich, und eine starke Konzentration erfüllt sofort den Zuschauerraum.

Es ist ja immer wieder eine schöne Erfahrung, wenn sich von der Bühne soviel Intensität übermittelt, dass es mucksmäuschenstill wird und man für einige Momente die berühmte Stecknadel fallen hören könnte (gäbe es keinen Teppichboden in der Oper).

Weiter vorne beginnt derweil ein Paar zu tanzen, Wellen scheinen durch die Körper zu fluten. Diese Tanzenden stehen für die Außenwelt, mit der der Junge mit den Pirouetten in Kontakt treten will.

„What do you want?“, was willst du, fragt dazu in nölendem Ton die nostalgisch klingende Männerstimme vom Band.

Es wird durchgespielt, ob es sich lohnt, nur fürs Geldverdienen zu leben. „Forget the money!“, vergiss das Geld, rät die Stimme dann. Denn nur fürs Geld zu leben, sei verschwendete Lebenszeit – wie richtig ist das. Armut ist allerdings auch nicht eben eine Garantie fürs Glücklichsein…

Die Kraft, die hier beschworen wird, rät indes dazu, sämtliche Ängste vor Fesseln wie Armut und Krankheit abzulegen und sich entschieden und zielsicher nur auf das zuzubewegen, das man wirklich haben will. Desire, desire, desire. Nur das Eine. Nichts anderes.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Silhouetten vor Abendstimmung – so einen Anblick gibt es öfters bei den „Aspekten der Kreativität“, bei denen die verrinnende Zeit ein heimliches Leitmotiv ist. Kenner vom Hamburg Ballett erkennen hier die einzelnen Tänzer. Zum Beispiel Sasha Riva. Wo ist er? Foto (Ausschnitt) :Kiran West

Da ist das Mädchen, von Ziyue Liu mit großer Disziplin, aber auch ebenso edler Schönheit getanzt. Die beiden Jungs – beide elegant und standfest – tanzen mit ihr, sie heben sie gemeinsam kopfüber hoch, als sei sie aus Papier, und es ist ein beglückender und nicht nur akrobatischer Akt, den die drei vollführen. Der Junge, der aus dem Nichts kam, hat seinen Weg rasch gefunden – dank der Offenheit der beiden anderen.

„What do I desire?“, fragt dazu die Sprechstimme. Der Tanz aber geht weiter: Er fragt auch nach dem „wir“, danach, was alle drei wollen und was gut für alle drei tanzenden Elemente hier ist. Harmonie scheint eine mögliche Antwort.

Doch obwohl es um die Beziehung zwischen den dreien geht, stehen sie auch einzeln prägnant für eine bestimmte Energie ein. Als verkörperten sie drei Elemente, etwa Wind, Erde, Feuer. Die Choreografie legt sich hier nicht fest, aber sie lässt Assoziationsspielraum. Das ist eben auch Talent: anzuregen.

Am Ende legt das Mädchen (Ziyue Liu) seine Hände auf den eigenen Rücken, fast in Schulterhöhe. Auf ihrem schwarzen Kleid heben sich ihre gespreizten Finger gut ab. So geht sie, mit dem Rücken zu uns, langsam gen Bühnenhintergrund… ein sehr lyrisches, leicht melancholisches, aber durchaus auch von Tatkraft sprechendes Bild. Toll!

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Genau. Da ist er, Sasha Riva! Bevor er nach Genf geht, um in einer modern ausgerichteten Compagnie zu tanzen, tritt er beim Hamburg Ballett noch einmal häufig in Aktion. Foto (Ausschnitt): Kiran West

Den Namen von Ricardo Urbina – der ursprünglich Ricardo Urbina Reyles hieß und aus den Sonnenstaaten Mexiko und Kalifornien stammt – muss man sich also unbedingt merken. Ob man nun nur in Hamburg oder international den Überblick haben will über definitives Talent. Bleibt zu hoffen, dass die Versprechen, die er indirekt als Künstler macht, auch eingehalten werden können. Aber dazu ist er beim Bundesjugendballett ja eigentlich in den allerbesten Händen.

„Ultimatum“ heißt das nächste Stück des Abends, es stammt von Filip Clefos, der aus Portugal kommt. Eine siebenköpfige Tänzertruppe (darunter wieder Ricardo Urbina sowie Florimon Poisson, Marià Huguet, Borja Bermudez, Rachel Wilton, Marjolaine Laurendeau und Albane Fro) hottet in dieser Choreo zu elektrischen Beats von Murcof ab, die dem Stück den Titel gaben.

Merce Cunningham fällt einem zu den kantigen Bewegungen ein, nachdem zunächst die Bühnenüberquerung aus John Neumeiers „Le sacre“ vor rotorangenem Hintergrund zitiert wurde.

Dann wird der bis dahin eckige Tanz elastischer, und ein Hüpfen im Liegestütz (wieder von Ricardo Urbina ausgeführt) wirkt auf einmal so tänzerisch, als habe es diese Bewegung schon zu Zeiten von Marius Petipa als Ballettbestandteil gegeben. Man staunt!

Aber auch das alte Indien mit seinem Tempeltanz wird zitiert und umgemodelt: Das Standbein im Plié, halten die Tänzer ihr Spielbein als Attitude nach vorn, den Fuß zum Flex angezogen – und mit der Hand wiederum halten sie sich selbst an dieser hochgezogenen Fußspitze fest. Das sieht ironisch und perfekt zugleich aus, eine sehr hübsche Erfindung ist diese Pose – und alle, die sich mal mit Yoga und Ballett beschäftigen wollen, haben hiermit einen weiteren Grund dazu.

Als Stück an sich ist „Ultimatum“ in meinen Augen allerdings noch nicht ganz ultimativ – da fehlen einfach die dramaturgischen Hintergründe, die die verschiedenen Anklänge mit Sinn verbinden könnten. Diese müssen in Grundzügen ja auch ohne Programmhefterklärungen (die es an diesem Abend sowieso leider gar nicht gibt) auf der Bühne erkennbar sein.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Und noch einmal Sasha Riva: im Schatten-Portrait. Alles Gute für Genf! Ein weiblicher Fan schrieb dem Ballett-Journal übrigens schon, dass man Riva mal nachreisen werde. Vielleicht können sich da Fahrgemeinschaften oder Reisegruppen für die Bahnfahrt bilden? Toitoitoi! Foto (Ausschnitt): Kiran West

Das ist indes ein häufiges Problem von Nachwuchschoreografen – denn die meisten haben Tanz, Tanz und nochmals Tanz studiert und hatten einfach nie die Zeit, sich ausgiebig mit Theater- und Kunstgeschichte, mit Philosophie und Wissenschaft oder ähnlichen Gefilden zu beschäftigen. Tanz pur trägt aber nur eine gewisse Zeit und wäre auf die Dauer ohne intellektuellen Hintergrund auch wirklich langweilig.

Man sollte nicht vergessen: Auch vermeintlich populistische Ballettklassiker wie „Schwanensee“ oder „Giselle“ haben reichlich dramaturgischen Sinn. Damals und auch etwa bei den Ballets Russes im 20. Jahrhundert gab es intensive Kooperationen mit Feuilletonisten und Schriftstellern, mit Opernlibrettisten und gebildeten Komponisten.

Vielleicht sollte man den jungen Leuten von heute dramaturgische Hilfskräfte von den Gymnasien, den Universitäten oder auch aus den Feuilletons zur Seite stellen, die dann bei den Proben anwesend sind und vorher und nachher mit den angehenden Choreografen und Tänzern besprechen, in welche Richtungen ihre Dinge aus bildungskultureller Sicht überhaupt gehen können. Das würde zwei Berufsgruppen nützen: den kommenden Choreografen und den kommenden Ballettdramaturgen. Und das Publikum würde sowieso davon profitieren!

Die Misere von Choreografen, die „nur“ Tänzer sind oder waren und darum keine inhaltssatten Ballette hinbekommen, ist in der Tat ein aktuelles und sicher auch zukünftiges Problem. Selbst choreografische Könner wie Christopher Wheeldon oder Wayne MacGregor kranken daran, dass sie ihre Arbeiten nur rein intuitiv machen und auch nicht weiter begründen können – ihr Rüstzeug ist damit mitunter einfach nicht ausreichend. Und gerade längere oder gar abendfüllende Ballette müssen aus mehr als aus kleinen Ideen bestehen… sonst ist die Gefahr, dass sie zu getanzten Kostümvorführungen verkommen, wirklich groß.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

„Oratio“ („Gebet“) heißt das Stück von Kristina Borbelyova, das allerdings nicht nur zu überzeugen wusste. Aber schöne Hebungen und ein origineller Umgang mit dem weiblichen Kostüm sind darin zu sehen. Foto: Kiran West

John Neumeier und John Cranko, Glen Tetley und viele andere „Altmeister“ hatten denn auch den großen Vorteil, nicht nur Tanz studiert zu haben. Gerade Neumeier widmete sich zunächst dem Studium der Malerei und der Literatur, bevor er ganz zum Ballett ging. Daher sein großer Fundus an Ideen für Ballette, daher auch sein exquisiter Umgang mit Musik, der eben nicht nur auf „Körperideen“ basiert, sondern eine Vielzahl von Quellen in Neumeiers Geist und Seele hat.

Dahin kann man nun mal nicht kommen, wenn man sich immer nur im Ballettsaal aufhält. Auch nicht mit einer Superportion Glück oder mit extra viel Talent. Hirnarbeit benötigt Zeit und Muße, frisst auch Kraft und Konzentration, und was ein Intellektueller in vielen Jahren in seinem Kopf versammelt, kann man nicht nebenbei auch mal eben in einer Woche selbst aufholen.

John Neumeier bildete sich zehn bis fünfzehn Jahre intensiv auf allen möglichen Gebieten, bevor er zum Profi-Tanz ging, und er hörte nie damit auf, sich weiterhin auch für andere Kunst und Kultur, für Politik und Wissenschaft zu interessieren. Dabei begann er bereits als Teenager mit seiner Sammlung von hochkarätigen (auch antiquarischen) ausgewählten Buchwerken. Nun ist er ist ohnehin ein Genie, dessen vielgestaltige Talente man nicht ohne weiteres jedem unterstellen darf. Wer nun aber die Zeit und Kraft so gar nicht aufbringen kann, sich so zu bilden (und von den Tänzern wird heutzutage nach den international gültigen Maßstäben so viel Können an körperlicher Technik verlangt, dass es zwangsläufig sehr schlecht bestellt ist um das ernsthafte Studium anderer Gebiete), der sollte unbedingt lernen, mit anderen Fachleuten als Dramaturgen zusammen zu arbeiten, wenn er als Choreograf mal neue Wege gehen will. Nur so hat auch das große abendfüllende Ballett in Zukunft eine Chance.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Yuka Oishi lässt nicht Puppen lebendig werden, sondern lässt Menschen Puppen tanzen… im Grunde ist das eine Art der Kapitalismuskritik, wenn man es so sehen will. Toll getanzt von Silvia Azzoni und ihrem Gatten Alexandre „Sasha“ Riabko beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Darum sei denen, die es mit der Choreografie ernst meinen, angeraten, sich entweder selbst intensiv zu bilden (wie auch immer das gehen kann, notfalls unter Verzicht auf eine Tänzerkarriere, was allerdings ein Hindernis sein kann, wenn einen die Ballettszene wegen mangelnder Bühnenerfahrung nicht akzeptieren will) – oder sich beizeiten daran zu gewöhnen, mit Geisteswissenschaftlern, etwa Tanz- oder Theaterwissenschaftlern, mit Germanisten, Romanisten, Vergleichenden Literaturwissenschaftlern Religionswissenschaftlern oder Philosophen, zu kooperieren und sie als Dramaturgen anzuheuern oder anheuern zu lassen. Das kann schon bei Kurzballetten fruchtbar sein – denn es geht darum, dass man lernt, Form und Inhalt zu verbinden und eben nicht ideell in der Luft zu schweben und jede Ausdeutung dem Zufall zu überlassen.

Das Vorbild hier ist das Sprechtheater: Regisseure wie Claus Peymann oder Frank Castorf – diese beiden haben meiner Meinung nach als Einzige nachdrücklich die aktuelle Sprechtheaterszene in Deutschland geprägt – hätten ihre Arbeiten niemals ohne prägnante dramaturgische Assistenzen so hinbekommen. Die Kooperationen bestimmter Dramaturgen mit ihnen – etwa Claus Peymann mit Hermann Beil, später mit Jutta Ferber statt Beil, und Frank Castorf mit Carl Hegemann – wurde sogar legendär.

Auch Opernregisseure haben oftmals eine starke Dramaturgie, und seit rund zehn Jahren arbeiten auch bildende Künstler, zumal, wenn sie in den Bereich der Performance oder der Konzeptkunst hineingehen, mit Intellektuellen im Hintergrund zusammen.

Ballette ohne erkennbaren inhaltlichen Hintergrund wirken derweil meistens etwas flach, auch wenn sie noch so bezaubernd ausgearbeitet oder tiefsinnig ersonnen sind.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko – hier nochmal in „Ouroboros“ von Yuka Oishi. Foto (Ausschnitt): Kiran West

Das gilt auch für so manche choreografische Arbeit der Tänzer vom Hamburg Ballett. Die Frische der Berufsanfänger fehlt ihnen oft, und wenn sie dann versuchen, ureigene, fast intime Gedanken in hochtrabende symbolträchtige Bilder umzusetzen, dann gelingt das nicht immer.

„I Giorni e le Notti“ („Die Tage und die Nacht“) von Florian Pohl allerdings beglückt, dank eines sehr gelungenen Pas de deux, den der Choreograf auch selbst tanzt: mit einer exzellenten Ausarbeitung neuartiger Paartanz-Kombinationen.

Hayley Page, eine wunderbare Tänzerin mit viel Elan und Eleganz, hat zunächst ein Solo. Ein zweites Mädchen kommt dazu, insgesamt sind es drei junge Frauen und zwei Männer, die hier im Einsatz sind: neben Hayley Page und dem Choreografen Florian Pohl sind es Yun-Su Park, Lucia Ríos und Lizhong Wang.

Das eigentliche Kernstück aber ist der lang ausgearbeitete Pas de deux zwischen Florian Pohl und Lucia Ríos. Den Tagen, die die anderen Tänzer illustrieren, steht ihre Nacht, eine Liebesnacht, gegenüber.

Und es ist ein besonderer Liebesakt, den die beiden vollführen, in der Luft, im Stehen, am Boden, mit vielen Details, die man so noch nie gesehen hat und die sich zum Ausdruck einer erotisch erfüllten, sinnenhaften Liebe fügen.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

„Kleines Requiem“ heißt das Stück von Aleix Martínez, das sehr anspruchsvoll, aber auch völlig überfrachtet ist und das als Ganzes nicht deutlich wird. Aber einen Versuch war es wert! Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Nur die Musik – von Ludivico Einaudi, Tobi Hofmann, Ulrich Wagenheim und Lorde – war in meinen Ohren falsch gewählt. Irgendwelche Rhythmen und irgendein Geblubber ohne bestimmte Atmosphäre oder Sinnstiftung sind mir einfach zu beliebig, gerade zu der originellen, auch gefühlvollen Choreografie.

Aber der optische Eindruck überwiegt hier bei weitem. So ist der Jubel des Publikums bei dieser wörtlich heißen Choreo einhellig groß – und der sowieso wie ein Starmodel gebaute Pohl hat selbst hierin auch wunderschön getanzt, was von Lucia Ríos als Partnerin nochmals veredelt wurde. Als Gala-Nummer würde dieses Prachtpaar wirklich taugen! Und Florian Pohl ist zu wünschen, dass er diese Energie als Tänzer auch künftig in den Neumeier-Balletten zu zeigen weiß. Vielleicht muss er dazu nur noch stärker aus sich heraus gehen…

Weniger eindeutig, dafür fließender und sozusagen „romantischer“ in einem modernen Sinn ist der Pas de deux „Bivio“ von Florencia Chinellato. Silvia Azzoni und Sasha Riva tanzen ihn – Riva tanzt übrigens in vier verschiedenen Stücken an diesem Programm, ein Zeichen dafür, wie inspirierend und auch tanzwütig er ist. Man wird ihn sehr vermissen in Hamburg, denn er wechselt nach Genf, in die Schweiz also, in eine betont moderne Compagnie. Die guten Wünsche des Nordens werden ihm noch lange dorthin nachhallen!

Mit Silvia Azzoni ist er ein erhabenes Paar, es ist keine heiße Liebe auf den ersten Blick hier, sondern Chinellatos Arbeit zeigt eine elegische Beziehung, deren Aufs und Abs ganz unprätentiös mit zugeneigten Köpfen im Sitzen auf dem Boden enden. Hebungen und Gesten, zum Teil sehr konkret wie das Wenden des Kopfes des anderen mit der eigenen Hand, bestimmen die Nähe und Distanz der sich verändernden, insgesamt nämlich festigenden Paarverbindung.

Markant, spritzig und peppig kommt das „Solo für zwei“ von Konstantin Tselikov einher. Zwei Stühle und zwei Menschen, die darauf sitzen, sehen wir in zwei Lichtkreisen: Madoka Sugai und Alexandr Trusch. Zur barocken Musik von Johann Sebastian Bach tanzen die beiden höchst modern: erst jeder mit sich und dem Stuhl, dann auch miteinander.

Schöne Pirouetten sowie ein witzig-schnelles Herumlaufen um den eigenen Stuhl wie um den des anderen dominieren den ersten Eindruck – die beiden scheinen die Annäherung zu üben, wobei der eigene Stuhl als jeweiliger Bezugspunkt bleibt. Zusammen gefallen die zwei einem am besten, sie haben ganz sicher noch viel tänzerisches Potenzial miteinander.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Anna Laudere und Dario Franconi als Nahaufnahme im schönen Pas de deux aus „Anima“ („Seele“) von Edvin Revazov. Foto (Ausschnitt): Kiran West

Alexandr Trusch, der Wundertänzer, ist ja schon fast versiert zu nennen; als jüngster Erster Solist beim Hamburg Ballett hat er mit den Damen im ballettösen Aufriss (also Paartanz) einfach auch Übung. Madoka Sugai zeigt hier zudem ihre moderne, virtuos angehauchte Ader, die sie auch schon beim Bundesjugendballett gelegentlich aufblitzen ließ.

Am Ende sitzen die zwei wieder auf „ihrem“ Thron, jeder auf seinem Stuhl. Ja, so etwas gibt es im Leben auch. Auch ohne spektakuläre Pointe ist Tselikov ein neckisches Stück gelungen.

Yuka Oishi hingegen hat mit ihrem ersten Teil von „Ouroboros“ etwas gemacht, das beinahe in den Entertainment-Bereich gehört und doch ganz große Klasse ist: Sie lässt die Ersten Solisten Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in die Rollen von Automatenmenschen schlüpfen, sie bewegen sich also ähnlich wie jene Spielfiguren, die im 19. Jahrhundert erfunden wurden und noch lange auf Jahrmärkten für Attraktionen sorgten.

Mit venezianischen Masken und in edler Kostümierung tanzen die beiden mit Grandezza das Puppen-Stakkato, „Coppelia“ könnte da nur staunen!

Wirklich liebenswert ist das anzusehen, die Brillanz besticht und die Marionettenhaftigkeit berührt. Heinrich von Kleist hat ja in einem berühmten Essay über die Faszination der Marionetten geschrieben („Über das Marionettentheater“) – und genau diese Rührung erzielen in der Tat auch so hervorragende Ballettprofis wie Azzoni und Riabko, wenn sie die Puppen imitieren.

www.hamburg-ballett.de

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in „Ouroboros“ von Yuka Oishi in den „Aspekten der Kreativität“. Foto: Kiran West

Aber natürlich soll es hier eine zweite Ebene geben, und die Masken weisen deutlich darauf hin, dass hinter dem Anschein von Puppen die Menschen stehen.

Wie befreit darf das Paar dann auch „menschlich“ tanzen, also legato und sehr fließend – was dem Marionettentanz im Nachhinein eine gesellschaftskritische Note verleiht. Trotzdem lebt das Stück vom Anfangseffekt, der einen richtig zu vereinnahmen weiß.

Ganz anders kommt dann „#theStruggleisReal“ von Marcelino Libao daher. Puh, selten liest man einen so kryptisch aufgemachten Titel im Ballett! Das #, die „Raute“, spielt in manchen Bedienmenüs eine Rolle. Und „derkampfistecht“ soll wohl die Atemlosigkeit des heutigen Überlebenskampfes spiegeln. Aber ist das nun künstlerisch?

Als sich der kürzlich verstorbene Popstar Prince einstmals in eine Chiffre umbenannte (das war in den 90er Jahren, ist also schon eine Weile her), da wollte er sich absetzen von der Masse und schockieren. Heute wirkt das Mittel der De-Alphabetisierung hingegen ein bisschen abgegriffen.

Man muss in der Kunst vorsichtig sein mit allem, was zu sehr gewollt – oder krampfhaft originell, krampfhaft locker – aussieht.

Das gilt auch für die Choreo.

Dabei fängt es ganz gut an. Zunächst kommt die Primaballerina Leslie Heylmann im Glitter-Herren-Jackett auf die Bühne, auf der zudem vorne links ein verdörrter, blattloser, stacheliger, silbergrauer Baum steht. Wäre nun hier eine Beziehung zwischen Tanz und Natur vorhanden, so wäre alles in bester Ordnung.

Aber die Tänzerin darf keinerlei Relation zum Baum aufbauen, sie muss ihn laut Choreografie einfach ignorieren, ohne, dass das einen Sinn ergäbe. Aber wer könnte ein so komisches Baumkonstrukt einfach übersehen? Schon hier fehlt es am dramaturgischen Denken des Choreografen – Marcelino Libao hätte zweifelsohne von einer Beratung von außen profitiert.

Leslie Heylmann tanzt derweil versonnen mit sich selbst, bis weitere Tänzerinnen und Tänzer kommen, ebenfalls im Glitter-Jackett. Auch sie finden den verdörrten Baum normal, ihr Tanz steht in keinerlei Beziehung dazu, auch nicht emotional.

Zum Vergleich: Es gibt in John Neumeiers Ballett „Winterreise“ ebenfalls einen auffallenden Baum. Dieser hängt, ein grünender Laubbaum, kopfüber aus dem Schnürboden, über einer Treppe, die tänzerisch einbezogen ist. Dieser Baum, eine Linde, spiegelt die Stimmung des Tanzes: ein leicht schräges, melancholisches, sinnverwirrendes Abenteuer ist das Stück. Wenn sich die Tänzer unter dem Baum bewegen, dann hat ihr Tanz eine Beziehung zu dem Requisit, und zwar auf der emotionalen Ebene (nicht auf der Handlungsebene, was indes auch denkbar wäre). Zudem zitiert der kopfüber hängende Baum den Beginn der Romantik, denn damals hängte man Weihnachtsbäume kopfüber von der Zimmerdecke auf. Und da es ein Lindenbaum ist, wird auch das Volkslied-Element, in dem die Linde im Deutschen eine große Rolle spielt, mit zitiert.

Der Bühnenbaum hat bei Neumeier also mannigfaltige Funktionen in dramaturgischer Hinsicht – und ist darum nicht kitschig und auch nicht überflüssiges Dekor. Bei Marcelino Libao hingegen steht der verdörrte Baum wie ein Menetekel oder Kultbaum da, ohne, dass der Tanz mit der vertrockneten Natur korrespondieren würde.

Auch im „Messias“ von John Neumeier gibt es einen vertrockneten Baum, einen, der wie aus einem Drama von Samuel Beckett anmutet. Er ist nämlich schon tot, dieser Baum, und er steht als mahnendes Denkmal für die Endlichkeit der Natur und des Lebens. Der Tanz entspricht dem: Es geht keineswegs um fröhliche Stressbewältigung oder so etwas, sondern um die letzten Dinge. Auch so eine Lösung zwischen Bühnenbildsymbol und Tanz ist möglich.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Es gibt nur wenig Spitzentanz in den „Aspekten der Kreativität“, aber dieser musterhaft schöne Ballerinenfuß gehört Anna Laudere im Stück „Anima“ ihres Gatten Edvin Revazov. Foto (Ausschnitt) vom Hamburg Ballett: Kiran West

Nicht möglich ist, was Libao macht. Er reiht Musik aneinander, die ebenfalls mit dem Baum-Thema gar nichts zu tun hat – und die auch mit dem Tanz wiederum in gar keiner Beziehung steht.

Vier Paare fährt Libao zu den diversen Musiken auf – und man hört einen DJ-Mix, eine Puccini-Arie und ein Streicherstück von Max Richter. Dazu betreiben die Tänzer gemeinschaftlich eine Art Aerobic, einen Showdance, einen leicht von William Forsythe angehauchten, mitunter virtuosen Gruppentanz.

Irgendwie geht es in dem Stück wohl um den Leistungsdruck in der Arbeitswelt, wobei die Glitter-Jacketts dann für die in manchen Büros übliche, aufgesetzte Coolness stehen könnten. Für den verzweifelten Versuch, mit Kleidung individuell zu wirken, wobei dann doch alle dasselbe oder ähnliches anziehen. Das ist gut von Libao beobachtet, solche Mechanismen zeigen sich tatsächlich in unserer Gesellschaft, vor allem bei den Besserverdienern.

Und die Jacketts sind wohl auch ein Zwang, werden von den Tänzern als Einengung begriffen. Darum ziehen sie sie denn auch aus, als ihr Gruppentanz stimmungsmäßig hochkocht, und sie werfen die Klamotte in Richtung Baum.

Das soll wohl eine Art körperliche Beschimpfung der versilberten, toten Natur sein. Aber was kann der Baum dafür, wenn die Menschen zu habgierig sind? Hier hat der Choreograf Symbol und Symbolisiertes verwechselt.

Dazu regnet es dann noch anhaltend rotes Konfetti aus dem Schnürboden. Das wirkt ultrakitschig und hat schlichtweg keine Funktion, außer dass es auf Dauer die Augen ermüdet. Soll es Herbstlaub sein? Aber warum kommt es vom Himmel, ohne dass der Baum je Laub trug? Soll es ein Wunder sein? Wer hätte denn was davon, wenn die Jahreszeiten künftig im Himmel statt auf Erden stattfinden?

Vielleicht soll es nur eine Art Show-Effekt sein oder auch eine Parodie auf die lyrische Manie mancher Choreografen (wie Christopher Wheeldon), es immerzu von irgendwoher nebeln und rieseln zu lassen.

Wahrscheinlich aber gibt es gar keinen Grund für den lustigen Schnipselregen – außer, dass der Choreograf ihn für originell befand und damit auffallen will.

Es ist nun zwar ganz witzig anzusehen, wie Winnie Dias, Futaba Ishizaki, Miljana Vracaric, Christopher Evans, Sasha Riva, Luca Andrea Tessarini, Lizhong Wang – und Leslie Heylmann allen tapfer voran – sich hier teils sportiv und teils in minimalistischen Gesten bewegen.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Der Kampf ist echt, heißt der Stücktitel – und der Kampf auf der Bühne ist auch einer, und vor allem ist es einer der Kritikerin mit diesem Stück. Marcelino Libao häufte zuviel Verschiedenes an, ohne Relationen zu schaffen. Aber dafür sind Experimente da – man darf auch mal scheitern, sollte allerdings die Kritik annehmen und daraus lernen können. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Aber wirklich überzeugend ist das Ganze nicht, aus den genannten Gründen. Da ging mal was daneben, was auch sein darf, dafür sind solche experimentellen Abende ja da. Das Thema „Beziehung“ ist in Hinsicht auf die Beziehung der Tänzer zueinander gültig, wie sie sich mitreißen und als Gruppe agieren, ist denn auch tatsächlich gut getroffen. Nur fehlt eben der spezifische Rahmen für die Bühnensituation komplett.

Zwei Trostpflaster für den nun etwas gerupften, hoffentlich aber nicht zu sehr geknickten jungen Tanzschöpfer:

Erstens bin ich in Sachen Choreografie nun mal wirklich schrecklich streng. Ich weiß schon, warum ich John Neumeier so toll finde. Auch ausgewachsene Profis müssen sich von mir schelten lassen, wenn sie nicht entsprechend hohes Niveau erreichen. Und es hätte keinen Sinn, hier nun nur aus Freundlichkeit etwas zu loben.

Zweitens: Als Tänzer entwickelte sich Marcelino Libao in dieser Spielzeit wirklich seeeeeeeehr, seeeeeeeeehr schön, das muss auch mal gesagt werden. Er arbeitet offenbar hart an sich und ist damit auch wirklich erfolgreich im sichtlichen Ergebnis. Seine Sprünge sind exzellent geworden, seine Geschmeidigkeit hat sich gesteigert. Und auch sein Ausdruck ist viel feiner geworden! Das fiel schon teilweise im „Nussknacker“ im Winter auf und setzte sich bis in die jüngsten Aufführungen bei den Ballett-Tagen weiter fort. Dafür ein ganz lautes „Bravo!“

Nur: Noch so eine Choreografie möchte ich nicht ansehen müssen – für ein lockeres Spiel ist sie nicht locker genug und für ein ernsthaftes Stück fehlt ihr so ziemlich alles. Da muss Libao seine Methode, ein Ballett zu planen und zu entwickeln, überdenken und die Sache vielleicht ganz anders angehen lernen.

Allerdings kommen die wirklich schwer verdaulichen Brocken des Abends mit den längeren Stücken im zweiten Teil des Abends. John Neumeier suchte hierfür Arbeiten aus, die sich zum Thema „Abschiede“ zusammen fassen lassen. Außerdem wählte er Stücke aus, die viel mit Bühnenbild, Licht und Kostüm agieren. Nun ist der Wille, ein „pompöses“ Stück zu machen, aber noch längst nicht dasselbe wie die Befähigung dazu.

Der mehr höfliche als begeisterte Beifall des Publikums zeigte es ebenfalls an: Die Choreografien von Aleix Martínez („Kleines Requiem“), Edvin Revazov („Anima“, was „Seele“ heißt) und Kristina Borbélyová („Oratio“, was für „Gebet“ steht) sind langatmig und überfrachtet, und trotz einzelner gelungener Elemente – wie die expressiven Soli in Aleix Martínez’ Stück, die sehr delikaten Pas de deux von Edvin Revazov und der theatralische Umgang mit dem weiblichen Kostüm bei Kristina Borbélyová – kann man nicht dazu raten, diese Ballette ohne starke Überarbeitung nochmal aufzuführen.

Liebe Künstler, ihr seid alle drei fantastische Tänzer – aber als Choreografen müsst ihr noch sehr viel lernen! Guckt euch bitte eure Videos kritisch an, auch mal mit etwas zeitlicher Distanz, also erst in der zweiten Hälfte der kommenden Sommerferien – und dann pickt euch mal die richtig guten Momente eurer Arbeiten heraus. Daran müsst ihr den Rest messen! Ihr werdet sehen, dass nicht viel übrig bleibt und zuviel unentschiedenes Lavieren dem entgegen steht. Aber das heißt nicht, dass ihr unbegabt seid, denn es ist letztlich noch nie ein Meister vom Himmel gefallen. Üben, üben, üben ist also angesagt, wenn man es mit dem Choreografieren wirklich ernst meint.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Da steht der Held – aber warum es rote Schnipsel regnet (soll es Laub sein?), bleibt völlig unklar. So zu sehen in Marcelino Libaos „#thestruggleisreal“ bei den „Aspekten der Kreativität“. Foto: Kiran West

Und nehmt euch nächstes Mal bitte jemanden von der Universität oder aus der journalistischen Kollegenschaft, der euch mit Bildungsgut und dramaturgischem Denken zur Seite stehen kann. Dann wird schon etwas Besonderes entstehen, ihr seid nämlich alle drei Hochbegabungen, was Tanz angeht (auch Kristina Borbélyová!), und auch choreografisches Gespür ist ausreichend vorhanden. Wie weit ihr euch auf diesem Gebiet entwickelt, kann ich so nicht abschätzen. Aber hätte ich keine Hoffnung, würde ich das hier nicht so schreiben. Und seid mir bitte nicht böse für meine Offenheit! Künstler müssen Kritik von außen annehmen und daraus lernen können, auch wenn das schwer fällt. Da verliert niemand sein Gesicht bei. Es ist ja bereits eine Ehrerbietung, wenn man sich soviel Arbeit mit euch macht! Und dass ich euch jetzt nicht zu neuen John Neumeiers küre, na, das war euch doch bitte auch schon vorher klar…

Tänzerische Leistungen gibt es in euren Stücken immerhin auch zu bewundern. So agiert Patricia Friza sehr sanft, dennoch authentisch in Martínez’ Stück, es brilliert Anna Laudere in Edvin Revazovs Stück, und Yun-Su Park entwickelt in Kristina Borbélyovás „Oratio“ eine hinreißende stille Energie, einen Trauermodus, aus dem heraus Schmerz, aber auch Hoffnung erwachsen können.

Bleibt „Metamorphosis“ von Marc Jubete, das Finalestück. Er selbst tanzt es hier, mit Yaiza Coll als einen Paartanz. Die minimalistische Musik „Metamorphosis 2“ von Philip Glass bestimmt die schwebend-lyrische Stimmung, und Yaiza Coll ist kalkweiß geschminkt, wie eine schöne Vampirin.

Mal wieder handelt es sich um eine Art Geister-Fantasie, um eine neuartige Giselle, die mit ihrem am Leben gebliebenen Liebhaber einen Heimsuchungs-Pas-de-deux tanzt. Durchaus originelle Kombinationen ergeben sich darin, so kriecht der Junge zum Mädchen, um mit ihr vogelschwingenartige Armebewegungen zu vollführen. Die Liebe gibt hier Kraft, ist aber auch eine Pein, weil sie die Vergangenheit nicht ruhen lassen kann. Tanz als Memorandum – dieser Gedanke ist hier sehr präsent.

Aspekte der Kreativität bei jungen Choreografen in Hamburg.

Yaiza Coll, weiß geschminkt wie eine schöne Vampirin, und Marc Jubete in dessen Stück „Metamorphosis“ – das Finale der „Aspekte der Kreativität“. Foto: Kiran West

Schließlich kippt sich der am Ende allein gelassene Protagonist Mehl aufs Haupt (was zuvor das Mädchen tat, um dann in die ewigen Jagdgründe zu entschwinden). Mehl statt Asche, die man sich vor Jahrtausenden zum Zeichen der Trauer ins Gesicht und ins Haar schmierte. Letztlich kommen die Lebenden und die Toten aus derselben Welt und gehen in dasselbe Niemandsland, aber in der Zwischenzeit sind sie unverbrüchlich getrennt.

Begabung ist zwar definitiv erkennbar in Jubetes Stück, aber so prägnant wie die kürzeren Stücke seiner Kollegen aus dem ersten Teil des Abends wirkt sein „Metamorphosis“ nicht. In der Kürze liegt die Würze, wenn man noch kein hundertprozentiger Könner ist! Und bevor man eine gute Idee verwässert oder durch langweilige Passagen entkräftet, konzentriert man ein Stück besser auf wenige ergreifende Momente mit nur wenig „Leerlauf“ oder schwächeren Stellen dazwischen. Wenn man etwas in die Länge zieht, wirkt es auf der Bühne zumeist schon halbtot…

Bleibt als Fazit: Choreografieren ist etwas ganz anders als Tanzen, auch wenn zwischen beiden Künsten unbestreitbar eine sehr enge Beziehung besteht. Und je länger das Stück ist, desto größer muss die Meisterschaft des Choreografen sein – was für Tänzer ja unzweifelhaft ebenfalls gilt.
Gisela Sonnenburg

Mehr zu weiteren überzeugenden Kurzstücken der „Jungen Choreografen“ vom Frühjahr 2016 bitte hier:

http://ballett-journal.de/hamburg-ballett-junge-choreografen-2016/

www.hamburg-ballett.de

ballett journal