Wenn Leute nichts von Ballett verstehen, dann sollten sie keinen Film darüber drehen. Das gilt auch für Nick Read, den Regisseur des Kinofilms „Bolschoi Babylon“. Reißerisch und sensationslüstern käut Reads Machwerk die längst bekannten Umstände und Spekulationen rund um das Säure-Attentat auf den Bolschoi-Ballettchef Sergej Filin von 2013 wieder. Dabei wird suggeriert, das Bolschoi bestünde nur aus Intrigen, Korruption und Gewalttätigkeit. Als würden dort täglich Menschen durch Anschläge verletzt. Dabei war das Attentat natürlich die Ausnahme im arbeitsreichen Alltag der Ballerinen und Ballerini. Gerade deshalb sollte man darüber reden. Doch die Wahrheit ist hier nicht gefragt. Man will mit geistiger Flachheit Kasse machen: indem man das Bolschoi ziemlich unglaubwürdig und einfach primitiv zum babylonhaften Sündenpfuhl erklärt.
Gefühlte Ewigkeiten lang schwadronieren Funktionäre und russische Politiker, auch der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew, über die Befindlichkeit des Bolschoi. Alle sorgen sich vor der Kamera um den guten Ruf des Ballettolymps. Doch das Geschwätz ist durchschaubares PR-Geplänkel. Damit sollte man keinesfalls einen ganzen Film füllen.
So manche Ballerina, darunter die als Tänzerin von mir geschätzte Maria Allasch, gibt sich zudem her, um abgestandene Phrasen zu dreschen. Man sei ständig mit Gerüchten von außen konfrontiert. Als habe man immer nur Böses im Sinn. Aber es gebe, so die Rede im selben Atemzug, nun mal wirklich zwei Lager unter den Tänzern: pro Filin und gegen Filin – und das habe auch Gründe.
Schließlich habe Filin neue Tänzer eingestellt und andere abserviert. Na, welcher Chef, egal in welcher Branche, betreibt nicht Personalpolitik? So radikal wie derzeit Igor Zelensky in München war Filin ohnehin nie. Filins ärgster Widersacher, Startänzer Nikolai Ziskaridse, behauptet aber absurdes Zeug über Filin – und Filin wiederum behauptet noch absurderes Zeug über Ziskaridse. Demnach müssten beide vor Eitelkeit platzende Vergewaltiger sowie versierte Mobbingkönige sein. Ach. Theater, Theater! Neu ist das Ganze jedenfalls nicht.
Svetlana Zakharova, die bedeutendste Primaballerina der aktuellen internationalen Ballettwelt, kommt zwar im Film auch vor, wird aber nicht mal namentlich genannt. Was für ein Schnitzer!
Könnte man, nur zum Vergleich, den Fußballtrainer Jogi Löw – der vergleichbar nur deutsche und nicht internationale Relevanz hat – mit O-Ton in einen Kinofilm bringen, ohne ihn und seine Position zu nennen? Wohl kaum.
Selbstredend wird das Bolschoi viele Ecken und Kanten haben, selbstredend wird es an diesem sehr großen Haus auch eine Art Intrigantenstadl hinter den Kulissen geben. Aber wo gibt es den nicht? Nur darüber einen Film zu machen, heißt: abzustempeln und an den Pranger zu stellen für etwas, das doch ein Allerweltsphänomen ist.
Das Attentat aber wäre näher zu beleuchten. Und das traut sich Nick Read, der für die Regie wie für die Kamera verantwortlich zeichnet, eben gar nicht. Angeblich handelte der Anstifter ja aus Wut auf Filin, weil seine Geliebte, eine Ballerina, vom Ballettchef nicht gut besetzt worden war. Aha. Das ist nichts Neues. So richtig und en detail aufgeklärt wird das Attentat in diesem Film aber ebenso wenig wie von den bisherigen, unisono klingenden Erklärungsversuchen. Auch die Verrohung, jemandem Säure ins Gesicht zu schütten bzw. schütten zu lassen (ein Schicksal, das eine Vielzahl von jungen Frauen in Bangladesch schon prägte), wird nicht weiter ausgedeutet.
Man möchte beim Ansehen des Films denn auch am liebsten laut „Stop!“ ausrufen, aber das wäre ja umsonst, denn der womöglich schlechteste Ballettfilm des Jahrhunderts ist längst von den Kinobetreibern weltweit eingekauft worden. Wirklich schade.
Denn mal wieder – wie schon mit „Black Swan“ vor fünf Jahren – wird dem Publikum ein wahrhaft idiotisches Bild von der Tanzkunst vermittelt.
Worauf es im Ballett und im Bolschoi wirklich ankommt, ist den Geldmachern vom Kommerzmedium Kino offenkundig total egal und sowieso nicht spektakulär genug. So agiert der Film auf einem Niveau, gegen das die Nachrichten auf Sat.1 nachgerade anspruchsvoll sind.
Die Politik. Sie kommt nur leicht mit ins Spiel hier. Dass es eine Nähe des Bolschoi zum Kreml gibt, wie es früher eine zum Zarenhof gab, ist aber nie ein Geheimnis gewesen. Und Neues zeigt der Film auch auf diesem Gebiet mitnichten. Mit Altaufnahmen von Stalin und später von Ronald Reagan bei Staatsbesuchen kann man jedenfalls wirklich nicht punkten.
Ab und an blitzt immerhin der Alltag einer heutigen Ballerina auf, die beim Waschen der Pfoten ihres Hundes und beim Mitnehmen ihres Sohnes ins Theater gezeigt wird. Aber auch das ist recht fade gemacht. Da gibt es dann wirklich den O-Ton, „wir Tänzer“ seien seltsame Menschen, weil „wir“ uns verlieben, heiraten und wieder trennen würden. Na, das klingt schon fast ironisch, denn seltsam ist so ein Verhalten ja in keiner Hinsicht.
Auch die Aufführungsausschnitte und Probenauszüge sind viel zu schlecht abgefilmt und viel zu kurz eingeblendet, als dass sie einen begeistern oder auch nur näher interessieren könnten. Ob „La Bayadère“, „Spartacus“ oder „Schwanensee“ – es wird nicht mal der Titel des Balletts genannt, wenn für wenige Sekunden Tanz die Leinwand erhellt. Für die Kameras von Nick Read ist Ballett lediglich eine Art Sport, in dem viel gesprungen und sich um sich selbst gedreht wird. Unverständnis macht sich breit.
Dabei gibt es heutzutage so interessante Erkenntnisse der sozialen und Naturwissenschaften zu Ballett und tänzerischer Bewegung. Davon wird hier aber gar nichts erzählt, wozu auch? Man will nur das Bolschoi fix und foxi machen, man will sich an dem klingenden Namen dieser Institution bereichern. Das allein ist die offenkundige Absicht des Films.
Man kann das Bolschoi mögen oder nicht. Man kann dort Intrigen wittern, von mir aus ohne Ende. Aber so ein simpel zurecht geschusterter Film, der aus dem Bekanntheitsgrad eines Sujets Profit schlagen will, das geht zu weit. Das ist einfach nur platte Denunziation und übelste Hetzjagd. Als sei die Ballettwelt ohnehin nicht ganz dicht. Kein Wort des Mitgefühls mit den Künstlern, keine einzige Kameraeinstellung, die Verständnis oder gar Bewunderung für die Kunst des Bühnentanzens heischt.
Eine hechelnde Ballerina in der Seitengasse vom Theater und historische Aufnahmen eines mageren Kindes als aufgetakelter „Sterbender Schwan“ komplettieren den Eindruck: Die vom Ballett seien doch ohnehin nur beknackte und unfähige Exoten.
Indirekt brüllt der Film nach Abschaffung des Bolschoi, auch wenn oder gerade weil er fingerdick Zitate amerikanischer Zeitungen vorliest, die die russischen Tänzer ohne weitere Begründung als die besten der Welt feiern. Man will doch aber gar kein hohles Lob ohne Argumente! Und man will auch nicht derart verblödet und angeödet werden wie von diesem Kinostück.
Mensch, ist das peinlich. Im 21. Jahrhundert, in dem sich jeder weltweit auf youtube sehr gut optisch und ohne Worte über Ballett informieren kann, kommt ein so dämliches Filmchen ins Kino. Jede kreuzbrave DVD, die eine Bolschoi-Aufzeichnung zeigt, ist dagegen purer Sprengstoff an Spannung!
Es ist, als gebe es keinen guten Ballettjournalismus. Aber den gibt es – nur bekommen fleißige, kompetente Autoren kein Geld von den mutmaßlich selbst korrupten Film– und Fernsehproduzenten.
Die hätten mal lieber über ihre eigene Branche herziehen sollen. Man darf sich nämlich sicher sein: Dort wird im Alltag nicht gerade an Hobeln und Spänen gespart.
Ehrlich: „Bolschoi Babylon“ ist wie ein Film über Fußball, in dem das runde Leder nicht ein einziges Mal ins Bild kommt. Immer wieder werden dafür Funktionäre mit fettgesichtigem Impetus vor die Kamera gezerrt. Hier soll offenbar heiße Luft zum Höchstpreis verkauft werden. Pups!
Inhaltlich ergibt sich ohnehin rein gar nichts Neues. Man kann ja alles, was über das Attentat bekannt ist, in Zeitungen und Zeitschriften, auch im Internet, längst kurz mal eben nachlesen. Natürlich ist Sergej Filin zu bedauern, wie jedes Opfer eines Attentats. Er ist seit dem Anschlag ein Behinderter, auch wenn deutsche Ärzte sein Augenlicht retteten. Doch dieser Film hilft ihm auch nicht. Dass sein Vertrag am Bolschoi nicht verlängert wurde, wird heuchlerisch als Resultat von Machenschaften suggeriert. Dabei sagt Filin selbst, dass er am Bolschoi fertig habe. Der neue Direktor vom Bolschoi, Vladimir Urin, muss ihn bei einer Besprechung denn auch mal wiederholt zurecht weisen. Man merkt: Der Film will Normalität dort postulieren, wo es sie nicht gibt, während er auf alles wirklich Außergewöhnliche keinen Augenblick verwendet.
Eine interessante andere Facette der Sache wird indes nur angedeutet: Der als Anstifter des Attentats zu Straflager verurteilte Bolschoi-Tänzer, der während des Prozesses mit einem von drastischem Schlafentzug geprägten Gesicht erschien, ist möglicherweise nicht allein oder nicht wirklich der Schuldige. Er gab zwar zu, seinem Kontrahenten Sergej Filin Prügel zugedacht zu haben, aber mit der Säure wollte er nichts zu tun haben. Sein Abgang nützt indes anderen. Denn: Der Verurteilte war führend bei den früheren Gewerkschaftsverhandlungen am Bolschoi. Mit denen dürfte es nun seit dem Attentat vorbei sein. Dieser Spur geht die Doku aber nicht weiter nach. Dabei kann man die Frage ernsthaft stellen, auch wenn sie ins Leere führen sollte: Fand das Attentat etwa nur statt, um den starken Gewerkschafter zu kriminalisieren? Weltweit gibt es nämlich Kräfte, die das „Union Bashing“, das Aushebeln der Gewerkschaften, zum skrupellos verfolgten Ziel haben. Aber dieses extrablöde Filmchen weiß da natürlich von nichts. Man hätte dafür auch recherchieren müssen, statt vorbereitetes Gelaber abzufilmen.
So lästert man in „Bolschoi Babylon“ schier endlos stumpfsinnig vor sich hin, ohne aus den bruchstückhaft angehäuften Infos auch nur eine brauchbare These herauszukristallisieren. Niemand macht darin eine wirklich gute Figur, aber niemand hebt sich vom allgemeinen Wir-sind-ja-alle-so-bescheuert-Credo wirklich ab. Was für ein Mist.
Leider wird uns diese Bolschoi-Orgie des Doofen wohl auch noch im hiesigen Fernsehen belästigen. Denn gleich drei deutschsprachige Sender (arte, swr, mdr) schossen Geld hinein. Schämt euch!
Den potenziellen Zuschauern sei angeraten, ihre Zeit gewinnbringender anzulegen.
Ob im Kino oder im TV: Vor Todesfällen durch Langeweile angesichts „Bolschoi Babylon“ wird ausdrücklich gewarnt.
Gisela Sonnenburg
Wer es wirklich wissen will: ab 21. Juli 2016 bundesweit in den Kinos
Hierzu gibt es keinen Link. Man möchte ja keine Kotzanfälle evozieren.