Ich traf eine Elfe. So fing es an. Am Nordbahnhof in Berlin-Mitte saß ich um 9 Uhr morgens an der Straßenbahn-Haltestelle: auf dem Weg zur Recherche in der Staatlichen Ballettschule Berlin. Da erschien eine junge Frau, sie ging dicht an mir vorbei – und unter der Geste des Alltags enthüllte sich eine Anmut, die mir den Atem raubte. Vielen Mädchen, die Ballett tanzen, sieht man das an. Nicht immer nur im positiven Sinn. Manche haben schon früh einen regelrechten Watschelgang. Aber hier war etwas, das nicht mit Drill und Druck zu erzeugen ist: eine Mischung aus Eleganz, Grazie, Rhythmik und Natürlichkeit. Ein Ausdruck vollkommener Schönheit in einer simplen, der Normalität verpflichteten Bewegung. Das Spektakuläre an sich, im Unspektakulären auf den Punkt gebracht. Kein Zweifel: Dieses zarte Mädchen muss ein großes Talent im Tanzen sein. Sie stieg wie ich in die Tram, wir hatten Blickkontakt, und ich fragte sie, ob sie auch auf dem Weg in die „Staatliche“ sei. Heute nicht, sagte sie, aber früher habe sie dort studiert. Jetzt trainiere sie woanders. Aber ihr fehle die Aufführungspraxis. Oh, sagte ich, da kann ich vielleicht helfen. Ich berichtete von meinen Erfahrungen, Tänze für Ausstellungen, Kinofilme oder Gottesdienste zu choreografieren. Wir tauschten Telefonnummern. Und seither ist Jorinde Juschka Teil meiner Welt.
Sie entspricht nicht dem Klischeebild der überehrgeizigen Tänzerin, die unselbständig, obrigkeitshörig und unkritisch ist. Sie hat die „Staatliche“ freiwillig verlassen, um sich zunächst woanders weiter zu entwickeln.
Als mir dann in der Ausstellung der Künstlerin Miray Seramet („The Urge of Connection“) deren großartiges Verständnis von bildender Kunst mit dem Potenzial, Verbindungen zu schaffen, begegnete, war das wie eine weitere schicksalhafte Fügung.
Miray Seramet tanzt selbst, kennt sich im Ballett gut aus – und wollte schon vor der Bekanntschaft mit mir Tanz in ihre Ausstellung holen. Was nur nicht so einfach war. Also wurde ich von ihr beauftragt, die Finissage tänzerisch zu gestalten. Sie begleitete manche Probe mit großer Kennerschaft und war so unterstützend, dass ich ihr mein Leben lang dafür danken werde.
Und so entstand, nach von ungarischer Folklore inspirierter, neoromantischer Musik des Konzertgeigers Jochen Brusch, das Solo „Die Weltenbummlerin“.
Die Zusammenarbeit mit der gerade mal 18-jährigen Ballerina Jorinde und der erfahrenen Plastikerin Miray entfachte in mir derart viel kreative Lust, dass mir die Zeit der Proben wie ein neuer Lebensabschnitt vorkam.
Am vergangenen Freitagabend war dann die Finissage mit der Uraufführung – und obwohl sich halb Berlin im Urlaub befand, zumindest gefühlt, hatten wir das perfekte Publikum: für Ballett ziemlich jung, zahlreich erschienen, höchst aufmerksam und so begeistert, dass zumindest ich über den stürmischen, lang anhaltenden Applaus ganz verlegen wurde.
Die Gespräche, die sich danach ergaben, waren von Freude und Respekt getragen, erfüllten die Herzen der Anwesenden.
Vielleicht hatten wir tatsächlich göttlichen Segen, und dass der Vater von Jorinde Juschka der evangelische Pfarrer Michael Juschka ist, passt da nur zu gut dazu.
Die Verbindung zwischen den bildenden Kunstwerken von Miray Seramet, diesen fantastischen textilen Plastiken, die aus tüllartigem Mesh und transparenten Seidenstrümpfen bestehen, und dem schwerelosen Tanz von Jorinde Juschka war jedenfalls offenbar.
Die Farben und die scheinbare Leichtigkeit der bildnerischen Arbeiten von Miray täuschen ja nicht darüber hinweg, dass etwas dahinter steht.
Die Welt ist Strumpf – und auch nicht. Denn hier ist das feine Material die Ausgangsbasis, um Mitteilung zu machen. Weibliche Kraft und feminine Anmut; grazile, schöne Beinlinien und eine geradezu magische Ausstrahlung – das verbindet die Werkschau mit Jorinde Juschka, der hoch begabten Jungballerina.
Und auch im Solo „Die Weltenbummlerin“ verbinden sich verschiedene Welten und Aspekte des menschlichen Daseins. Die Choreografie erzählt implizit eine kleine Geschichte:
Eine junge Frau kommt hierher, vielleicht ist sie aus einem Zirkus hier gestrandet. Ein Zirkus mag es deshalb sein, weil wir alle in irgendeiner Hinsicht in einem Zirkus leben. Das bunte Kostüm ist darauf ein weiterer Hinweis.
Und wir haben in der Ausstellung keinesfalls irgendeinen Alltag vor uns, sondern eine Vielzahl an Fantasieräumen und Parallelwelten. Auch hier geben Farben einige Anregungen.
Pink steht für die Liebe, genau wie Rot. Gold steht für das Unvergängliche. Blau für die Innigkeit.
Der Tanz ist denn auch als Hommage an die Künstlerin Miray Seramet und ihren unbändigen „Drang zur Verbindung“ („The Urge of Connection“) zu verstehen – denn Dinge, Welten, Menschen zu verbinden, ist das Ur-Anliegen von Miray Seramet.
Als Deutsch-Türkin weiß sie um die Energien beim Aufeinanderprall verschiedener Welten. Und sie kennt die Synergie, die sich daraus ergeben kann.
Diese sehen wir künstlerisch umgesetzt: in die textilen Plastiken, die voller Poesie und dennoch aufklärend sind, und, einmalig zur Finissage, auch als Tanz.
Die Straßenbahn am Nordbahnhof war für uns keine Endstation Sehnsucht, sondern eine Startstation.
Gisela Sonnenburg
„The Urge of Connection“, featured by Galerie PS 120, war bis zum 16.08.24 in der Potsdamer Str. 124 in 10783 Berlin zu sehen. Zur Rezension der Ausstellung geht es hier. Das Video der Uraufführung „Die Weltenbummlerin“ findet sich auf Facebook, und zwar hier.