Die Weltenbummlerin Die Berliner Künstlerin Miray Seramet näht Collagen aus Nylonstrümpfen, Söckchen und Fellen – und Jorinde Juschka wird dazu ein Solo tanzen

Miray Seramet Gisela Sonnenburg Jorinde Juschka

Blick in eine Probe: Jorinde Juschka in „The Urge of Connection“ von Miray Seramet in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Ist es Zufall? Schicksal? Dieses ist der tausendste Artikel im Ballett-Journal. Er ist den Frauen gewidmet. Und der Verbindung zwischen Tanz und der bildenden Kunst. „The Urge of Connection“ („Der Drang nach Verbindung“) heißt die Ausstellung der Berliner Künstlerin Miray Seramet in der Potsdamer Straße 124 in Berlin-Schöneberg. Der Galerieraum umfasst mehrere Räume, die ineinander übergehen, und er ist angefüllt mit Werken, die auf den ersten Blick für feministische Kunst unerwartet leicht daher kommen. Dabei gilt: Die Schönheit und die Sensibilität, die Beweglichkeit, die Transparenz und auch die Eigenwilligkeit von Frauen findet sich in den textilen Plastiken wieder, die zudem einerseits den Alltag, andererseits die Festlichkeit des weiblichen Geschlechts spiegeln. Und siehe da:

Die Welt ist Strumpf. Wenn eine Frau aus dem Haus geht, trägt sie feine Seidenstrümpfe – zumindest in Gedanken. Und eigentlich wussten wir schon immer, wie wichtig sie für uns sind:

Frauenstrümpfe spielen mit der Fantasie von glatter Haut, Beinerotik und viel Schönheit für wenig Geld. Miray Seramet, die die Kunsthochschule Weißensee besuchte, weiß noch mehr: Sie vernäht die zarten Materialien sorgfältig zu Bildern und Collagen, zu Installationen und Skulpturen. Die Ergebnisse sind mal lustig-kunterbunt, mal gediegen-elegant. Immer aber begehren die Werke auf gegen das Diktat vom Frauenzimmer, das sich schicklich und nützlich anzustellen hat.

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An den Wänden, am Boden, in den Gedanken: „The Urge of Connection“ von Miray Seramet in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Seramet ist eine Weltenbummlerin: Mit den Strümpfen ändert sich die Sphäre, die sie beschreibt. Man kann an ernsthafte große Säle denken. An Räume, in denen Geschichte geschrieben wurde. Aber auch an kleine Studios, kindhaft verspielt und fast intim.

Krachbunt ist das Potenzial, das Frauen haben. Manchmal aber auch wie von Puderzucker überzogen.

Im Werk triumphiert die Befreiung von weiterer Kleidung. Die Nylons stehen allegorisch für die ganze Frau. Frausein als Luxus, darüber nachzudenken, was Frauen von Männern unterscheidet. Männer haben im Schnitt 30 Prozent mehr Muskelausprägung, Frauen hingegen mehr Fettanteil im Gewebe. In Nylons aber haben sie alle die gleichen Chancen. Solange sie nicht treten oder springen.

Strumpfhosen lieben alle. Und alle Beine werden von Strumpfhosen geliebt. In Miray Seramets Installationen sind sie gut aufgestellt: Lang strecken sie sich auf filzigem Grau, wenn sie nicht gerade praktisch-quadratisch gefaltet sind.

Die Welten der Frauen entfalten sich mit Charme. Ob mit Kindern oder ohne. Das Seidene, Filigrane, Entzückende ist ihr Bereich. Das Fürsorgliche. Die Warmherzigkeit. Die Weitsicht. Aber auch das Mysterium. Die Dunkelheit. Das Fremde.

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Textile Materialien mal ganz anders als gewohnt – als Bekenntnis zum Frausein. Foto aus „The Urge of Connection“ von Miray Seramet: Gisela Sonnenburg

Miray Seramet verbindet die Welten, die sie erforscht. Sie selbst vereint mindestens zwei Traditionen in sich: aus Deutschland und aus der Türkei kommende. Wenn die Künstlerin nicht in Berlin lebt, hält sie sich oft in Izmir auf. Dem Ort eines Teils ihrer Vorfahren. Geboren wurde sie 1971 jedoch in Krefeld.

Warmer Filz und kühler Tüll finden sich in der Ausstellung. Die Strümpfe zeichnen die Beine in den Kunstwerken mit gekonnter Linie – und Söckchen mit Spitzensaum setzen Akzente. Alles ist so fein platziert und aufgenäht, dass es wie von Zauberhand zusammengefügt wirkt.

Zusammengeknüllt und aufgerüscht ergeben Strumpfmaterialien Gebilde, die manchmal Aliens ähneln. Quietschbunt sind sie dann, manchmal aber auch zurückhaltend in Haut- und Cremefarben. Gerade das Farbspiel begeistert.

Die skurril-erotischen Arbeiten an zwei Wänden beziehen sich hingegen aufs Gretchen aus Goethes „Faust“. Das ist hier aber ganz und gar nicht naiv. Und nicht mal tragisch! Eher überraschend.

Gretchen träumt…

Mit Schafswolle gestopfte Nylonstrümpfe ergeben urweibliche Formen. Und ein Langhaarfell wird zum Schnauzbart. Das männliche Element ist das begehrte hier – auch extrahiert und an die Wand genagelt.

Andere Werke sind auf Mesh genäht, wirken wie aufgezogene Plakate. Mesh ist der netzartige Tüll, aus dem auch Tutus hergestellt werden. Hier ist der Untergrund schwarz, was einerseits verrucht ist und andererseits an den Schwarzen Schwan aus „Schwanensee“ erinnert.

Die Nostalgie trifft auf Modernität.

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„Ingeburg“ kann mehr als dastehen: Bezaubern! Fein vernäht, finden sich hier Seidenstrümpfe zu rundum begehbaren Kunstwerken. Die Rückseite wartet mit einer Überraschung auf. Foto aus „The Urge of Connection“ von Miray Seramet: Gisela Sonnenburg

Ingeburg“, so ihr Name hier, protzt mit dem Moiré-Effekt. Petticoat als Material der Unterlage ergibt ein changierendes Weltenfeld. Putzmunter treten die Applikationen aus Strumpf dazu in Dialog. Wie Aufsteller sind sie von beiden Seiten zu betrachten, verströmen ihre Message in zwei Himmelsrichtungen.

Das schreit doch geradezu nach Tanz!

Hildegard“ heißt dann die Referenz an die deutsche Oma der Künstlerin. „Haava“ heißt das Pendant, der türkischen Großmutter huldigend. Diese wurde von ihrem Mann auf der Flucht vor Krieg in die neue Heimat getragen. Strumpfbezogene, fellgespickte Gummireifen liegen am Boden: Das Tierische, Animalische, Kräftige der Männlichkeit dient der Weiblichkeit. So soll es sein.

Das Gewebe steht auch für Haut, für Fett, für Muskel: für biologisches Gewebe. Aber auch für die Illusionen, die Tüll und Seide erwecken.

Lassen wir die Weltenbummlerin losziehen! Mal schauen, wem sie begegnet und wo sie rastet. Lassen wir sie tanzen!

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Miray Seramet inspiriert! „The Urge of Connection“ läuft noch bis zum 16.08.24 in der Potsdamer Straße 124 in Berlin-Schöneberg. Foto: Gisela Sonnenburg

Jorinde Juschka, Berliner Nachwuchsballerina mit außerordentlicher Anmut, wird tanzen. Am Freitag, 16.08.24, auf der Finissage der Ausstellung, um 19.30 Uhr zeigt sie ein neues Solo, das von Miray Seramet inspiriert und von mir kreiert sein wird: „Die Weltenbummlerin“ zeigt uns, was einer bewegten und bewegenden jungen Dame in Strumpf so alles geschehen kann. Die Uraufführung wird mit Spannung erwartet.
Gisela Sonnenburg

Featured by Galerie PS 120: „The Urge of Connection“ ist bis zum 16.08.24, Di – So: 15 – 19 Uhr, in der Potsdamer Str. 124 in 10783 Berlin (Nahe U-Bahnhof Kurfürstenstraße) zu erleben. Finissage mit Tanzshow von Jorinde Juschka: 16.08.24, 19.30 Uhr

https://www.mirayseramet.de

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Miray Seramet bei der Vernissage von „The Urge of Connection“: eine Huldigung an die Weiblichkeit! Foto: Gisela Sonnenburg

ballett journal