Und niemals stirbt der Traum vom Frieden Jugend, Konflikte, Liebe, Gewalt, Versöhnung: Die „West Side Story“ von Leonard Bernstein in der Choreografie von Jerome Robbins ist noch immer ein Burner

Die West Side Story reißt mit

Maria (Jenna Burns) und Tony (Kevin Hack) lieben sich trotz aller Widerstände… so zu erleben im Musical „West Side Story“ mit der Originalchoreografie von Jerome Robbins. Foto: Johan Persson / Für Tickets bitte das Banner „West Side Story“ rechts  anklicken!

Heiße Rhythmen, tragische Liebe ­– und die Straßenschluchten von New York! Ethnosoziale Konflikte, harte Gewalt, der Traum von Frieden – und eine Musik, die einen schwelgen und schweben lässt: Die „West Side Story“ enthält Zutaten, die einen immer wieder faszinieren. Das bekannte Musical von Leonard Bernstein, nach einer Idee des Choreografen Jerome Robbins als „Romeo und Julia“-Replik in den 50er Jahren entstanden – und vom Komponisten Bernstein zum hochkarätigen Politdrama weiter entwickelt – wurde bereits 1957 uraufgeführt. Von seiner poetisch-temperamentvollen Kraft hat das Drama mit Tanz und Gesang aber nichts eingebüßt. Im Gegenteil: Das Thema von sozialen Konflikten, in denen die wahre Liebe keine Chance hat, ist im 21. Jahrhundert aktueller denn je. Die Originalversion geht live schwer unter die Haut, zumal Orchester, Hauptdarsteller und Ensemble nichts zu wünschen übrig lassen.

Der Höhepunkt dieser mitreißenden Lovestory ist die Utopie der beiden Liebenden von einer besseren Welt. Ach, was für ein Menschheitstraum! Und welch eine Melodie!

Somewhere“: Irgendwo, irgendwie, irgendwann… Die große Utopie von Frieden und Liebe, gesungen und getanzt mit enorm viel Schmelz und Schwung, ist so zeitlos wie die Liebe selbst. Und sogar die zweite Stimme der Maria, die hier aus dem Off kommt, klingt so klar und mitreißend, dass man nicht umhin kommt, mit den Tränen zu kämpfen.

Auch sonst bietet die Inszenierung reichlich Gänsehautmomente.

Aber auch Fröhlichkeit, Stolz, Lebenslust kann man erleben – und man wird daran erinnert, dass es außer der eigenen Existenz noch ganz andere Welten gab und gibt.

Die West Side Story reißt mit

Sie tanzen exzellent, mit aller gebotenen Power: Die Ensemble-Darsteller der „West Side Story“ in der Originalinszenierung, die auf Gastspielen in Deutschland zu sehen ist. Foto: Johan Persson / Für Tickets bitte das Banner „West Side Story“ rechts oben anklicken!

Die Choreografie von Jerome Robbins weist diesen als genialen Arrangeur sowohl von Gruppen- als auch von Paarszenen aus. Robbins arbeitete ja zunächst für den Broadway, bevor er sich dem Ballett zuwandte und vor allem fürs New York City Ballet kreierte. Hier, in der „West Side Story“, sieht man schon, in welche Richtung sich der stilbewusste, akrobatisch bewanderte Robbins entwickeln würde.

Das Ensemble der aktuell mit der „West Side Story“ durch Deutschland tourenden Produktion von BB Promotion lässt hier nichts aus, um sein hohes Können unter Beweis zu stellen. Wow, das rockt!

Dirigent Donald Chan, unter anderem an der New Yorker Juilliard School ausgebildet und seit langem „West Side Story“-erfahren, hat seine Musiker bestens im Griff.

Auch die beiden Hauptdarsteller, als Tony Kevin Hack – der trotz seiner Jugend schon eine richtige Broadway-Berühmtheit ist – und als Maria Jenna Burns, die für diese Partie wie gemacht ist, vermitteln mit ihren Stimmen und ihrem Tanz das Flair eines außergewöhnlichen Paares, das durch die Liebe seiner eigentlichen Sphäre entrissen wird.

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Der Tenor des attraktiven Kevin Hack illustriert sowohl die lyrischen als auch die kraftvollen Szenen des Liebenden mit großer Hingabe – und überzeugt auch im Falsett, wenn er in den höchsten Tönen der Verliebtheit schwelgt.

Und Jenna Burns mit ihrem sehr gefühligen, dabei rund und voll klingenden Timbre bei ihrem niedlichen Aussehen singt ebenfalls noch in den höchsten Sopranhöhen so samtig, weich und sauber, als sei dies ihre ganz natürliche Ausdrucksform. Dabei steckt sicher harte Arbeit dahinter. Aber das weiß man nur, das bemerkt man während ihres leicht wirkenden Vortrags überhaupt nicht.

Kevin und Jenna sind ein Dreamteam, das allein schon die Inszenierung tragen könnte!

Dabei ist das Libretto ja nicht ohne…

Die West Side Story reißt mit

Oh, ein Kuss! Tony küsst Maria, nur zu gerne in der „West Side Story“ in der Originalversion vom Broadway. Foto: Johan Persson / Für Tickets bitte das Banner „West Side Story“ rechts oben anklicken!

Tony war mal Anführer einer Jugendgang namens „The Jets“ (die „Düsen“). Er ist seinen Kumpels auch immer noch freundschaftlich verbunden.

Maria wurde von ihrem Bruder Bernardo gerade erst aus Puerto Rico nach New York geholt. Sie soll Chino heiraten, einen Freund von Bernardo, den sie eigentlich gar nicht richtig kennt.

Als sie Tony auf einem Fest begegnet, verliebt sie sich beim Tanzen auf den ersten Blick in ihn – und auch er kann fortan nur noch an sie denken.

Maria!“ – Tonys Song mit dem Tritonus zu Refrainbeginn ist weltberühmt, ein Ohrwurm wie so viele der unter die Haut gehenden Songs der „West Side Story“. Leonard Bernstein hat nicht ohne Grund einige Jahre an diesem Werk komponiert und gefeilt.

Und als Tony seine große Liebe Maria bald nachts heimlich über die Feuertreppe besucht (eine New Yorkinische Abwandlung vom bayerischen Fensterln), ist das eine der ergreifendsten Liebesszenen der Musicalgeschichte.

Aber der soziale Hintergrund schwingt immer mit. Revierkämpfe der beiden rivalisierenden Banden, der nordamerikanischen „Jets“ und der lateinamerikanisch geprägten „Sharks“ („Haie“), drohen jederzeit auszubrechen.

Allerdings werden die Jugendlichen – die hier zudem allerbest tanzen und swingen können – nicht als bösartige Gewalttäter mit Terrorpotenzial präsentiert, sondern als Opfer einer aufgehetzten, rassistischen Gesellschaft, die weiten Teilen ihrer Jugend keine Chance auf eine Selbstverwirklichung ohne Gewaltanwendung lässt.

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„Gee, Officer Krupke“… hier hat der Polizist Krupke zwei Jungs der „Jets“ erwischt… aber sie entkommen… Foto aus der „West Side Story“: Johan Persson / Für Tickets bitte das Banner „West Side Story“ rechts oben anklicken!

Die Spannung der unter Druck stehenden Jungs entlädt sich denn auch in ihren Tänzen und ihrem Gesang – und das lange vor der Erfindung von Rap und Hiphop.

Die Puertoricaner haben außerdem entzückende Mädchen. Wenn sie sich kichernd und tirilierend um Anita scharen – die mit Keely Beirne typgerecht mit viel Latin Flair, aber auch ungewöhnlich zart für diese Rolle besetzt ist – fängt man unweigerlich an, im Takt mitzuzucken. Keely wurde übrigens noch vor Beendigung ihrer Ausbildung in New Jersey für die „West Side Story“ gecastet.

Aber eine Beziehung zwischen Tony und Maria ist weder von den „Jets“ noch von den „Sharks“ erwünscht. Als Tony einen Streit der Gangs schlichten will und zwischen die Fronten gerät, eskaliert die Situation. Bernardo ersticht einen „Jet“, und Tony tötet im darauf folgenden Tumult Bernardo, den Bruder seiner Liebsten.

Maria befindet sich somit im klassischen „Julia“-Konflikt. Sie liebt einen Mann, der ihren eigenen Bruder umbrachte. Sie muss sich entscheiden, zwischen Hass und Liebe. Aber sie glaubt Tony nur zu gern, dass sein Totschlag ein Versehen war. Sie verzeiht ihm.

Somewhere“! Die Liebenden träumen von einer Zukunft ohne Rassismus und Gewalt… noch nicht ahnend, dass ihr Traum ihre Liebe überleben wird.

Denn die Realität in der West Side ist knallhart. Anita, die sich mutig zu Tony traut, um ihm ein Date mit Maria zu übermitteln, wird von den „Jets“ überfallen und von deren jüngstem Mitglied, dem sprungkräftigen Baby John, vergewaltigt. Das Libretto dieser Produktion lässt keinen Zweifel an der schlimmen Tat, zu der die Jet-Truppe ihren Jüngsten noch anfeuert.

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Baby John (hervorragend getanzt, gesungen und gespielt von dem in Sidney zunächst zum Balletttänzer ausgebildeten Daniel Russell) springt superbe – und ist doch ein arger Junge. Foto: Johan Persson / Für Tickets bitte das Banner „West Side Story“ rechts oben anklicken!

In anderen Libretto-Versionen – und auch bei wikipedia – wird die schwere Tat absurderweise verharmlost und als bloßer Versuch einer Vergewaltigung dargestellt. In Robbins’ Choreografie wird der sexuelle Überfall aber eindeutig vollzogen.

Und Anita hätte sonst wohl auch kaum ein genügend starkes Motiv für ihre perfide Rache. Sie behauptet dann, Chino habe Maria aus Eifersucht auf Tony erschossen.

Tony dreht darüber durch. Verwirrt läuft er nachts durch die Straßen des Viertels, laut nach Chino rufend, damit dieser ihn ebenfalls umbringe.

Da begegnet ihm seine Maria, er kann sein Glück kaum fassen, er will mit ihr fliehen – und stirbt, von Chino heimtückisch abgeknallt, in Marias Armen.

Maria bricht zusammen, aber sie gibt nicht auf. Mit bewegender Stimme beschwört sie die Gangmitglieder, den Streit aufzugeben.

Sie alle, auch Maria selbst, seien schuldig, sagt sie, schuldig am Tod von Riff, Bernardo und Tony.

Tatsächlich bewirkt ihre Rede eine Läuterung – und mit dem Wegtragen von Tonys Leiche gibt es eine erste gemeinsame Tat der beiden Gangs.

Die West Side Story reißt mit

Die Girls um Anita wissen, was puertoricanisches Temperament ist! In der „West Side Story“ begeistert auch das Ensemble! Foto: Johan Persson / Für Tickets bitte das Banner „West Side Story“ rechts oben anklicken!

So gibt es, wie in Shakespeares „Romeo und Julia“, am Ende eine Versöhnung, die Hoffnungen spendet. Auch wenn Maria für sich ein trauriges Fazit zieht: Jetzt würde sie wissen, was Hass ist.

Anders als bei Shakespeare gibt es in der „West Side Story“ allerdings keinen Selbstmord, sondern mit Maria sogar eine überlebende Liebende. Auch „Romeo“ Tony bringt sich nicht selbst um, sondern er wird erschossen (wobei er dieses provozierte).

Robbins und Bernstein nahmen damit vermutlich auf die religiöse Empfindsamkeit vieler US-Amerikaner Rücksicht, für die ein Suizid immer eine schwere Sünde ist.

Zugleich wird somit das kriegerische Potenzial von ethnischen Konflikten in Großstädten erneut demonstriert.

In Zeiten, in denen Rassismus und Klassenschranken immer wieder neu auferstehen, ist dieses Musical brennend aktuell.

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Als handle es sich um einen Vorläufer des Films „Titanic“: Maria (Jenna Burns) und Tony (Kevin Hack) in der dramatischen „West Side Story“ in den wenigen Momenten ihres Glücks. Foto: Johan Persson / Für Tickets bitte das Banner „West Side Story“ rechts oben anklicken!

Zweieinhalb Stunden lebt und leidet, liebt und träumt man hier mit Maria und Tony, dem ewigen Liebespaar aus den Straßen von New York…

Und es ist kein Wunder, dass das Publikum – so zum Beispiel in München – nach der Vorstellung vor Begeisterung nur so tobt. Bravo!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.westsidestory.de

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