Virtuosität des Wahnsinns Alexandre Riabko ist als „Nijinsky“ beim Hamburg Ballett der schiere Irrsinn – toll!

Nijinsky ist ein ergiebiges Thema

Der Irre als Täter, aber auch als in der Liebe Leidender – hier Alexandre Riabko (vorn) mit Karen Azatyan und Hélène Bouchet in „Nijinsky“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Stahlhart. Glasklar. Brillant. So legt der Spitzentänzer vom Hamburg Ballett, Alexandre Riabko, seine Interpretation der Titelrolle in „Nijinsky“ von John Neumeier an. Perfektion bis ins letzte Zucken: Kein Bruchteil eines Zentimeters geht daneben, die Posen und Positionen stimmen exakt, der Wahnsinn dieses Mannes ist künstlerisch überhöht – bis aufs äußerste ästhetische Maß. Faszinierend. Man mag die Augen nicht von ihm abwenden und bedauert, dass man ab und an zwinkern muss. Dadurch könnte man vielleicht einen winzig kleinen Teil von Riabkos rasendem Kunstlebewesen verpassen. Dieser Tänzer lebt die Rolle, auf höchstem Niveau, mit schier vollendeter Virtuosität – und dass er sie vor Jahren schon bereits getanzt hat, sie jetzt aber ganz neu einstudierte, kam ihm dabei nur zu Gute.

Die Geschichte von Vaslaw Nijinsky, dem hoch begabten, aber psychisch erkrankenden Tanzgenie, ist eine dramatische, eine traurige, eine tragische. Als junger Mann entdeckt und von Serge Diaghilew zum Star der Ballets Russes in Paris gemacht, blieb für Nijinsky die eigene kaputte Seele zeitlebens ein Mysterium. Er hatte dem ihn von innen zerstörenden Wahnsinn nichts entgegen zu setzen. Sein fleißiger Charakter verwandelte sich langsam, aber sicher, zum Ausdruck der alles andere beherrschenden Schizophrenie. Aus „schwierig“ wurde „pathologisch“, aus „kompliziert“ wurde „sozial nicht mehr haltbar“. Eine insofern sogar typische Krankengeschichte.

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Vor seinem letzten Auftritt lässt er Wutgebrüll aus den Kulissen hören: „Nijinsky“ alias Alexandre Riabko beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Nijinsky, bisexuell und schon verheiratet, als sein Stigma ausbrach, wurde für die meisten seiner Lebensjahre eine wandelnde Krankenakte. Aber zuvor feierte er Triumphe, wo auch immer die Menschen ihn tanzen sahen. Das neu überarbeitete Programmheft des Hamburg Ballett fasst hier sehr schön mit ausgiebigen Zitaten zusammen, wie die Zeitgenossen den Aufsehen erregenden Ballerino wahr nahmen.

„Ich bekomme Angst, denn ich sehe den größten Schauspieler der Welt!“ Sarah Bernhardt, die gefeierte Diva, ließ das, innerlich wohl stöhnend, über Vaslaw Nijinsky ab.

„Er tanzte, wie Vögel singen, mit derselben Freude und natürlichen Einfalt“, und: „Nijinsky bewegte sich durch die Luft über den Boden hin, den er nie zu berühren schien, leicht wie das Herbstlaub schwebte er herunter.“ (Prinz Peter Lieven)

„Nijinsky brachte ein neues Element in den Tanz, endlich haben die Füße die Erde verlassen.“ (Paul Claudel)

„Ich hatte den Eindruck, ein Wunder zu sehen.“ (Tamara Karsawina)

„Seine ‚échapés’ waren nicht zu glauben.“ Und: Es war kein Märchen, was man sich erzählte – dass der alte Cecchetti (der Ballettpädagoge Enrico Cecchetti, Anm. d. Red.) aufrecht zwischen Nijinskys Beinen durchgehen konnte, wenn der sprang.“ (André Olivéroff)

„… leicht wie ein auffliegender Vogel…“ Und: „dann die reizende Bewegung, wenn er das Bein im „développé’ ausstreckte und seine Hand anmutsvoll vom Oberschenkel zum Schienbein fuhr in einer so schönen Haltung, als wolle er eine Liebkosung andeuten; und dann wieder das Ende einer Pirouette, wenn er langsam und immer langsamer werdend zur Ruhe kam, wie ein Rad, das allmählich ausläuft.“ (Cyril Beaumont)

Im persönlichen Umgang jedoch oftmals als mürrisch, schroff, verschlossen beschrieben, investierte Nijinsky all seine Kraft in seine Arbeit.

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Hélène Bouchet als Romola und Alexandre Riabko als „Nijinsky“ – ein tief schürfendes Paar. So zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Mit der jahrelang um ihn buhlenden und nur wegen ihm überhaupt Tänzerin werdenden Romola heiratete ihn eine geduldige, ganz auf ihn kaprizierte junge Frau aus äußerst wohlhabenden Haus. Peter Lieven beschrieb das so:

„Ihn umgab etwas Unbestimmtes, Kindliches, ja Absurdes; man hatte den Eindruck, dass er einem folgen würde, wenn man ihn an der Hand nahm und irgendwohin führte, ohne zu fragen, wohin und weshalb man ihn wegführte. Die Geschichte seiner Heirat bewies das.“

Tatsächlich verlor Nijinsky durch die dann überstürzte Eheschließung – während einer Tournee durch Südamerika – das Wohlwollen seines Liebhabers und Arbeitgebers, Serge Diaghilev. Der hatte ihn zum Star und gleichermaßen zu seinem Besitz gemacht. Er ließ Nijinsky fallen – und trotz späterer Versöhnung erlosch damit sowohl der seelische als auch der künstlerischer Stern Nijinskys.

Seinen letzten Auftritt hatte er im Januar 1919 in Sankt Moritz in der Schweiz, in einem Ballsaal des Hotels „Suvretta House“.

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John Neumeier, der Choreograf von „Nijinsky“, ersann auch das Bühnenbild, in dem hier Alexandre Riabko (oben auf der Galerie rechts) mit hehrer Miene zu Beginn des letzten Auftritts der Titelfigur erscheint. Foto: Kiran West

Er nannte diesen Tanz seine „Hochzeit mit Gott“ – und wäre Romola nicht als Aufpasserin und Lenkerin an seiner Seite, er hätte ihn vermutlich nicht mehr verständig künstlerisch füllen können. Es war in weiten Teilen eine Improvisation, keine normal geprobte Vorstellung, und Nijinsky machte, bereits in realitätsfernen Empfindungen gefangen, vorab und mittendrin unpassende, auch unpassend lange Pausen. Dennoch ging das Publikum mit, genoss die Spannung, die von dem einst so großartigen Bühnenkünstler ausging, und applaudierte heftig. Das war das Ende vom Lied seiner Karriere als Künstler; in den folgenden Jahren malte und zeichnete er, wurde auch jungen Talenten wie Serge Lifar sozusagen als Gastlehrer zugeführt, aber an vollständige, ergebnisorientierte Trainings- und Probenarbeiten war nicht mehr zu denken.

Dieser letzte Auftritt Nijinskys steht im Zentrum des Neumeier’schen Balletts.

Besonders aufregend interpretiert zudem Alexandr Trusch (in einer anderen Besetzung der Titelrolle) diese tiefgehende Dramatik (www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-nijinsky-alexandr-trusch/) – der zweite Aufführungsbesuch lohnt schon darum unbedingt!

John Neumeier schuf in wenigen Monaten – mit der Premiere im Dezember 2000 – ein collagiertes abendfüllendes Drama, das all die inneren Konflikte und auch eventuellen Lösungsmöglichkeiten aus Nijinskys Kosmos aufgreift und illustriert.

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Auch Bühnenbild und Kostüme stammen von Neumeier: Nach alten Fotografien vom Ballsaal aus Sankt Moritz gelang dem Allround-Genie eine fantastische Kulisse, die die Atmosphäre des luxuriösen Alpenortes der damaligen Zeit genau wiedergibt.

Logen mit weißer Holzbrüstung für die Zuschauer, ein mächtiger Art-Déco-Leuchter im Vordergrund sowie florale Dekorationsornamente in edelgrauer Farbgebung an den Vierkant-Säulen verleihen der Bühne das erwartungsfrohe, zwischen Vergnügungshalle und Bühnenraum changierende Flair.

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In der Vorstellung von Nijinsky (Alexandre Riabko, rechts) mischen sich Erinnerungen, Ängste, Visionen jedweder Art – so zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Immer wieder schiebt sich im Laufe des Abends diese Kulisse nach vorne und es senkt sich aus dem Nichts des Schnürbodens der Art-Déco-Leuchter, um aus Nijinskys getanzten Erinnerungen und Vorstellungen zurück in den Saal des Suvretta House zu führen.

Zu Beginn kommen zwei Paare dorthin, scherzen, erwarten Unterhaltung – aber am Ende, nach dem furiosen Finale in Form einer Massenszene, die die Vorstellung von Krieg in und um Nijinsky darstellt, wälzt sich der Hauptprotagonist, sich selbst fast erwürgend, in einem mächtigen roten Schal, einem Vorhangrelikt.

Tatsächlich agierte Nijinsky 1919 mit am Boden ausgelegten Samtvorhängen, allerdings in den Farben Weiß und Schwarz, als handle es sich um eine Installation von Wladimir Malewitsch.

Bei Neumeier handelt es sich aber nicht um eine bloße Nachbildung dieser letzten Vorstellung. Vielmehr treffen in dem gut zweieinhalb Stunden umfassenden Stück alle wesentlichen Aspekte aus Nijinskys Leben und Karriere aufeinander. Sie kulminieren in diesem letzten Tanz der Ballettikone, die am Ende der Irrsinn frisst.

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Der Überlegene spielt mit dem Schwächeren: Ivan Urban als Boss Diaghilew (liegend) und sein Star „Nijinsky“ (Alexandre Riabko). Foto: Kiran West

Das Klischee vom Wahnsinn und Genie als zwei Seiten einer Medaille muss man hier indes nicht zwangsläufig bemühen. Es gibt ja zuviele Wahnsinnige, die keineswegs genial anmuten. Die Spannung zwischen den beiden Extremen – der höchsten und der niedrigsten geistigen Essenz – ist allerdings, das sei zugestanden, reizvoll. Und die Figur Nijinsky lebt von den Kontrasten – so auch hier, in allen Farben und Schattierungen der Spiritualität.

Die Kontraste, die in Nijinskys Leben stecken, sind von Neumeier in seinem Ballett voll entfächert, ohne auf ihre äußere Erscheinung reduziert zu sein. Und sie werden von anderen tanzenden Personen innerhalb und außerhalb der Fantasie der Hauptfigur so nachvollziehbar wie erhebend dargestellt.

Da ist Romola, die in der Besetzung der Wiederaufnahme-Aufführung mit Grandezza von Hélène Bouchet getanzt wird. Vor allem die Szenen der Eleganz und der Zuneigung, der Liebe und der Hoffnung liegen ihr wie kaum einer anderen Ballerina. So auch hier. Bouchet, im internationalen Vergleich eine ganz große Künstlerin, besticht als Romola mit Präzision und Ausdruckskraft, und fast ist es schade, dass sie mit Alexandre Riabko außerhalb des „Nijinsky“-Stücks bislang so selten als Tanzpartner zu tun hatte. Sie passen nämlich superbe zusammen, die schöne Französin und der markante Ukrainer.

Im wahren Leben wurde die Romanze zwischen Romola und ihrem Mann – ihrem einzigen – vor allem von der Willenskraft dieser Frau getragen.

Romola, die Nijinsky als Zuschauerin tanzen sah und sich derart in ihn verliebte, dass sie Schauspiel- und Tanzunterricht nahm, um sich den Ballets Russes als verhältnismäßig vermögende Elevin anzudienen, heiratete den Superstar Nijinsky, obwohl ihr klar gewesen sein muss, dass es nicht ganz einfach sein würde, an der Seite eines solchen Mannes zu überleben.

So oder so – ob als Künstler oder als Kranker, Nijinsky privat war für seine nächste Umgebung die Hölle. Und auch als Choreograf war er keineswegs einfach: Für seinen Aufsehen erregenden „Sacre“ etwa malträtierte er die Tänzerinnen so sehr, dass viele von ihnen oftmals kurz vorm Aufgeben waren.

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Alexandre Riabko als „Nijinsky“ im neongrellen Kreis des Lebens. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Alexandre Riabkos Interpretation duldet da zunächst keinen Mitleidbonus mit Nijinsky als Personifikation der harsch um sich greifenden, alles aufsaugenden und verdrehenden Krankheit. Sein Nijinsky ist ein Täter, der das Monster, die Erkrankung, von innen heraus spiegelt.

Man denkt dabei denn auch an all die gewalttätigen Männer, die nicht zu Schizophrenen erklärt werden, die aber dennoch in den Familien und manchmal auch am Arbeitsplatz die von ihnen Abhängigen schinden.

Diese brachiale Gewalt, diese pure Gewalttätigkeit, die sich gerade auch im Vertrauten und im intimen KreisBahn bricht, vermag Riabko grandios zu fassen und wiederzugeben.

Damit holt er das Stück ganz nah in unsere heutige Zeit heran, und man vergisst, dass es sich um ein Libretto handelt, das die Uraufführung von „Le sacre du printemps“ 1913 zu einem der Höhepunkte hat.

Nijinsky erlebt diesen Skandalerfolg wieder und wieder in seiner Fantasie. Er ist der Choreograf der Uraufführung des Stücks von Igor Strawinsky, dessen verschobene Rhythmen damals so neu, fremdartig und ultramodern waren, dass auch das aufgeklärte, neugierige Pariser Publikum von damals sie zunächst nicht akzeptieren konnte. Erst nch dem Ersten Weltkrieg wurde zunehmend klar, dass Strawinksy und Nijinsky genau die Kriegsgräuel antizipiert hatten.

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Dramatisch! Alle werden zu Soldaten – oder zu Teilen der zerstörten Künstlerseelenlandschaft. So zu sehen in „Nijinsky“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

In Nijinskys Fantasie mischen sich denn auch immer wieder Soldaten als geisterhafte Gestalten in Unterhosen mit offener Militärjacke – gleichsam menschlich-männliche Soldaten – in die Szenerie.

Ihr mächtiges Stampfen wird ergänzt von jenen hier vom Corps de ballet regelrecht mitgerissenen Figuren, die Nijinsky im Laufe seiner Starkarriere als Künstler kreierte – als Tänzer wie als Choreograf.

Als Verkörperung des „Opfers“ aus dem „Sacre du printemps“ steht außerdem Patrizia Friza mit Schritten aus der Neumeier-Choreografie „Le Sacre“ äußerst brillant da.

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„Le Sacre“ in „Nijinsky“, allerdings zu anderer Musik und in einem ganz bestimmten szenischen Kontext: Patricia Friza (mitte links) und das Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Neumeiers „Sacre“, ein frühes Werk von 1972 (Hamburger Premiere: 1975), ist meiner Meinung nach mit Abstand die genialste der vielen interessanten „Sacre“-Choreografien, die seit der Komposition des Stücks entstanden. Der „Oper“-Tanz am Schluss, der Höhepunkt, wird in „Nijinsky“ zitiert, aber nicht wörtlich in ganzen Sätzen – metaphorisch gesagt – sondern in Kaskaden, die aus einzelnen, wiederholten und neu zusammen gesetzten Fragmenten bestehen.

Das Selbstzitat Neumeiers verändert die „Sacre“-Choreografie insofern, als es die Regeln des Minimalismus auf das Werk anwendet. Daraus ergibt sich, höchst raffiniert, eine wie von fern, aber äußerst lebhaft erinnerte Version. Diese vermag, fast als Deckerinnerung der Figur Nijinsky, auch dessen Schreckensfantasien von Krieg und Krankheit zu ergänzen.

Dass die verschiedenen „Ichs“ des Künstler-Egos mittanzen, als wären sie Soldaten oder als wären die Soldaten Bestandteil von Nijinskys Seele, bebildert sowohl die Schizophrenie der Hauptfigur als auch ihre starke Liebe zum Tanz als Medium des Selbstausdrucks.

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Alexandre Riabko („Nijinsky“) vom Hamburg Ballett feuert seine Tänzerkollegen an, den kniffligen Rhythmus in „Le Sacre“ zu halten… Foto: Kiran West

Für die Tänzer klettert Nijinsky denn auch auf einen Stuhl, ganz wie bei der Uraufführung 1913, um aus der Seitengasse der Bühne den Rhythmus mitzustampfen, mitzubrüllen. Alexandre Riabko wird hier zum wilden Anführer und Pusher, der wie ein Besessener zählt und brüllt – und der nicht nur mit der Stimme, sondern auch mit dem ganzen Körper alle Kraft aufbringt, um die Kollegen im verzwickten Rhythmus zu halten.

Der Erste Weltkrieg kroch Vaslaw Nijinsky unter die Haut, als säße er im zeitlosen Grabenelend von Verdun.

Alexandre Riabko zeigt das als aktive Angstfantasie, keineswegs als lapidare Einschüchterung.

Die Choreografie enthält Elemente der Identifizierung ebenso wie der Abwehr. Dazu sollte man wissen:

John Neumeier beschäftigt sich seit seinem zehnten oder elften Lebensjahr mit Vaslaw Nijinsky. Nijinsky, das allgemeine Sinnbild eines Tänzers (bis Rudolf Nurejew Ende der 60er Jahre zum Weltstar wurde), begegnete ihm erstmals in einem Buch, das er in der Bibliothek seiner Heimatstadt Milwaukee (Wisconsin, USA) vorfand. Bis heute hält die Neugier des Choreografen auf diesen seinen Vorläufer an – ein besonders schöner Beitrag hierzu ist im Programmheft nachzulesen und auch in Neumeiers Mammut-Buch „In Bewegung“, dem er entnommen ist.

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„Nijinsky“ ahnt, was auf ihn zukommt, wenn die Krankheit ihn ganz übermannt haben wird: Alexandre Riabko als großartiger Leidender beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Dass Nijinsky ein sensibler Mensch war, beeindruckt Neumeier dabei immer wieder. „Nijinsky“ ist denn auch nicht das erste und nicht das einzige Ballett, das das Genie unserer Tage über die mythisch-legendäre Figur des Ballerinos kreiert hat. Aber es ist das einzige abendfüllende, explizit und implizit sich vor allem Nijinsky widmende Neumeier’sche Tanzdrama. Persönliches, Familiäres, Künstlerisches mischen sich hier, um ein getanztes Psychogramm von Nijinsky zu zeigen.

Erotik und Esprit gehen dabei Hand in Hand – wie es für Ballett typisch ist. Denn es gibt wohl kaum eine andere Kunst, die, um in den Kategorien von Heinrich Heine zu sprechen, Sensualismus und Spiritualismus so eng verknüpfen.

Für Vaslaw Nijinsky war diese enge Verbindung von Gegensätzen im Ballett indes keine oder jedenfalls keine ausreichende Hilfe. Er wurde schwer krank, verlor die Kontrolle über sein Denken, Fühlen, Verhalten – und das, obwohl er sich zuvor mit Geisteskrankheit insofern beschäftigt hatte, als sein Bruder Stanislaw, der als Kleinkind nach einem schweren Sturz aus großer Höhe tagelang im Koma lag, vielleicht in Folge dessen an einer geistigen Erkrankung litt.

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Stanislaw Nijinsky (Aleix Martínez) am Boden, nur noch gehalten von seiner Familie – so zu sehen in „Nijinsky“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Aleix Martínez, der am 30.9.16 als „Nijinsky“ debütieren wird, tanzt mit Riabko als Nijinsky die Partie des Stanislaw mit einer unerhört modernen, expressiven Geschmeidigkeit, die aber weder lyrisch noch elastisch einher kommt, sondern wie zerhackt und zerflossen, wie unkontrolliert auseinander gehend wirkt, wie dem Boden stetig zuarbeitend, ohne je auf ihm anzukommen oder gar dort glücklich zu sein.

Dieses Leid ist, wir ahnen es, was Nijinsky erwartet, wenn der letzte Vorhang gefallen ist.

Das Erstarren in geistiger Dunkelheit ist eben nicht harmlos, arglos, schmerzlos – sondern kommt einem ständigen Großkampf im Kleinen gleich, einem innerlich unaufhörlich aufbrechenden Erdbeben.

Eine Art Krebsgang nach vorne, ein Zucken und Zappeln, ein irrsinniger Kampf mit sich selbst illustrieren diesen Zustand eines seelisch Zerstörten, mit dem Nijinsky sich solidarisiert und zeitweise synchron, teilweise kanonisch die Bewegungen zelebriert. Die Geschwisterliebe, der Wille zu helfen, zu retten – all das zeigt sich auch, wenn Stanislaus wie tot am Boden liegt und Nijinsky versucht, ihn mit zarten Gesten wiederzubeleben.

Die Primaballerinen Anna Laudere und Silvia Azzoni (Martínez’ mit großer Vorfreude erwartete Partnerin als Romola am 30.) setzen dagegen facettenreich schillernde Lyrizismen. Sie stehen für die Schönheit der Liebe und des Tanzens, und während Laudere mit anmutiger Einfachheit bezaubert, verkörpert Azzoni die trippelnde, geflügelte Sylphide, jenes Ballettfabelwesen, das Männer um den Verstand bringt und selbst ihr Herz dafür opfert.

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Silvia Azzoni als Tamara Karsawina in der Rolle der Sylphide mit „Nijinsky“ Alexandre Riabko. Beim Hamburg Ballett! Foto: Kiran West

Im Corps de ballet fallen übrigens Mayo Arii, Greta Jörgens, Jacopo Bellussi und Florian Pohl besonders angenehm auf – aber an sich könnte man alle hier namentlich nennen, was einem Ablesen des Besetzungszettels gleich käme.

Bleibt, die weiteren Solisten zu würdigen:

Dario Franconi ist ein außerordentlich gut ausbalancierender, in den Arabesken zauberhaft männlich-eleganter Thomas Nijinsky bzw. Faun. Thomas war selbst erfolgreicher Tänzer und der Vater der Nijinsky-Brüder.

Jacopo Bellussi als Leonid Massine ist der Nachfolge in der Liebe wie auf der Bühne des Serge Diaghilew – ihm bleibt, nach einem Nijinsky, zunächst nur, durch jugendliche Frische auf sich aufmerksam zu machen.

Lloyd Riggins, Alexandre Trusch (der am 2.10.16 als „Nijinsky“ debütieren wird) und Karen Azatyan bilden weitere Glanzpunkte, die man so schnell nicht vergisst, indem sie Nijinsky in verschiedenen Rollen verkörpern.

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Lloyd Riggins – in seiner Paraderolle als trauriger russischer Clown Petruschka, so zu sehen in „Nijinsky“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Riggins ist als Petruschka seit vielen Jahren eine Hausnummer für sich, seine hellwache Verzweiflung in der Rolle geht unter die Haut.

Trusch als „Spectre de la Rose“ bezaubert, er verkörpert die lyrische Gegenwelt zur brachialen Realität, er ist die Utopie, die Sinnlichkeit, die Schönheit, der Eros, das Zeitlos-Bewunderungswürdige – man freut sich, dass dieser Ausbund an Nijinsky’scher Power immer wieder durch die verschiedenen Visionen des Stücks geistern bzw. walzern darf.

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Erotik im Orient-Stil: Karen Azatyan als Goldener Sklave in „Nijinsky“ von John Neumeier, so zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Azatyan schließlich reißt in erotische Traumgefilde hinein, er scheint ein passionierter männlicher de-luxe-Lustsklave („Goldener Sklave“) ohne Wenn und Aber, dafür mit viel Orient in den supergeschmeidigen Beinen.

Auch sein Faun (aus „L’Après-midi d’un faune“) ist entsprechend lustvoll, diese Rollen liegen hier ja eng beisammen, und vor allem in den Pas de deux und Pas de troi mit Romola und Nijinsky spürt man Azatyans kommunikative Energie.

Seine Armarbeit, seine Kopfwendungen sind entzückend, ohne weibisch zu wirken – wer wissen will, was Ballett und Verführung gemeinsam haben, darf diesen Auftritt nicht verpassen.

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Karen Azatyan als Faun mit Silvia Azzoni als Nymphe – laszive Eleganz bis in die Fingerspitzen. So in „Nijinsky“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Karen Azatyan ist es ohnehin wert, gesondert betrachtet zu werden. Er hatte es seit seinem Einstieg ins Hamburg Ballett 2014 nicht ganz leicht in der Truppe der eingeschworenen Neumeier-Tänzer, zumal er von dem Puttke-Schüler Oliver Matz und nicht von Neumeiers Hamburger Pädagogen den letzten Schliff in seiner Ausbildung zum Ballerino erhalten hatte Aus München nach Hamburg kommend, beherrschte Azatyan damals bereits die großen klassischen Repertoirerollen wie den Basil in „Don Quixote“. Nun oftmals auf effektvolle Sprungmanöver zu verzichten, um in edlen Linien auf sich aufmerksam zu machen (wie es typisch für den Neumeier’schen Stil ist), musste schwierig sein. Doch in vielen Parts bewährten sich Fleiß und Talent, sodass Azatyan bereits spätestens seit der Uraufführung von Neumeiers „Duse“ (als durchgeknallter Dichter Gabriele d’Annunzio) ein echter Hamburger Star ist.

Als Nijinskys Alter Ego beweist er nun, dass er, zumal er hier mit großen Sprüngen brillieren darf, auch aus kleinen Gesten viel zu machen weiß und auch kurzem Erscheinen auf der Bühne starke Nachhaltigkeit zu verleihen weiß. Ein Genuss mit lang anhaltender Wirkung, wie ein guter Wein mit langem, würzigen Abgang. Eine Pretiose!

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Ivan Urban und Alexandre Riabko als fest verbandeltes Team: Diaghilew und sein Star „Nijinsky“, in dessen Erinnerung… beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Als Serge Diaghilew wiederum tanzt in dieser Besetzung, als einziger von der Uraufführung 2000 übrig geblieben: Ivan Urban.

Er, dessen körperlicher Zustand ihn in den letzten Jahren oft am Tanzen hinderte, hat diese Rolle nunmehr neu für sich entdeckt. Er kehrt die weichen, menschlichen Seiten des durchaus auch Menschenhändler-ähnlich agierenden Ballett-Impresario hervor – und siehe da, in Diaghilew steckt ein verletzliches Kind, ein armseliges Würstchen, jemand, der sich hinter seiner festlichen Gala-Robe versteckt, um nicht wirklich in seiner Traumatisierung erkannt zu werden.

In den umwerfend gefühlvollen Pas de deux von Nijinsky und Diaghilev, mit gegenseitigen Hebungen und Umarmungen, zeigt sich das Potenzial der Tänzer ganz besonders.

Und wenn Diaghilew in die Stille hinein applaudiert, als Nijinsky seinen letzten Auftritt hat (in dem Schweizer Hotel Suvretta House), dann ist es, als würde er damit zugleich die Tanzgeschichte um ein Kapitel bereichern wollen. Soviel Macht, soviel Souveränität kommen selten von zwei samtweiß behandschuhten Händen…

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Eine nicht alltägliche Männerliebe: Diaghilew und Njinsky in Neumeiers Stück über die Tanzikone – so zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Man erinnert sich übrigens auch noch an die Interpretation von Edvin Revazov, der den Diaghilew einst mit mehr Leidenschaft und weniger Trauma anlegte. Auch das war eine schlüssige, gebührend Respekt einflößende, runde Sache. In der Trusch-Besetzung am 2.10.16 wird Revazov erneut den Diaghilev geben – man darf gespannt sein. Sein starke Rhythmik in der Rolle habe ich noch vor Augen und im Ohr…

Rhythmik beweist auch Ondre Rudcenko, der Pianist des Abends, der zu Beginn am schwarzen Flügel auf der Bühne sitzt.

Und Simon Hewett ist, auch das muss erwähnt sein, ein feinfühliger Dirigent, der die Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg tief hinein in schärfste Modernismen einerseits und sanftmütigste Romantizismen andererseits führt.

Die beiden Gesichter des Vaslaw Nijinsky, sie spiegeln sich auch in der Musik, die Stücke von Chopin, Schumann, Rimski-Korsakow und Schostakowitsch quasi programmatisch zusammen fasst: von kristallhell bis donnertief, von ultramelodiös bis hin zu schallend zerrissenen, donnernd auftrumpfenden Taktmomenten.

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Als der Macher den Star fallen lässt, bricht auch dessen Schutzwall gegen die psychische Erkrankung langsam, aber sicher zusammen: Ivan Urban als Serge Diaghilew (rechts) und Alexandre Riabko als „Nijinsky“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Die Bravo-Stürme des Abends, mit Standing Ovations einher gehend, waren selbstredend nichts anderes als angemessen. John Neumeier nahm selbst den großen Beifall zum Auftakt der neuen, aufregenden Saison mit glücklichem Gesicht beim Schlussapplaus entgegen.
Gisela Sonnenburg

Hinleitung zum Thema bitte hier: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-theaternacht-nijinsky/

Über die Besetzung mit Alexandr Trusch in der Titelrolle:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-nijinsky-alexandr-trusch/

Über die Besetzung mit Aleix Martínez in der Titelrolle:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-nijinsky-aleix-martinez/

Weitere Termine siehe oben im „Spielplan“

Die einzelnen weiteren Besetzungen sind hier einzusehen:

www.hamburgballett.de

 

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