Der jüngste Knüller Welturaufführung in Moskau: Eric Gauthier kreiert beim Staatsballett Berlin mit Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin sein „Ballet 102“ – für die Kremlin-Gala

Eric Gauthier live bei der Probe

Eric Gauthier und das Ehepaar Carrillo Cabrera – Kaniskin auf der Probe. Foto: Gisela Sonnenburg

„Let’s start with Bigonzetti!“  – Huch? Ich befinde mich auf einer Probe im Ballettzentrum vom Staatsballett Berlin. Geübt wird aber nicht etwas von Mauro Bigonzetti, sondern das neue, noch in Kreation befindliche „Baby“ des Stuttgarter Erfolgschoreografen Eric Gauthier. „Ballet 102“ heißt es, in Anlehnung an das berühmte Anti-Ballett-Solo „Ballet 101“, das Gauthier 2006, also vor zehn Jahren, schuf. Er wurde damals schlagartig ein Darling der Tanzszene, verband er doch harte Kritik am Dressur-Charakter des klassischen Balletts auf lieblich-satirische Art mit der affenscharfen Darbietung poetischer Posen.

Eric Gauthier live bei der Probe

Und noch eine neue Arabeske: Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin tanzen für Eric Gauthier sein jüngstes Stück, „Ballet 102“ im Ballettzentrum in der Deutschen Oper in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Aus dem kanadischen Ballerino Eric Gauthier, den Reid Anderson seinerzeit aus Toronto mit zum Stuttgarter Ballett gebracht hatte, wurde somit ein ernstzunehmender Choreograf, der bald, 2007, beim Theaterhaus  Stuttgart seine eigene Compagnie bekam: „Gauthier Dance“ und das sozial engagierte Projekt „Gauthier Dance Mobil“ reüssieren seither unverdrossen als großartige Außenseiter in der europäischen Ballettszene; auch ohne Spitzenschuhe hat Gauthiers  Truppe sich dank seines guten Riechers für choreografische Talentkollegen an die Spitze getanzt. Und das jenseits eines Opernhausbetriebs – alle Achtung!

Aber ganz ohne Opernhaus und ganz ohne Spitzenschuhe geht es eben manchmal nicht. Diese neue Kreation von Gauthier ist nämlich eine Ausnahme, in jeder Hinsicht – und sie wird, davon bin ich überzeugt, mindestens eben so ein gefragter Knüller werden wie „Ballet 101“.

Das neue Werk beginnt ähnlich wie sein Vorgänger, mit freundlichem Winken und tapferer „Daumen hoch“- Anzeige beim Einmarsch der Darsteller.

Mikhail Kaniskin, der brillante Primoballerino, und seine soeben Mutti gewordene Gattin Elisa Carrillo Cabrera, sind die Protagonisten in diesem ungewöhnlichen Pas de deux.

Eric Gauthier live bei der Probe

Der Choreograf schaut und greift mitunter ein: Eric Gauthier und Elisa Carrillo Cabrera mit Mikhail Kaniskin proben „Ballet 102“. Ein vielleicht mal historischer Moment… Foto: Gisela Sonnenburg

Sie kennen Gauthier noch aus Stuttgarter Balletttagen – damals tanzten sie alle drei gemeinsam in einer Compagnie die Klassiker, die Moderne (vor allem die Stücke von John Cranko), sowie auch zeitgenössische Stücke, von Hans van Manen bis sonstwohin.

Eric Gauthier live bei der Probe

Auch dieser Zettel könnte historisch werden: Darauf stehen die Nummern, die Eric Gauthier für „Ballet 102“ als Sprecher ablesen muss. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie schufteten in denselben Ballettsälen, die standen auf derselben Bühne. Sie schwitzten unter dem Diktat derselben Trainingsmeister, sie rangen mit denselben Maskenbildnern um ein gutes Aussehen.

Das verbindet.

Jetzt kreieren sie zusammen – und das wird sie noch weiter verbinden, jeder Schritt, jede Geste, jede Pose wird ein Band zwischen ihnen sein.

Auch, wenn man sich nicht jeden Tag sieht – die intensive Zeit der Probenarbeit an „Ballet 102“ (nur eine knappe Woche, übrigens) wird sie für immer irgendwie zusammen halten, diese drei, auf eine fast unheimliche, ewig inspirierte Art und Weise.

„Mischa“ Kaniskin kommt aus Moskau, er wurde am ehrwürdigen Bolschoi und an der John Cranko Schule in Stuttgart ausgebildet. Seit 1997 gehörte er zum Ensemble des Stuttgarter Balletts, seit 2004 als Erster Solist.

2007 holte Vladimir Malakhov ihn nach Berlin zum Staatsballett, zusammen mit Elisa Carrillo Cabrero, die aus Mexiko stammt, wo sie zusammen mit Mischa ein eigenes Theater mit sommerlichen Ballettaufführungen betreibt.

Eric Gauthier live bei der Probe

Konzentriert zeigt Eric Gauthier einen neuen Schritt, die Körperspannung erstreckt sich von den aufgestellten Handflächen über den ganzen Leib bis in die Zehen. Foto. Gisela Sonnenburg

In den letzten Jahren erhielt Elisa in Mexiko diverse Auszeichnungen für ihre internationale künstlerische Tätigkeit – gerade eben kassierte sie wieder eine Medaille.

Auch Eric Gauthier ist übrigens schon hoch dekoriert: Er bekam den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg für sein interaktives Projekt „Gauthier Dance Mobil“, das seit vielen Jahren die Botschaft des Tanzes in alle nur möglichen gesellschaftlichen Bereiche hinein trägt – zu Kranken, Alten und anderen Unglücklichen; zu Flüchtlingen wie zu Normalos, zu Behinderten, zu Schülern und zu vergessenden Vergessenen (Demenzpatienten).

„Wir bringen alle Menschen zum Tanzen!“, so lautet der Slogan Gauthiers, der zudem ein vorzüglicher Animateur und Moderator ist.

Übrigens finden alle Auftritte von Gauthier Dance Mobil ohne Gage statt, unerhört eigentlich, bedenkt man doch, dass Eric und seine Tänzer hier der Gesellschaft ein Stück ihrer Kraft und Power zurückgeben, ohne dabei auf professionellen Erfolg spekulieren zu können.

So ein Ausgleichsdenken – dass die Satten den Hungrigen etwas abgeben, die Besserverdienenden den Ausgenommenen etwas zustecken, und sei es „nur“ Tanz – wünscht man sich natürlich viel häufiger in unserer Welt, die vor lauter Ungerechtigkeit, Dummheit und Willkür wohl immer öfter in Krisen und Bürgerkriege fallen wird.

Eric Gauthier live bei der Probe

Auch der „Faun“ von Vaslav Nijinsky ist für wenige Sekunden mit von der Partie… im „Ballet 102“ von Eric Gauthier! Foto: Gisela Sonnenburg

Ein dickes „Bravo!“ also an Eric Gauthier, von dieser hoch interessanten Probensituation mal ganz abgesehen.

Ja, was macht die Probe im relativ intimen „Oberen Ballettsaal“ in Berlin eigentlich so spannend?

Da brennt die Luft!

Eric Gauthier live bei der Probe

Sie steht in der Vierten, er hält sie mit einer Hand sicher, ihre ausgestreckt erhobenen Arme verlaufen parallel… das ist Sehnsucht in kultiviertester Form! Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin proben das „Ballet 102“. Foto: Gisela Sonnenburg

Da sind alle Teilnehmenden wie elektrisiert, stehen unter Spannung, unter Strom, wollen etwas machen, sind aktiv, aufmerksam, konzentriert…

… und da ist noch etwas, das man bei Proben nicht immer vorfindet: So eine gediegene, hoch professionelle Lockerheit, die von Eric Gauthier ausgeht und die sich im Nu auf jeden und jede überträgt.

Unmöglich, in seiner Gegenwart total nervös zu sein.

Eric Gauthier live bei der Probe

Er legt sich freiwillig flach für sie – und sie genießt es, allerdings, nun ja, im Ballett weiß man, dass alle Freuden vom Bösen bedroht sind. Foto von der Probe fürs „Ballet 102“ von Eric Gauthier: Gisela Sonnenburg

Er will auch gar nicht einschüchtern, im Gegensatz zu so manchen hochkarätigen Ballettfuzzis.

Er will auch nicht immerzu hören, dass er der Allerallerallerbeste sei.

Es genügt ihm, das zu machen, was seine Leidenschaft ist und womit er Menschen, die ihn dafür engagieren, eine Freude machen kann.

Oh, und das macht er gut.

Eric Gauthier live bei der Probe

Noch einmal Jens Peter Abele, während der Probe zu „Ballet 102“ von Eric Gauthier in Berlin. Kein Immer-Ja-Sager, sondern ein kritischer Geist, den Gauthier sehr schätzt. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Idee, die ihn, Elisa und Mischa hier zusammen führt, stammt übrigens aus Moskau.

Der Chef vom Kremlin-Ballett, Andrej Petrov, war so begeistert von „Ballet 101“, dieser rabenschwarzen, aber auch lichtdurchwirkten Satire auf klassischen Tanz, dass er Eric um eine Neukreation als Pas de deux bat.

Für die große Gala „Ballett-Stars des 21. Jahrhunderts“ („Ballet Stars of the 21st Century“), die am 15. Oktober 2016 im Staatlichen Kremlpalast steigt, sei das genau das Richtige!

Eric Gauthier live bei der Probe

Un, deux, trois! Jede Pose muss sitzen… Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin auf der Probe zu Eric Gauthiers „Ballet 102“. Foto: Gisela Sonnenburg

Na! Gauthier überlegte, der Russe ließ sich nicht abwimmeln, er wollte auch Mikhail Kaniskin und Frau als ausführende Stars sehen (schließlich hatte er Kaniskin mit „Ballet 101“ im Vorjahr auf der Gala zu Gast gehabt) – und Eric Gauthier konnte gar nicht anders, als langsam, aber sicher Feuer und Flamme für die Auftragsarbeit zu werden.

Vielleicht hatte er ohnehin mal ganz klammheimlich schon daran gedacht, so etwas zu versuchen…

Und dass er nun mit Elisa Carrillo Cabreras Füßen wunderschöne, exquisit tanzende Spitzenschuhfeenkraft als „Material“ für ein neues Ballett haben würde, war ganz sicher keine abschreckende Vorstellung.

Wie es im Ballett üblich ist, war auch die Klärung der Raumfrage nicht das Problem.

Eric Gauthier live bei der Probe

Manchmal muss man über etwas reden auf der Probe… natürlich mit entsprechender Gestik! Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin in Aktion. Foto: Gisela Sonnenburg

Gauthier konnte mit Wunsch-Musiker Jens Peter Abele am Computer anreisen, das neue Ballettstück wie avisiert kreieren und auch seine zählende Stimme für die Tonaufnahme mitschneiden lassen – es ist wirklich schön, wenn die Dinge so gut zueinander passen und im richtigen Flow in Schwingungen geraten.

Aber was hat all das nun mit Bigonzetti zu tun?

Eric Gauthier live bei der Probe

Und prösentiert euch! Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin bei einer der schönen Pas-de-deux-Posen vom „Ballet 102“. Foto: Gisela Sonnenburg

„Let’s start with Bigonzetti!“, lasst uns mit Bigonzetti anfangen, so lautet  eine konkrete Ansage von Eric Gauthier, während der Probe in Berlin.

Tatsächlich: Da pauken Mischa und Elisa eine Schrittfolge mit Posencharakter, die irgendwie eine Anmutung des choreografischen Werks von Mauro Bigonzetti hat. Bigonzetti hat 2014 in Stuttgart für Gauthiers Truppe den Abendfüller „Alice“ kreiert, und in Berlin begeisterte jahrelang sein 2009 entstandendes Stück „Caravaggio“.

Eric Gauthier live bei der Probe

Füße. was für Füße! Das schöne Tanzpaar Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin mal ganz bodennah gesehen… Foto: Gisela Sonnenburg

Er ist eine Hausnummer im Reigen der zeitgenössischen Choreografen, dieser Italiener, der einst selbst eine Außenseiter-Truppe leitete, das Aterballetto, was er zu Gunsten seiner freiberuflichen Tätigkeit als Ballettmacher aber wieder aufgab.

Eric Gauthier live bei der Probe

Hier ist ein Fuß in schönster Streckaktion zu sehen: Auf der Probe fürs „Ballet 102“ von Eric Gauthier. Foto: Gisela Sonnenburg

Jedenfalls darf Bigonzetti nicht fehlen, wenn man möglichst viele wichtige choreografische Handschriften in eine Viertelstunde Galaglanz hineinzupressen hat.

Aber warum nicht die Sache von Beginn an berichten?

Eric Gauthier live bei der Probe

Mit edler Neigung zum Partner hin: Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin im „Ballet 102“. Foto: Gisela Sonnenburg

Auf die Gefahr hin, dass jetzt schon alle Bescheid wissen – zwei Tage vor der Uraufführung dürfte das kein Problem mehr sein.

Da ist dieser Beginn à la „Ballet 101“, der die Situation von Profi-Tänzern klarmacht.

Eric Gauthier live bei der Probe

Dieser Ballerino ist mehr als nur gut drauf: Mikhail Kaniskin, „Ballet 102“ probend, in einer Mauro-Bigonzetti-Pose. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie müssen gut drauf sein, immer gut drauf sein, sie müssen fröhlich sein und winken, egal, wie es ihnen gerade geht.

Das Publikum will unterhalten werden – und der Ballettchef will keinen Ärger.

Also: Hallo, und wie geht es euch?

Eric Gauthier live bei der Probe

Unverkennbar ein modifiziertes Zitat aus „Le Corsaire“: Mikhail Kaniskin verehrt Elisa Carrillo Cabrera im „Ballet 102“. Foto: Gisela Sonnenburg

Ach so, überflüssige Frage, natürlich geht es euch gut! Supergut! Supersupergut!

Die Daumen müssen hoch, und das so hinzukriegen, dass es elegant und dennoch erbärmlich, anmutig und dennoch bemitleidenswert, ehrlich und doch zugleich bewundernswert gelogen aussieht, ist gar nicht mal so einfach.

Eric Gauthier live bei der Probe

Oh, yeah! Klar, es geht uns gut, und falls nicht – wir sagen es einfach nicht! Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin bei der Probe zu „Ballet 102“, Gauthiers jüngster Parodie auf die Immer-fit-Sein-Philosophie im Profitanz. Foto von der Probe: Gisela Sonnenburg

Nach ein paar Wiederholungen gelingt der Ausdruck, auch das Tempo, der Rhythmus, alles ist schon mal perfekt.

Aber es ist nur der Anfang…

„Are you ready to start the demonstration?“

Eric Gauthier live bei der Probe

Eine Pause muss auch mal sein… Elisa Carrillo Cabrera überprüft darin ihre Ballettschuhe. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Probensprache ist, wie die Ansagen von Eric fürs Stück, Englisch. Das ist einfach Gewohnheit, auch wenn alle drei ein sehr gut verständliches Deutsch sprechen.

Und ab geht die Post!

Klassische, edle Positionen des Paartanzes werden durchgehechelt, der Mann hält und lenkt die Frau, präzise streckt sie ihren Fuß, gekonnt schiebt er ihren Leib in eine bestimmt Richtung, während sie auf den Zehenspitzen steht.

Eric Gauthier live bei der Probe

Ganz brav sehen sie hier aus: Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin im Tendu. Foto: Gisela Sonnenburg

Eins, zwei, eins, zwei – immer neue Posen erblühen, sie sind aber so organisch aneinander gereiht und auch miteinander verwoben, als handle es sich um eine etwas unübliche Trainingskombination.

Poetisch wirkt es, schon jetzt, das neue Werk von Gauthier, und dennoch lauert in der erbarmungslosen Abfolge von kleinen Kunststücken der Spott.

Eric Gauthier live bei der Probe

Zwischen all den akrobatischen Figuren eine kurze Pantomime – Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera proben das „Ballet 102“. Foto: Gisela Sonnenburg

Ist es denn eigentlich noch normal, dass Menschen sich so verbiegen, so abrichten lassen, so gehorsam von einer Figur in die nächste kommen?

Der Verdacht kommt, wie in „Ballet 101“, langsam auf und verschärft sich von Sekunde zu Sekunde: Das hier ist eine Parodie, eine Satire…

Der Choreograf diktiert derweil die Zahlen, die die Posen titulieren:

Eric Gauthier live bei der Probe

Ihre Bein- und Armarbeit harmonieren in schönster moderner Klassik: Elisa Carrillo Cabrera auf der Probe zu „Ballet 102“. Foto: Gisela Sonnenburg

„Twelfth!“ – „Seventeenth!“ – „Seventeenth!“ – „Seventheenth to Eighteenth!“

Eigentlich sind schon diese Nummern Parodien, denn sie stammen natürlich nicht von Agrippina Vaganova noch aus der old school des Balletts, das vor knapp vierhundert Jahren die einzelnen Grundpositionen „erste Position“, „zweite Position“, „vierte Position“, „fünfte Position“  und so weiter (die dritte Fußposition wird kaum benutzt) erfand und auch für die Armarbeit die Posen durchnummerierte.

Gauthiers Stücke erfinden das Durchnummerieren sozusagen neu.

Aber dabei geht es auch, rein tänzerisch gesehen, um das geschmeidige Gleiten von der einen Sache in die nächste…

Eric Gauthier live bei der Probe

Mikhail Kaniskin hat noch eine Frage mit dem Choreografen Eric Gauthier zu diskutieren… Foto: Gisela Sonnenburg

 

Wunderbar sieht das aus, wenn Mikhail Kaniskin seine Frau mit wenigen Griffen umherwirft, sie sanft auffängt, sie beide ihre Balancen bewahren, als wenn nichts wäre…

Die zwanzigste Position von „Ballet 102“: Elisa Carrillo Cabrera steht da, stark, schön, vorwärts gewandt.

Die Dreiundzwanzigste: Oh! Er, vor ihr sitzend in der Hocke, als „Corsaire“-Sklave, die Hände aufs Herz gepresst.

Eric Gauthier live bei der Probe

Eine ironische Schönheit hat auch das Tendu backward der Primaballerina in „Ballet 102″… Foto: Gisela Sonnenburg

Hier hat das, was wir sonst als so hehr kennen und lieben, eine ironische Schönheit.

Etwas Modernes.

Ein Zusatz, der die Klassik nicht mindert, der aber wie in Parenthesen ein Fragezeichen anzufügen weiß.

Zu erkennen sind alle nur möglichen choreografischen Erfolgsgeheimnisse.

Von Marius Petipa (der unter anderem „Le Corsaire“ schuf) über George Balanchine bis zu Mats Ek.

Von Vaslav Nijinsky bis zu Mauro Bigonzetti.

Eric Gauthier live bei der Probe

Erst mal locker sagen, wie gut es einem geht… auch das gehört gar nicht mal so heimlich zum Job der Tänzer! „Ballet 102“-Probe in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Von John Cranko bis zu John Neumeier.

Mikhail Kaniskin wechselt von einem Rollenfach zum anderen, in rasantem Wechsel.

Korsar, Prinz, Onegin, Faun, Liebhaber, Jesus-Jünger. Wieder und immer wieder: lover. By heart!

Elisa Carrillo Cabrera spielt mit.

Erst ist sie eine klassische Tänzerin, wie aus dem Vaganova-Lehrbuch, dann eine ganz moderne pure Ballerina, dann Medora aus „Le Corsaire“, dann wackelt sie mit dem Kopf, ganz indisch, während Mikhail sie hoch hält, eine Mini-Referenz an Sidi Larbi Cherkaoui…

Eric Gauthier live bei der Probe

In luftiger Höhe wackelt sie mit dem Kopf, die Arme „indisch“ darüber verschränkend… Elisa Carrillo Cabrera mit Mikhail Kaniskin auf der Probe zu „Ballet 102“, in einer getanzten Anspielung auf Sidi Larbi Cherkaoui. Foto: Gisela Sonnenburg

… und nur wenige Zeit später verkörpert die Primaballerina eine ihrer Lieblingsrollen, Tatjana aus Crankos „Onegin“, die dem Titelhelden mit deutlichem Fingerzeig eine Abfuhr erteilt. Puh!

Eric Gauthier ist hoch erfreut über das, was er sieht.

Erst gestern hat er das Ballett mit seinen beiden Protagonisten soweit fertig gestellt, heute wird der erste komplette Durchlauf stattfinden.

„Very good, very clean!“

Eric Gauthier live bei der Probe

Ganz klar: Eine edle Pose à la George Balanchine aus dem „Ballet 102“, wie es in Berlin entstand. Foto: Gisela Sonnenburg

Er lobt seine Tänzer.

Aber Elisa ist ehrgeizig und weiß, dass sie noch mehr kann, als sie bislang zeigte. Sie ist unzufrieden und will weitere Korrekturen.

Und so wird der erste Teil der getanzten Ballettgeschichte von „Ballet 102“ wieder und wieder wiederholt…

Zu meinem Vergnügen, übrigens!

Schließlich sitzt jedes kleinste Bisschen, jede rhythmische Veränderung, jedes Schrittchen, wo es hin soll…

Eric Gauthier live bei der Probe

Eine typische Pose aus „Ballet 102“, von Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera auf der Probe musterhaft blitzschnell serviert. Foto: Gisela Sonnenburg

… die Linien bei den Arabesken sind wunderbar, edel und erhaben…

… und dennoch hat das Ganze Witz, Pfiff, Raffinesse.

Und lebt von Widersprüchen!

Kaum hat Elisa „Onegin“ da ade gesagt, liegt er ihr auch schon nicht nur zu Füßen, sondern rollt sie blitzschnell auf sich rauf.

Eric Gauthier live bei der Probe

Elisa Carrillo Cabrera klärt mit Eric Gauthier, wie ihr Kostüm sitzen wird… Foto von der Probe am 22.9.16 aus Berlin: Gisela Sonnenburg

So. Und? Ach und oh! Es gefällt ihr! Aber…

Natürlich hält die Begeisterung nicht an, dann wäre es ja keine Satire.

Die zweite Hälfte steht zur Probe an.

Poesie und Ironie verschlingen einander regelrecht, so heiß fallen sie hier übereinander her…

Es ist eine Liebeserklärung ans Ballett und doch auch eine Parodie total – Alexej Ratmansky, der manchmal selbst ironisch choreografiert, wird hier natürlich auch zitiert, vielleicht ist er sogar eine Art Vater des Gedankens.

Eric Gauthier live bei der Probe

Eine Hebung! Und was für eine! Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin auf der Probe zu „Ballet 102″… Foto: Gisela Sonnenburg

Elisas Spagatsprung, Mikhails Flitzen mit ihr durch den Raum – all das bewirkt fast eine Ekstase, so schnell und akrobatisch, aber auch so leichtfüßig und passioniert geschieht es.

Dabei gab es, wie in „Ballet 101“, noch die trügerisch gnädige Ansage vom Chef: „Well done! Take a break!“ – Und diese Pause dauerte dann gerade mal zwei Sekunden. Knapp zwei Sekunden!

Der Mann der guten Töne, Jens-Peter Abel, applaudiert spontan.

Nach fast zwei Stunden Probenzeit ruft Eric Gauthier eine tatsächliche Pause aus. Er öffnet das Fenster, lässt frische Luft herein.

Zeit, die Ehefrau zurückzurufen, wenn man Choreograf ist.

Zeit, in eine Banane zu beißen, was Mikhail macht.

Zeit, sich die Spitzenschuhe kontrollierend anzuschauen, Elisas Pausenbeschäftigung ist das.

Als es weiter geht, Punkt 13 Uhr ist es da, wird der Schluss des Stücks nochmal genau unter die choreografische Lupe genommen.

Eric Gauthier live bei der Probe

Steh wie eine Göttin! Und wie ein Standbild! Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera auf der Probe… Foto: Gisela Sonnenburg

In einem Affentempo geht es voran, Coupé, Coupé, im Kreis wird sich auf dem Platz gedreht, und hopp!

Eine große Drehhebung – „One-hundred“, sagt Gauthier. „One-hundred, one-hundred!“

Er springt auf, von seinem Sitz, und demonstriert, was er meint und wie er es meint.

Eric Gauthier live bei der Probe

Ganz schöner „hard stuff“ ist die neue Choreografie! Mikhail Kaniskin erklärt, warum er hier so präzise sein muss. Foto: Gisela Sonnenburg

Vor allem Mikhail Kaniskin ist da gefordert. „Hard stuff“, sagt der erfahrene Primoballerino, „ich muss total präzise sein, sonst geht da gar nichts.“

Eine zweite Pause bringt etwas Ruhe. Die zweite Hälfte der Banane von der ersten Pause wird vertilgt.

Es ist kurz nach 14 Uhr. Abele stellt am Computer die Töne an…

… und die Tänzerin und der Tänzer legen sich nochmal ins Zeug.

Was jetzt noch nicht hundertprozentig schön und gediegen aussieht, wird Bea Knop, die Künstlerische Produktionsleiterin vom Staatsballett Berlin, mit ihnen nacharbeiten. Noch ist da etwas Zeit bis zur Welturaufführung in Moskau.

101, 101, 101, 102. Der Schluss.

Da gibt es einen Ratmansky-Anklang, ein gewirbeltes Soutenu auf Spitzenschuhen – und Elisa und Mikhail legen beschwörend jeder eine Hand auf die Brust.

Eric Gauthier live bei der Probe

Und noch eine Arabeske, dieses Mal sehr „Corsaire“-like… auf der Probe zu „Ballet 102“. Foto: Gisela Sonnenburg

Dem düster-makaberen Ende von „Ballet 101“, das zu den Geräuschen eines startenden Flugzeugs den Tänzer als zerstörte Puppe zeigt, deren Gliedmaßen wild verteilt im Raum herum liegen, setzt das „Ballet 102“ eine pointiert-ironische Freundlichkeit entgegen.

Die Turbotänze kurz zuvor, in denen die Posen noch einmal ganz schnell wechselten – „eighty, ninety-one, fifty!“ – hat man da noch taufrisch im Gedächtnis.

Und noch etwas ist anders als in „Ballet 101“: Es gibt Musik – ein rhythmisches, dunkles Wummern aus der Soundmaschine von Jens Peter Abele. Er hat bereits mehrfach mit und für Gauthier gearbeitet, die beiden sind ein eingespieltes Team.

Eric Gauthier live bei der Probe

Er weiß, was er will, wenn er kreiert – und auch, wenn er Musik macht, was sein zweiter Beruf ist. Eric Gauthier, Multitalent aus Kanada, als Wahl-Stuttgarter mit einer Deutschen verheiratet und überaus intelligibel. Foto: Gisela Sonnenburg

Auch die Aufnahmen von Erics Stimme („thirty-six, thirty-six, thirty-six en place!“) für die Show macht Abele, gleich hier, im Ballettstudio, das kabellose Mikrofon prangt nicht umsonst in Erics Hand.

Zur Musik hat Gauthier ja zudem noch ein weiteres Verhältnis als ein ballettöses: Er hat eine Band, rockt und hottet da regelrecht ab, verdient sogar auch Geld damit, ist also keineswegs ein Dilettant – aber mit seiner Tanzarbeit, das betont er, hat diese zweite Karriere absolut nichts zu tun.

Im Gegenteil: Er hat es sogar abgelehnt, eine Art Tanzmusical mit eigener Musik zu machen, angeboten wurde es ihm schon mal.

Eric Gauthier live bei der Probe

Ach, so ein Spagat,der macht glücklich,der macht froh – zumal, wenn er gleich doppelt einher kommt… Foto: Gisela Sonnenburg

Die Gegensätze sind aus Ballettsicht also deutlich: Während Rockmusik für Eric Gauthier etwas ist, um sozusagen die Sau rauszulassen, um frei zu sein in allem, was er auf der Bühne tut, ist Ballett das dezidiert-präzise Einstudierte, das Performative ohne Improvisation, das Perfekte, nicht das Spontane. Also… per definitionem: das Klassische!

Ein eigentlich doch überraschendes Ergebnis bei jemandem, der so viel Revoluzzertum ins Ballett trägt!

Für Moskau sei den Dreien von „Ballet 102“ – die ja vielleicht auch noch mal ein „Ballet 103“ machen werden – alles Gute gesagt. Toitoitoi!
Gisela Sonnenburg

Kremlin-Gala „Ballet Stars of the 21st Century“: am Samstag, 15. Oktober 2016, 18 Uhr, im Staatlichen Kremlpalast im Kreml, Moskau 

ballett journal