Faustdick hinter den Ohren „Der Widerspenstigen Zähmung“ garantiert beim Stuttgarter Ballett einen in jeder Hinsicht kurzweiligen Genuss

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Seit der Uraufführung 1969 ein internationaler Knüller unter den ohnehin seltenen Ballett-Komödien: „Der Widerspenstigen Zähmung“ von John Cranko, hier ein Rückblick auf Stuttgart aus dem Programmheft der Hamburgischen Staatsoper von 1979, denn auch dort wurde damals das Cranko-Stück getanzt . Faksimile: Gisela Sonnenburg

Eine Komödie ist eine Komödie ist eine Komödie. Wenn man in John Crankos Meisterstück „Der Widerspenstigen Zähmung“ geht (das sich ganz an Shakespeares gleichnamiges Drama als Vorlage hält), dann weiß man: Hier kommt man ohne Lachkrämpfe nicht wieder weg. Das ist so seit der Uraufführung 1969, als Cranko sich somit auf ein Terrain vorwagte, das die meisten Ballettschöpfer nur unter Vorbehalt betreten: auf die rutschige Eisbahn der Komödie.

Ach, was heißt „Komödie“ – eine wahre „Klamotte“ ist die „Zähmung“, aber hallo! Und sie hat es faustdick hinter den Ohren, bildlich gesagt.

Hier wird nicht delikat mal alle Viertelstunde ein Witzchen gemacht. Hier wird nahezu sekündlich mit allen Mitteln der kunstvollen Übertreibung Spaß hoch zehn gemacht! Bis zur Derbheit, bis zur Groteske. Es wird grimassiert, gepoltert, geeiert, gegurkt, geworfen, gezankt, geprügelt – und wäre der Cranko-Stil nicht so außerordentlich nobel, man könnte sich in einer Art Zirkusarena wähnen. Denn die akrobatischen Fähigkeiten, die die TänzerInnen hier beweisen müssen, sind allerhand. Doch gerade das Zusammenspiel von edelfeinem, anmutigen Ballett und klotzig wirkenden Wurf- und Hebefiguren macht den spezifischen Geschmack dieses Wunderwerks aus.

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Hier sieht man die tolle Alicia Amatriain im Zentrum des Geschehens, und ihre Katharina scheint ganz lieb zu sein … ein seltener Moment in der magischen „Widerspenstigen“. Foto: Stuttgarter Ballett

Die feministische Frage darf man derweil erstmal nicht stellen. Es handelt sich um ein Paket aus Lachbomben, das hier geöffnet wird, und dafür ist eine karnevaleske Nonsense-Philosophie angesagt. Die politische, soziale, emotionale Korrektheit muss da ausnahmsweise erstmal außen vor bleiben. Sonst geht das Puzzle aus bösartig-lustigen Anti-Schmonzetten nicht auf.

Rücksichtslos wie sonst nur Satire bahnt sich hier das Fluidum des dramatischen Werkes seinen Weg.

Da spreizt die wilde, heiratsunwillige Katharina die Beine in einer Art, wie man es im Ballett bis dahin noch nie gesehen hatte. Wie despektierlich! Und doch: wie anmutig!

Da gelingt ihr der „Max-und-Moritz-Sprung“, den sonst das Kindertheater für sich vereinnahmt hat, als sei er eine elegante Vorbereitung für einen Streich. So tanzen sonst nur böse Buben – aber Katharina ist ja auch die wandelnde Karikatur auf die emanzipierteste aller Jungfern.

Die Knie liegen bei diesem Sprung einwärts parallel, aber eng beisammen. Fast könnte man das eine brave Haltung nennen. Aber dann: Während das eine Bein in der Luft bis in die Zehenspitzen gestreckt wird, wird das andere blitzschnell gebogen. Aber nur der Unterschenkel dieses gebeugten Beines rast empor, angeführt von der frechen Fußspitze. Das dazu gehörige Knie tut weiterhin so, als könne es kein Wässerchen trüben, fein schmiegt es sich ans andere, harmonisch, unauffällig, gutartig – es ist die Scheinheiligkeit, die diesem Sprung wie eben auch den dummen Streichen nicht nur von Max und Moritz die Würze verleiht.

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Ja, so kennt man die Titelfigur! „Der Widerspenstigen Zähmung“ mit Alicia Amatriain und den bemitleidenswerten Verehrern… Einem knallt Katharina gerade wütend seine Laute übern Schädel… natürlich während eines expressiven Sprungs! Foto: Stuttgarter Ballett

Oh, und zu der widerspenstigen Katharina passt so eine körperliche Äußerung! Auch ihre Chainés, bei denen sie sich kunstvoll mit spitzen Fingern die Ohren zuhält, weil der Verehrer mit seinem Geklampfe an der Laute so nervt – hach, das ist Katharina, wie sie leibt und lebt. Später knallt sie dem armen Mann sein Instrument denn auch glatt übern Schädel, hui, mitten aus einem Wutsprung heraus – das ist Slapstick wie im Kino.

Während ihre sanfte, gut erzogene Schwester Bianca unbedingt unter die Haube kommen möchte, wehrt Katharina sich also geradezu mannhaft gegen jede Art von Annäherungsversuch. Man könnte spekulieren, ob das Gründe hat. Vielleicht sogar traurige.

Aber die zählen hier nicht. Erstmal nicht. Hier werden Katharina, der Wilden, ihr Trotz und ihre Widerborstigkeit als pure Boshaftigkeit und reine Faulheit ausgelegt. Kate, wie sie im englischen Original heißt, ist das Ausbund schlechter Laune, immerzu zum Meckern aufgelegt – zu sonst aber auch gar nichts.

Man fühlt sich glatt an die eine oder den anderen Ballettkritiker(in) erinnert…

Bianca ist da ganz anders. Geschmeidig empfängt sie die drei Herren, die sich als ehefähige Freier vorstellen. Zu gerne wäre sie schon eine Braut!

Aber sie ist die jüngere der beiden Schwestern, und zuerst muss die ältere verheiratet werden. Sonst wird man die gar nicht mehr los im Haushalt von Baptista, dem verwitweten Vater. Und loswerden, ja, doch, möchte man die dreiste Superemanze ganz gerne…

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Mit Petrucchio, hier getanzt von Jason Reilly, wendet sich das Blatt in Katharinas Geschichte… Sein kecker Mutsprung ist übrigens markant für die Rolle und über das Stück hinaus berühmt. Foto: Stuttgarter Ballett

Als Petrucchio auftaucht, wendet sich das Blatt. Er ist ein roher Gesell, der vergleichbar für einen gewetteten Kasten Bier jede Dorfschönheit kaltblütig flach legen würde.

Sein Mutsprung ist übrigens ein Gegenstück zu Katharinas Sprung und lässt ebenfalls ein Bein gestreckt, während das andere angewinkelt wird. Marius Petipa verwandte solche Sprünge für possierliche Tierdarstellungen, hier bei Cranko aber bedeuten sie Tatkraft.

Ohne Skrupel kommt dieser wilde Mann der wilden Katharina mit Dominanz. Er spielt mit ihr, legt ihr Zaumzeug an, baggert sie an und unterdrückt sie zugleich. Er foltert sie, er lässt sie hungern, er misshandelt sie, er verprügelt sie. Er lässt sie so lange leiden, bis sie ihn anfleht, sie zu lieben. Zu schwängern. Zu ernähren.

Dann wird er, ganz dem Männlichkeitswahn gehorchend, ein scheinbar liebevoller Gatte.

Machen es nicht heimlich alle Männer so? Zumal, wenn die Braut (wie Katharina) stinkreich ist?

So angelt Petrucchio sich seine Zukunft, mit Katharina auf dem Holzpferd hat er ausgesorgt. Und das einst so wilde Mädel fühlt sich plötzlicherweise berührt von der masochistischen Unterlegenheit als untertäniges Weibchen.

Fortan also wird sie gehorchen, zumindest scheinbar, und ihr Macker kann überall sagen, er hätte die Hosen an.

Liebe auf Augenhöhe? Mit gegenseitigem Respekt? Nur um den Preis der Unterjochung der Frau.

SHAKESPEARE SCHRIEB EINE SATIRE

So gesehen, schrieb Shakespeare eine Satire auf den Alltag zwischen Mann und Frau und schuf also mit seiner grotesken Komödie ein gut getarntes Pamphlet für die Befreiung der Frau von der Ehe.

Aber wer merkt das schon? Richtig: All die Spießbürger, denen man für diese knallig lustige Geschichte das Eintrittsgeld anknöpft – also Sie, verehrtes Publikum – bemerken zumeist nichts vom subversiven Potenzial dieser Angelegenheit. Lieber klopfen sich die fetten Männer auf die unansehnlichen Schenkel, lieber kichern ihre unterdrückten, abgemagerten Partnerinnen, weil es also anderen Frauen auch so ergeht wie ihnen. Klammheimlich natürlich.

Denn eigentlich wurden Frauen noch nie von Männern unterdrückt und geschlagen, oder?

Es wäre ja schrecklich, wenn wir uns mit diesem Problem als einem systematisch im Patriarchat angelegten Menschenrechtsverstoß beschäftigen müssten!

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Petrucchio und Katharina – ein typisches Paar im Patriarchat? Foto: Stuttgarter Ballett

Da gehen wir doch lieber ins Theater, ins Ballett.

Aber man kann die Hoffnung haben, dass der eine oder andere Zuschauer hier die Ironie der propagierten Ehe-Moral erkennt…

John Crankos Choreografie lässt jedenfalls keine Gelegenheit aus, um darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um eine Überzeichnung, um Satire, um Spott und um Hohn handelt – auch wenn er es nie deutlich sagt.

Das selbstbewusste Mädchen wird dressiert wie ein Hündchen, um tauglich zu sein für die patriarchale Eheführung – das kann doch eigentlich keiner ernst nehmen, oder?

Ich sah dieses abgedrehte Stück übrigens auch 1979 in Hamburg, beim Ballett der Hamburgischen Staatsoper, wie das heutige Hamburg Ballett von John Neumeier damals hieß: mit einer niedlich-widerspenstigen Marianne Kruuse, alternierend mit der katzenhafteren Lynne Charles, als Katharina.

Bei der Uraufführung zehn Jahre zuvor, 1969 in Stuttgart, brillierten aber vor allem Richard Cragun als Petrucchio und Marcia Haydée als Katharina: mit Vielseitigkeit, mit Hingabe, mit Rückhaltlosigkeit.

Cragun wurde mit diesem Part, den er kraftvoll, drahtig und geschmeidig abgab, sogar weltberühmt.

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Das Programmheft der Hamburgischen Staatsoper von 1979 zeigt ein Stück der Partitur zur „Widerspenstigen Zähmung“ und Probenfotos mit Marianne Kruuse als Katharina. Rechts unten sieht man sie im abgewandelten „Max-und-Moritz-Sprung“. Faksimile: Gisela Sonnenburg

In den Rollen der drei Freier, die ins Haus von Baptista kommen, reüssierten 1969 übrigens auch drei Stars: Egon Madsen, Heinz Clauss und John Neumeier. Wow. Was für ein Glanz!

Mit dieser Besetzung kann man heute in Stuttgart definitiv nicht mehr mithalten.

Die tollen männlichen Tänzer laufen Ballettintendant Reid Anderson aus unbekanntem Grund davon, und der verbliebene Star-Ballerino Jason Reilly muss alles tanzen, vom „Onegin“ bis zum „Petrucchio“.

Constantine Allen, der ihn als junger Nachwuchsheld in der „Widerspenstigen Zähmung“ bei einigen Vorstellungen ersetzt, ist für Kenner des Stücks ein hartes Brot.

Allen ist zu eitel, um ein guter Schauspieler zu sein – und technisch zu langweilig, um echte Brillanz erreichen zu können. Er sollte nur noch abstrakte Ballette tanzen, da passt er ganz gut hin. Klassische Charaktere jedoch liegen ihm einfach nicht, egal, wie man ihn da besetzt, egal, wie sehr man ihn beprobt. Das ist meine Meinung.

Friedemann Vogel hingegen flaniert flugzeugweise durch die Weltgeschichte und begeistert überall – er ist in Stuttgart jedoch allzu selten zu Gast, um noch als fester Teil der Compagnie betrachtet zu werden.

In der „Zähmung“ ist er, soweit ich weiß, nicht mal besetzt. Wie traurig! Er wäre der beste Petrucchio hier, einer, der weiß, was er will, und der zugleich darunter leidet.

Es bleibt wohl ein Traum!

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Ende gut, alles gut? Recht dubios und eben unbedingt satirisch mutet die Versöhnung von Petrucchio und Katharina auch heute noch in John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ an. Foto: Stuttgarter Ballett

Aber ansonsten gibt es auch Novitäten und Glücksfälle auf der Bühne zu bewundern, vor allem bei den Damen.

Stars wie die tolle Alicia Amatriain, wie Myriam Simon, Hyo-Jung Kang, Elisa Badenes und Jessica Fyfe (mit einem Debüt!) gestalten die Vorstellungen schmackhaft und spannend, und Jungs wie Pablo von Sternenfels machen Hoffnung, dass es in Stuttgart bei den Herren nicht nur den Bach hinunter geht.

Und dann ist da ja auch noch die Musik!

Kurt-Heinz Stolze, Crankos Geheimwaffe in Sachen Ballettmusiken, kreierte auf der Grundlage von Klavierstücken von Domenico Scarlatti eine zauberhafte, federleichte, dennoch dramatische Tanzmusik.

Stolze hat ja auch den großen, anhaltenden Welterfolg von „Onegin“ mit seiner Arbeit mit bewirkt, er goss dafür Noten von Peter I. Tschaikowsky in eine neue Form.

Aber auch mit dem barocken Harmonietreiber Scarlatti hatte Stolze sein Vergnügen. Kaum zu fassen, dass Stolze, dieser hoch begabte Mensch, sich später umbrachte. Er muss gravierende Gründe gehabt haben.

Und jedes Mal, wenn ich ein Stück von ihm höre, denke ich, was uns alles durch seinen frühen Tod entgangen sein mag.

Das gilt natürlich auch für das 1973 viel zu früh verstorbene Choreografenwunder John Cranko.

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Das Programmheft der Hamburgischen Staatsoper von 1979 zeigt und ehrt die Uraufführung zehn Jahre zuvor in Stuttgart: „Der Widerspenstigen Zähmung“ von John Cranko. Oben links mittig mit droßer Perücke: John Neumeier 1969. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Als Vorläufer von John Neumeier und Zeitgenosse von Kenneth MacMillan machte er dem Handlungsballett des 20. Jahrhunderts Beine, sozusagen, und seine drei großen Stücke („Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“) sind in einer Reihe zu sehen mit Marius Petipas „Dornröschen“, mit dem klassischen „Schwanensee“, mit MacMillans „Mayerling“ und mit John Neumeiers Meisterwerken wie der „Kameliendame“.

Die „Zähmung“ widmete der damalige Ballettdirektor Cranko dem Stuttgarter Intendanten Walter Erich Schäfer, der ihn förderte und voll Vertrauen einfach arbeiten ließ. Ein das Ballett vollauf und sinnvoll unterstützender Theaterintendant – was für eine Rarität!

Schäfer hatte auch die Idee, Musik von Scarlatti zur Grundlage des Balletts „Der Widerspenstigen Zähmung“ zu nehmen. Kurt-Heinz Stolze sorgte dann im Auftrag des Theaters für die Tüpfelchens auf den musikalischen „i“s.

Damit wurde der Zeitgeist des Barock mit der Modernisierung für unsere Ohren geschliffen.

Eine Widerspenstige kommt selten allein

Das sehr wertvolle Programmheft der Hamburgischen Staatsoper von 1979 setzt auch die beiden Musiker Stolze und Scarlatti in Beziehung. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Stolze befand denn auch über Scarlatti begeistert: „In jedem Fall gab seine farbig vielfältige, vitale Musik gerade für eine solche Ballettkomödie die ideale Anregung.“ Das hört man, wenn man Stolzes Resultat genießt!

Und James Tuggle, der Stuttgarter Ballettmusik-Tycoon, ist da auch genau der Richtige, um das Orchester mittels Dirigat zu Höhepunkten anzutreiben. En garde!
Gisela Sonnenburg

P.S. Hinweis: Der obige Text ist ein Outlook und keine Rezension einer einzelnen Vorstellung! Im Journalismus – im Profi-Journalismus – gibt es nämlich noch mehr Recherchemöglichkeiten, als das Hingehen und Gucken. 

Termine: siehe „Spielplan“ oben

www.stuttgarter-ballett.de

ballett journal