Der Mann fasst das junge Mädchen am Kinn, schaut in die ihn so verliebt anschmachtenden Augen – und wendet sich vornehm distanziert ab, versonnen die kommenden Tage planend. Marlon Dino tanzt diesen „Onegin“ in der Choreografie von John Cranko mit fast somnambuler, durchaus erotisch-cooler Selbstgewissheit. Für die junge Frau aber war der kleine gemeinsame Spaziergang mit ihm der Neubeginn ihres Lebens – sie liebt, zum ersten Mal, und in ihr brennt es. Weltstar Lucia Lacarra tanzt die Tatjana im ersten Akt so niedlich und hoheitsvoll, so lieblich und gutgläubig wie eine märchenhafte Prinzessin, und dass sie erst vor drei Monaten ihr erstes Baby gebar, würde man nicht glauben, wenn man es nicht sicher wüsste.
Was für ein Comeback eines Weltstars: Herzlichen Glückwunsch! Und das Bayerische Staatsballett hat flugs sein Traumpaar wieder, auch dazu: Herzlichen Glückwunsch! Denn nach einigen kleineren Auftritten war der „Onegin“ am letzten Sonntag das erste abendfüllende Ballett von Lucia Lacarra nach ihrer superkurzen Babypause.
Keine leichte Aufgabe, die sie sich vorgenommen hatte, aber sie wäre nicht La Lacarra, wenn man sich ernsthaft hätte um sie sorgen müssen. Diese Frau ist Perfektionistin durch und durch, und was sie macht, das macht sie vollendet, mit lächelndem Schalk in den schönen Augen noch dazu. Und siehe da: Sie tanzt womöglich noch graziöser als vor der Geburt, leichthin in perfekten Linien und Posen schwingend – und allein ihre Füße anzusehen, lässt den Sommer in die Herzen einziehen.
Was für Ballerinenfüße sind das! Wenn Lucias Tatjana zu einer Arabeske anhebt, flitzt der gestreckte Fuß mit dem Megaspann im Nu nach oben, ganz nach oben, wo er irgendwie von der Fußspitze her zu leuchten scheint. Senkt sich der hohe Spann ab, so vermutet man einen staatstragenden Grund dafür – so nobel und elegant wirkt es. Diese Füße treten aber auch sanft und zärtlich auf, man beneidet den Bühnenboden um den hehren Kontakt. Da hüpft und gleitet das womöglich weltbeste Paar Ballerinenfüße über die Bretter, die die Welt bedeuten – und man muss an ein Naturereignis glauben oder an ein Wunder, weil einen die Schönheit dieses Anblicks so mitnimmt.
Und wenn Lucia aus einer Hebung auf dem Ballen landet und gleichmäßig auf die ganze Sohle abrollt, dann ist es, als wenn ein Gedicht seinen poetischen Verlauf nehmen würde. Die international berühmte Spanierin, die Preise und Auszeichnungen bekam wie keine andere, hat viele Arabesken und noch mehr Developpés als Tatjana – und sie kostet sie aus. Bei keiner anderen Tänzerin der Tatjana, die ich kenne, sind sie ständig so hoch, so delikat ausgestreckt, so empor fliegend wie die Liebe selbst.
Aber nicht nur Lucia allein arbeitet so lustbetont an diesen Bewegungen, denn ihre Füße, diese Wundergewerke, scheinen selbständig ebenfalls jede Sekunde in der hohen Luft zu genießen. Es ist ohnehin, als hätten diese Füße Gehirn, als seien sie mit einem eigenen Kopf begabt, denn wenn die Tänzerin sie langsam durch die freie Luft führt, so sieht es aus, als würden diese Füße die Tänzerin führen.
Dazu die Hände ihres Partners Marlon Dino. Er trägt seine Frau, die sie im wahren Leben ist, gern, hebt sie, als hätte sie gar kein Eigengewicht, er wirbelt sie kopfüber durch die Luft, legt sie sich auf die Schultern, setzt sie langsam auf dem Bühnenboden wieder ab, lässt sie in seinen Armen zigfach pirouettieren – und, zack, eine Arabeskenpose einnehmen, die wie gemalt aussieht, so formvollendet, so voll lyrischer Schönheit.
Marlons Hände sind schlank, die Finger sind lang und gerade, es könnten auch Pianistenhände sein oder die eines Organisten. Das Instrument, auf dem er bevorzugt spielt, ist der Körper seiner Frau: Er hebt sie, hält sie, lenkt sie mit einem Augenmaß und einer Dosierung seiner jungmännlichen Muskelkraft, als sei sie speziell für ihn geschaffen. Die beiden sind sozusagen Maßanfertigungen füreinander!
Aber in diesem Stück ist gerade das die Tragik. Unglücklich zu lieben, ist immer ein hartes Los. Im Fall von Tatjana und Onegin aber ist die Lage verschärft – denn beinahe wären sie mal ein Paar geworden, und das sogar gleich zwei Mal. Die Liebe im Konjunktiv kann umso tiefere Wunden schneiden, als ihre Chancen, zum Indikativ zu werden, schwinden – und der Titelheld aus „Onegin“ tut alles, um sich als Frauenheld und allmächtiger Außenseiter darzustellen, während die einzige Frau, die ihn wirklich liebt, von ihm als dummes Hühnchen verkannt wird.
Sie träumt von ihm, und diesen „Spiegel-Pas-de-deux“ tanzen die beiden, als handle es sich um einen Entwurf für die Liebe im Paradies. Lucia im flatternden Nachthemdchen ist ohnehin schon ein beglückend-rührender Anblick – aber wenn sie den Fuß aus ihrem Himmelbett streckt und elegant im Ballerinenschritt zum Schreibtisch eilt, um einen verhängnisvollen Liebesbrief anzufangen, dann ist das die Urszene aller verknallten Jungmädchenherzen.
Sie sieht sich im Spiegelbild und sieht dann auch ihn dort, und die Kerze, die sie in der Hand hält, fängt wild an zu flackern. Was für ein Traum: Da küsst er sie aus dem Spiegelbild heraus auf den Hals, und dorthin wird er sie auch zehn Jahre später küssen, als er endlich reumütig angekrochen kommt, der arrogante Hund – auf einmal, nach all den Jahren, und nach Liebe fragt.
Sie wird ihn abweisen, und Lucias Tatjana weiß vom ersten Blick auf den gealterten, dennoch charmanten Onegin, dass sie nicht mit ihm gehen wird. Sie leidet darunter, sie seufzt, sie stöhnt hörbar, mehrfach, es scheint in ihr etwas zu zerbersten vor Kummer und vor Leidenschaft. Denn Passion, oh ja, die lebt in ihr und in ihren Füßen für diesen Mann, nach wie vor – nur dass sie zehn Jahre nach dem Spaziergang mit ihm etwas zu verlieren hat. Ihren Mann nämlich, einen ehrbaren Fürsten, der sie glücklich gemacht hat und ihre zeigte, wie wertvoll es sein kann, eine Frau zu sein.
So hoch wie im „Spiegel-Pas-de-deux“ wird Onegin Tatjana nie wieder heben, denn ein solches Glück hat sie mit ihm nur in der Fantasie. Aber andere Gesten und Bewegungen sind fast identisch, und die Art, wie sich dieser an sich doch so stolze Mann über die verheiratete Tatjana hermacht – das hat etwas Bezwingendes. Marlon Dino lässt keine Sekunde einen Zweifel daran, dass er entflammt ist, jetzt, als er sie glücklich sah, diese ehemalige Landpomeranze, die sich zu einer verehrten Fürstin mauserte.
Er kehrt den Latin Lover raus, schiebt das Becken vor, stolziert auf seinen langen, schlanken Beinen um sie herum. Er dockt sofort an, sowie er es kann, umarmt ihren ganzen Körper. Wirklich wehren kann sie sich nicht. Sie ist Wachs in seinen Händen, den schönen, langgliedrigen, vornehmen Pianistenhänden. Aber ach, wie sie leidet. Jede Berührung mit ihm ist Lust und Qual zugleich – Onegin und Tatjana sind bei dieser ihrer letzten Begegnung und in dieser Besetzung ein Paar, vom ersten Moment an.
Wenn ihre Blicke sich treffen, brennt die Luft!
Es ist die Frage, ob sie wirklich zueinander passen würden. Wie lange würde es halten, dieses überstark aufgeladene, lang aufgestaute Gefühl?
Tatjana will und kann es nicht riskieren. Er muss gehen. Er flüchtet. Vor dieser Abweisung, die ihm sagt, dass er kein Mann mehr ist. Für sie nicht mehr! Seine Pirouetten, die er noch kurz vor dem Duell mit Lenski (exquisit geradlinig, berückend anzuschauen: Javier Amo) drehte, sprachen sie nicht von höchster Potenz? Jetzt schickt Tatjana ihn weg wie einen Paria, einen Ausgestoßenen, einen alt gewordenen, räudigen Köter.
Aber sie leidet doch selbst am meisten unter dieser Entscheidung. Lucia Lacarras Tatjana torkelt nicht und schwankt nicht. Sie überlegt nicht noch einmal, ob sie ihn nicht doch dabehalten oder mit ihm gehen will. Er muss weg. Raus aus ihrem Leben, das endlich in geordneten Bahnen läuft. Aber es zerreißt ihr zugleich das Herz, als sie vorn an der Rampe steht und langsam die Unterarme mit den zu Fäusten geballten Händen senkt. Ihren Kopf hat sie hoch erhoben dabei, sie ist keine vor dem Schicksal oder einem Gott demütige Tatjana, sie ist eine stolz gewordene Frau, die sich endlich erwachsen und Onegin, diesem unreifen Gockel, überlegen fühlt.
Um für oberflächliche Affären frei zu sein, hat er sie damals nicht genommen. Mädchen über Mädchen über Mädchen hatte er – aber keine konnte ihn halten, und auch er konnte keine wirklich lange halten. Das Damen-Corps de ballet tanzt diese Traumfluchten mit Onegin bezaubernd leichtfüßig, ganz so, als hätte es bei Lucia, der personifizierten Grazie, gelernt. Auch Ivy Amista, die Tatjanas Schwester Olga tanzt, zeigt eine Feinheit in den Bewegungen, die ganz dem Lacarra-Stil entspricht.
Die jungen Herren vom Bayerischen Staatsballett hingegen rasen vor Temperament, und das macht ihre Auftritte so lebendig! Die Ballszenen sind entsprechend mitreißend; und Séverine Ferrolier zeigt zudem, dass Madame Larina, die Mutter von Tatjana und Olga, eine wahrlich heißblütige Dame sein kann. Onegin hätte gut hinein gepasst in diesen Clan der Landgutbevölkerung!
Doch jetzt ist es zu spät. Tatjanas Liebe zum Fürsten, mustergültig im „Roten Pas de deux“ getanzt, wird halten – und er, Onegin, wird diesem ruhigen, tiefen Glück geopfert. Dass sie dennoch ihn mehr als jeden anderen liebt, kann er sich zum Trost vor sich hin sagen, wenn er allein und frustriert über sein Leben nachdenkt und Resümee zieht.
Der Applaus tobte, und noch bei der letzten Verbeugung glichen die Bewegungen von Lucia Lacarra dem anmutigen Neigen, das man auch Blüten im Sommerwind nachsagt. Da capo!
Gisela Sonnenburg
Weitere Beiträge zu „Onegin“ unter „Bayerisches Staatsballett“, „Stuttgarter Ballett“, „Staatsballett Berlin“ und „Hamburg Ballett“ hier im ballett-journal.de