Kichernder Dreiklang: Witz, Brillanz, Sinnlichkeit Das Bayerische Staatsballett macht mit George Balanchine, Jerome Robbins und Aszure Barton schlau: in „Sinfonie in C / In the Night / Adam is“ kommen zwei moderne Klassiker und eine Uraufführung zusammen

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Wie ein riesenhaftes Mahnmal sitzt der Teddy da – stierend, ohne Mund, aber herausfordernd. Léonard Engel ist in „Adam is“ von Aszure Barton beim Bayerischen Staatsballett aber keineswegs hilflos! Foto: Wilfried Hösl

Der Teddybär ist riesenhaft. Viel zu groß für die netten Männer davor. Kein Zweifel: Die Kindheit oder das, was wir dafür halten, ist übermächtig. Dem Manne droht Infantilisierung! Oder ist es gar gegenteilig? Sind die Frauen so kindisch geworden, dass sie den überdimensionalen Tröster aus Plüsch den Kerlen aus Fleisch und Blut vorziehen? Ist der Teddy sozusagen der bessere Mann? Das neue Idol, ja das Vorbild der Männlichkeit? Mit starrem Blick und ohne Mund, der lächeln könnte, schaut der tierische Riesenfetisch dem Tanzgeschehen zu. Seine Herkunft ist menschlich, zweifelsohne. Aber zugleich verlangt er: Entmenschlichung. Rätselhaft. Und genau das soll es sein! Das Bild mit dem in der linken Bühnenecke sitzenden, berggroßen Teddy im soeben uraufgeführten Ballett „Adam is“ ist so gelungen wie vieldeutig. Aber der Tanz im Angesicht des Teddybären sorgt ebenfalls für Überraschung auf Überraschung: Der kanadischen Choreografin Aszure Barton ist zweifelsohne ein großer Wurf gelungen, und ihr, deren Stil wild und intuitiv ist, ungezähmt und doch von glasklarer Ästhetik, ist dank dieser Arbeit der ganz große Durchbruch zu wünschen. Bevor es jedoch mit der Uraufführung in die Schlussrunde des Münchner Premierenabends ging, bot das Bayerische Staatsballett (BS) mit zwei modernen Klassikern in Top-Besetzung eine allerfeinste Einstimmung auf die dann folgende Novität.

Kristallpalast (Palais de Cristal) – so nannte Meisterchoreograf George Balanchine ursprünglich sein 1947 in Paris entstandenes Ballett „Sinfonie in C“. Und oh ja, das weiße Glitzern ist hierin allgegenwärtig. In klassischen weißen Tellertutus mit Strass tanzt darin symbolisch das ewig Reine, Schöne, Erhabene. Das scheint aus Balanchines Sicht schon die Musik so zu verlangen: In vier Sätzen hatte 1855 der damals erst 17-jährige Komponist Georges Bizet seine erste und einzige Sinfonie geschaffen, in C-Dur – und sie strotzt nur so vor liebreizender Zuversicht und hoffnungsvollem Drängen, vor temperamentvollen Rückgriffen auf den Rokkoko und vor sehnsuchtsvollen Bezügen zu den zeitgenössischen Romantikern. Mondlicht auf schimmernder weißer weiter Flur…

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Noch blauer als auf der Bühne ist die Außeninstallation mit Fotos an der Seitenwand vom Nationaltheater: Hier mit der „Sinfonie in C“, getanzt von Ekaterina Petina. Foto: Gisela Sonnenburg

Nachtblau ist denn auch das Licht, vor dem Bühnenhorizont, der ganz in Preußischblau gehalten ist. Ein Hauch von Violett mischt sich ein, manchmal auch ein gewisses Wolkengrau – aber nie wirkt die Farbe pastellig oder zu gebrochen. Das Lichtdesign, vom Salzburger Christian Kass stammend, der mit Multimedia-Installationen ebenso Erfahrung hat wie mit Theaterscheinwerfern, betont die Silhouetten der Tänzerinnen und Tänzer, ohne sie zu „weißen Schatten“ zu machen.

Und der Tanz! Im Allegro vivo, dem ersten Satz, schleudern einem auf Anhieb zwei je fünfköpfige Mädchengruppen all ihren Charme, ihre Grandezza, ihre Lieblichkeit entgegen. Leicht, dennoch akzentuiert, tanzen die Damen vom Bayerischen Staatsballett diesen maliziösen, immer geordneten, dennoch so temperamentvollen Stil von Balanchine, als hätte es nie etwas anderes für ihre tollen Beine gegeben!

Da wird der Pas de chat erst als kleine seitliche Bewegung exerziert, dann als große gesprungene Vorwärtsgeste. Letztere ist bis heute so selten im Repertoire der Damenwelt, sie gilt schon fast als reiner Herrensprung! Aber hier verleiht der Grand pas de chat den vielen schnell gesetzten Tendus und Arabesken einen modernen Drive, einen gewissen Schmiss, sogar ein modernes Ausgleiten aus der allzu starken Gefälligkeit.

Ach! Mai Kono, die hoch begabte japanische Demi-Solistin, scheint alle Kirschblüten ihres Heimatlandes einzeln betrachtet zu haben, um nun ihre Anmut und Zierlichkeit in eins mit dem eigenen Körper und dem hübsch geneigten Köpfchen zu zeigen. Nicha Rodboon, die aus England stammende Thailänderin, die schon in der Junior-Company des BS begeisterte, strebt Mai Kono fleißig nach, betont aber die geometrische Strenge, die die Choreografie von Balanchine bei allen dekorativen Hüpfern immer bei behält.

Jonah Cook aus London (Rodboons Partner) und der in San Francisco ausgebildete Nicholas Losada (Konos Partner) ergänzen die Linien ihrer Damen mit sicheren Führungen und eleganten Hebungen. Die Jungs tragen in diesem Stück ja schwarz, ganz klassisch, und beim Bayerischen Staatsballett dürfen ihre Oberkörper strassbesetzt funkeln. Sie sind die schwarzen Diamanten in diesem Kristallpalast – geheimnisvoll und dennoch so hilfreich!

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Ekaterina Petina ist die Primaballerina im Adagio, dem ersten Satz von „Sinfonie in C“ beim Bayerischen Staatsballett – mit hervorragenden Linien! Foto: Gisela Sonnenburg

Das Highlight hier verkörpert dennoch die wunderschöne Ekaterina Petina, deren Attitüden avant, in denen sie das Bein gebeugt vorn in die Höhe hält, den Schmelz einer Natalia Makarova haben. Das sind die russisch-klassischen Linien, die man bei Balanchine sehen will, und die der russisch-amerikanische Choreograf kraft seiner ballettösen Herkunft und seiner fantasievollen Begabung auf die Spitze trieb.

Balanchine war gebürtiger Petersburger, begann früh zu choreografieren, er arbeitete für die Ballets Russes von Serge Diaghilev in Paris und baute ab 1934 in New York Stück für Stück den Gipfel des damaligen amerikanischen Balletts auf. Zunächst leitete er die School of American Ballet, gründete dann, zusammen mit seinem Geldgeber Lincoln Kirstein, Balletttruppen wie das New York City Ballet.

Als Gastchoreograf in Paris beschäftigt, gelang ihm die „Sinfonie in C“ in nur zwei Wochen, nach Balanchines eigenen Angaben. Meisterstücke wie „Le fils prodigue“ (1929), „Serenade“ (1934) und „Ballet Imperial“ (1941) hatte er da schon längst absolviert. Mit letzterem hat die „Sinfonie in C“ eine gewisse Ähnlichkeit, auch dort dominiert der Tellertutu-und-Krönchen-Charme – und die Frauen haben, so scheint es, in beiden Balletten das Sagen.

So platzierte Balanchine denn auch den Auftritt der glamourösen Primaballerina im ersten Satz mit Bedacht: Sie wird musikalisch von der Oboe und den Streichern begleitet, und nicht nur ihr großes Diadem zeigt ihre hervorgehobene Stellung. Vielmehr trägt sie einen Geist wie aus „Schwanensee“ herübergeweht ins Stück, und dieses Flair übernehmen dann die Mädchen um sie herum.

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Ein rauschender Erfolg: „Sinfonie in C“, die Gast-Ballettmeisterin Colleen Neary mit von Ballettdirektor Ivan Liska überreichtem Blumenbouquet in der Mitte – und 48 Ballerinen und Ballerini mit auf der Bühne. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Plötzlich scheint man am Lieblingsset aller Ballettfreunde zu sein, am verwunschenen See, wo die Lebenszeit knapp bemessen und auf die nächtlichen Stunden reduziert ist. Aber wie zeitlos-glücklich ist man zugleich hier, ohne die tragischen Unterklänge eines Tschaikowsky und ohne die drohenden Gebärden eines bösen Zauberers Rotbart. Nein, hier, in der Welt von Bizet, wittert Balanchine die ganz große Seligkeit, gepaart mit einer Sorglosigkeit, die allerdings nicht mehr von dieser Welt sein kann. Das ist das Verblüffende an „Sinfonie in C“: So quicklebendig und blitzrasant all die Schrittchen und Posen, die Sprünge, Pirouetten und Hebungen sind, so enthoben sind sie aller irdischer Anbindungen. Ja, doch, es wird das Paradies sein, das wir hier sehen… ohne das zunächst zu ahnen, allerdings, denn eine solche dramatisch-dynamische Bewegung gibt es eben nur im Ballettparadies, niemals in irgendeinem rein religiösen Himmelsgefilde.

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Noch ein Blick auf den Schlussapplaus für die „Sinfonie in C“, mit Dirigent Michael Schmidtsdorff neben der blumentragenden Colleen Neary. Toll. Foto: Gisela Sonnenburg

So ist hier denn auch manchmal alles anders als sonst: Kein Erster Solist, sondern der junge Kasache Erik Murzagaliyev, der zurzeit Demi-Solist beim Bayerischen Staatsballett ist, führt und hebt die Primaballerina Ekaterina Petina. Ohne ihn wären auch ihre fantastischen Avant-Attitüden nicht immer möglich, denn sie wird mitunter, auf einem Spitzenschuh stehend, von ihm mit Himmel und Erde verbunden.

Die Schlusspose, punktgenau zusammen mit dem Schlussakkord serviert, sitzt da so akkurat, als wäre alles nur ein Traum. Und was ist es? Genau: eine (jetzt mal ganz französisch geschriebene) Attitude avant. Wow!

Man muss dazu sagen, dass der Tanz der Ballerinen und Ballerini mit einem ganz gewissen Vergnügen aus dem Orchestergraben unterfüttert ist: Michael Schmidtsdorff lässt den jungen Bizet fantastisch schwelgerisch, dennoch mit Präzisionsmaßstab vom Bayerischen Staatsorchester interpretieren. Das ist schon ein Extra-Bravo wert!

Und dann kommt, mit dem Adagio, dem zweiten Satz der „Sinfonie in C“, auch schon ein unvergessliches Erlebnis!

Lucia Lacarra, diese Jahrtausendballerina, und Marlon Dino, ein Stern noch unter den höchsten Sternen, zelebrieren die Pas de deux des Hauptpaares hier!

Der galante gebürtige Albanier führt sie, dieses Ausbund an spanischer Grazie, herein: Sie trippelt, mit dem Rücken zu uns, an seiner Hand aus den Kulissen – ein Auftritt, wie für Lucia kreiert.

Zugleich ist dieses Entrée eine kleine Reminiszenz an den „sterbenden Schwan“, jenes Solo, das die vormalige Ballets-Russes-Ballerina Anna Pawlowa kreierte und weltweit auf Tourneen gezeigt hat.

Und wieder ist es die elegisch-erhabene Oboe, die die Melodie für diesen Primadonnenauftritt liefert… Balanchine war ja sehr musikalisch und hat die Partitur sicher, bevor er ins Ballettstudio zum Kreieren ging, gründlich studiert.

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Lucia Lacarra und Marlon Brando in der Schlusspose vom zweiten Satz der „Sinfonie in C“ von George Balanchine beim Bayerischen Staatsballett: ohnegleichen! Foto: Wilfried Hösl

Neben einem Rosenadagio-Zitat (der Mann führt das in einer Spitzen-Attitude devant stehende Mädchen im Kreis) besteht die Choreografie dieses Adagios vor allem aus Penchés, also dem Luftspagat der Dame, und die zarte Lucia Lacarra mit ihren sanft säbelartig gebogenen Beinstreckungen ist natürlich eine Poetin in dieser Pose, die wahrhaft das Paradies in ihrem Körper zu haben scheint!

Und Marlon Dino als ihr zuverlässiger Partner auch in Sachen Balanchine ist ebenfalls eine Sensation: mit entrückt-verzücktem Blick geht er in die nötigen Ausfallschritte, er springt elegant-synchron mit seiner Lucia (die beiden sind auch privat ein Paar und seit einem Jahr Eltern), er springt, als wolle er das Himmelszelt damit erreichen. Und wenn er seine Dame hebt und hält, so ist es, als könnten diese beiden Menschen spontan zu einem Wesen verschmelzen!

Und das, obwohl Marlon Dino eine von Natur aus große Statur hat, Lucia Lacarra hingegen eine ganz zierliche, superzarte Statur ihr eigen nennen darf. Es ist fantastisch zu sehen, wie Mann und Frau dennoch zusammen passen und – ob er sie nun auf den Schultern trägt oder mit seitlich gestrecktem Spagat in die Weite schweben lässt – eine einzigartige Aura gemeinsam erschaffen.

Marlon Dino erweist sich ohnehin hier als brillanter Balanchine-Interpret höchster Güte. Oh, er ist stolz, ohne arrogant zu wirken, er ist erhaben, ohne langweilig zu sein, und seine Sehnsucht ist unendlich! Was für ein Mannsbild!

Gerade richtig für die filigrane Majestät der Lucia Lacarra in ihrem wippenden Tutu, mit ihren fein fließenden Armlinien und ihren wundersamen Füßen, die mit höchster Wahrscheinlichkeit direkt aus dem Balletthimmel kommen…

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Lucia Lacarra in der Kreidezeichnung von Robert Longo: was für eine „Schwanenmajestät“ – mit unglaublich schöner Balletthaltung. Foto vom Longo-Bild: Gisela Sonnenburg

Übrigens ist Lucia seit kurzem auch im zweiten Rangfoyer links im Münchner Nationaltheater als Kreidezeichnung von Robert Longo zu besichtigen: bitte hinschauen und genießen, wie sie als Schwanenprinzessin ihr Cambré zur Attitude zeigt, es ist – naja, himmlisch, was sonst!

Sicher tanzt sie in der zugleich vor- und rückwärts gewandten Pose im Bild gedanklich gerade auf ihren Marlon Dino zu… In der Schlusspose des Adagios der „Sinfonie in C“ liegt sie denn auch tief in seinen Armen, ganz „Schwanensee“-like, dennoch ganz hoheitsvoll, eine Königin bei ihrem König.

Und schwangen sich diese magischen Beine eben noch scheinbar schwerelos durch die Luft – jetzt sind sie ganz gesittet gekreuzt, alle Kraft strömt in den Oberkörper und in die überm Kopf lieblich gerundet gehaltenen Arme.

Die ersten Bravo-Stürme und heftiges Fußgetrappel zeigen die Begeisterung des Publikums!

Damit diese Adagio-Partie aber voll zur Geltung kommen kann, ist auch das sie umtrippelnde, ebenfalls wunderbare Oberkörper- und auch Beinposen zeigende Damenensemble unbedingt notwendig. Man sollte die Bedeutung eines hervorragend gecoachten großen Ganzen nie unterschätzen.

Und auch die beiden „Nebenpaare“ – Zuzanna Zahradniková (die in Prag ausgebildet wurde) und der gelernte Mailänder Robin Strona sowie die Französin Elisa Mestres, die für die erkrankte Séverine Ferrolier eingesprungen war, mit dem von der Heinz-Bosl-Stiftung geförderten Kasachen Olzhas Tarlanov – bestärken den Eindruck eines in sich vollkommenen Paralleluniversums, in das uns Balanchines Arbeit entführt.

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Die Jungs springen, dass es eine Freude ist: „Sinfonie in C“ von George Balanchine beim Bayerischen Staatsballett. Foto: WIlfried Hösl

Der dritte Satz, ein Allegro vivace, hat es bei soviel Elan, wie ihn das Bayerische Staatsballett geradezu verköpert, denn auch nicht schwer, an die ätherisch-getragene Stimmung des Adagios anzuknüpfen und ihr mehr lebhafte, sogar festlich-feierliche Schritt- und Sprungarrangements entgegen zu setzen.

Mia Rudic, in Belgrad ausgbildete Demi-Solistin, und Gianmarco Romano, der an der Mailänder Scala das Profi-Ballett erlernte, sowie die immer entzückende Ukrainerin Katherina Markowskaja mit dem Moskowiter Ilia Sarkisov erzeugen ein kreiselndes, amüsantes, spagatsprungseliges Ambiente.

Das wird dann von der süßen Brasilianerin Ivy Amista und dem unglaublich männlich-geschmeidigen Russen Maxim Chashchegorov voll ausgekostet! Gemeinsam durchleben sie eine Reise an die tiefste Oberfläche, die man sich denken kann… es ist, als öffne der Ozean seine Weiten, um immer neue, facettenreiche Wellenschläge zum Tanzgrund zu machen.

Darauf kann der abschließende vierte Satz, wieder ein Allegro vivace, aufbauen. Die fabelhafte Russin Daria Sukhorukova und der mit allen typischen Prager Tugenden ausgestattete Adam Zvonař fliegen nur so durch das engmaschig gewebte choreografische Muster, da so viel Spielraum für den individuellen Ausdruck von Freude lässt, obwohl es fast immer bestimmte Regeln der Geradlinigkeit und des Ordnungssinns beherzigt.

Wenn hier die jungen Männer in ihren schwarzen Glitzergewändern als Gruppe auftrumpfen und sich sogar gegenseitig zu übertrumpfen suchen, dann ist das wie ein Statement: So soll die Fairness in der Welt sein – und nicht anders. Da gibt es kein hinterlistiges Wegmobben, kein Sichwasrausnehmen von etwas, das im Grunde einfach nur lächerlich ist. Kein übergeschnapptes Elitebewusstsein. Keine primitive Unterdrückung edler Triebe.

Sondern ein solidarisches Einstehen für gemeinsame Träume sowie für deren Umsetzung in die allerdings, nun ja, utopisch-paradiesische Realität dieser hehren Bühnenszenerien eines George Balanchine.

Insgesamt erinnert der vierte Satz, der alle 48 Tänzerinnen und Tänzer der „Sinfonie in C“ vereint, zugleich aber auch (bitte lachen!) an einen süßen Schichtkuchen, der von weißer Schokolade umhüllt ist. Die Mädchen in den weißen Tutus umsäumen nämlich das Hauptgeschehen, einen geordneten Tumult aus Damenweiß und Männerschwarz, in der Bühnenmitte.

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Der vierte Satz der „Sinfonie in C“ von George Balanchine vereint alle 48 Ballerinen und Ballerini auf der Bühne – äußerst glanzvoll sieht das beim Bayerischen Staatsballett aus. Foto: WIlfried Hösl

Die geheimen Regeln, die Balanchine stets befolgte, lassen seine Ballette so anregend und doch so beruhigend wirken. Die Neoklassik, die mehr oder weniger nach seinem Stil so heißt, kulminiert bereits mit ihrem Erfinder in der strikten Auslegung ihrer beiden Pole, der Klassik und der Reduktion der Klassik.

Das Bayerische Staatsballett, das jetzt seit 1991 dieses Balanchine-Stück erstmals wieder premieren ließ, beweist, dass es eben diesen Stil und den damit verbundenen Spirit exquisit beherrscht. Duftig wie ein Blumengebinde einher kommend und dennoch zu Tränen rührend, so erhaben, trifft die Darbietung genau den Balanchine’schen Kern.

Viel Teamwork mag hinter diesem zauberhaften Arrangement stecken: Die Arbeit der die „Sinfonie in C“ einstudierenden Gastballettmeisterin Colleen Neary vom Balanchine Trust (die ungeheuer viel internationale Tanz- und Meistererfahrung hat) sowie auch der Münchner Coachs Colleen Scott, Judith Turos und Valentina Divina hat sich absolut gelohnt. Und bestünde der Abend nur aus diesem Werk, man wäre schon fast zufrieden.

Aber da kommt natürlich noch was. Nach der Pause erfolgt auf die neoklassische Liebeserklärung an das weißblaue Streben der neoromantisch gesonnene Jerome Robbins mit seinem Chopin-Stück „In the Night“. Oh ja, in der Nacht, da werden die Gefühle groß… die der Liebenden allemal, vor allem, wenn die Liebe bereits ihre fratzenhaft dunklen Seiten zeigte…

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So fliederblau die Kostüme von Anthony Dowell, so sternenverliebt die Stimmung der Tanzenden: Ivy Amista und Javier Amo in „In the Night“ von Jerome Robbins. Foto: Wilfried Hösl

Vier Nocturnes grundieren die Stimmungen, in denen drei Paare auftanzen. Der rote Faden, der alle drei verbindet, ist die Sehnsucht nach Liebe, eine nahezu unstillbare Sehnsucht, die womöglich tatsächlich mit der Sucht nach Liebe zu tun hat.

Der erste Teil gehört wieder der Brasilianerin Ivy Amista, die dieses Mal mit dem in der John-Cranko-Schule ausgebildeten Spanier Javier Amo tanzt.

Wie ein Paar verlorene Tauben flattern sie herein, ein Paar in prächtigem Blau mit Anflügen von Lila; sie voran, er hinterher. Das Licht von Jennifer Tipton, die zur Einrichtung auch anreiste, betont das schwärmerische Nachtgefühl. Über den Liebenden prangt ein Sternenhimmel im Schnürboden, und er wird in jedem Fall schweigsam bleiben. Darauf können sich die Kompliziert-Verliebten hier verlassen.

Zwar haben die einzelnen Stücke hier keine Titel, man könnte diesen ersten Part aber gut und gern „Sternensucht“ nennen.

Denn so verliebt sie sind, irgend etwas lenkt ab von dieser Beziehung, bedroht diese Beziehung. Die Verliebten scheinen auch mehr in die Liebe selbst verliebt zu sein als in sich gegenseitig.

Nur im Entrückten, in der gemeinsamen Sehnsuchtsempfindung zu den Sternen über ihnen können sie die anklingenden Misstöne zwischen sich vergessen… und dann tanzen sie so harmonisch, auf so hohem Niveau, dass man meint, sie überträfen die soeben gesehene „Sinfonie in C“ nochmals um einige Karat.

Ivy Amista und Javier Amo rücken den Sternen so nahe, allein durch ihre Kraft zu tanzen!

Ich hatte ja im Juni 2015 das Glück, eine Probe dieses Stücks mit Ivy und Javier sowie mit der Gast-Ballettmeisterin Christine Redpath zu sehen (siehe www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-ballett-extra-outlook/).

Und was ist daraus geworden? Schon damals war klar, dass die beiden Tänzer einen besonderen Ausdruck anstreben würden und neben den technischen Schwierigkeiten auch eine expressive Höchstmarke erringen wollten. Ja, und es ist ihnen gelungen, eine hoch erhabene, dennoch menschliche Kunst zu zeigen, so vollkommen und differenziert, so aufgeladen mit sich wandelnden Gefühlsnuancen, dass man früher gesehene Interpretationen mal einfach vergessen kann.

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Mit neuem Schmuckanhänger schick bei der Premierenparty: Gast-Coach Christine Redpath vom New York City Ballet – und vom Jerome Robbins Trust. Sie studierte mir den drei hoch motivierten Paaren vom Bayerischen Staatsballett Robbins‘ „In the Night“ ein – Resultat: ein Hochgenuss, der seinesgleichen international sucht! Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist ganz großartig, was Christine Redpath, Ballettmeisterin vom New York City Ballet, als Koryphäe des Jerome Robbins Trusts unter Zuhilfenahme des Münchner Coachs Norbert Graf (der dieser Compagnie ja auch als Tänzer verbunden ist) mit Ivy Amista und Javier Amo geleistet hat. Christine ist selbst sehr beglückt vom Ergebnis, sagte sie mir, wie auch die Tänzer, die an dieser Arbeit viel lernten. Die Hochschätzung der Tänzer von „In the Night“ zeigt sich denn auch in einem prächtig funkelnden Goldanhänger, den sie „ihrer“ Christine schenkten und der zu ihr passt, als sei er für sie designt worden.

Von Design kann man auch bei den neoromantischen Kostümen der Paare „In the Night“ sprechen. Sie stammen von Anthony Dowell, der vor allem als ehemaliger Tanzstar und später auch Leiter des Royal Ballet in London weltberühmt ist. Mit den Kostümen beweist er Geschmack und Einfallsreichtum sowie natürlich die Kenntnisse der Ballettgepflogenheiten: die vielen zarten Unterrockschichten des Damenkostüms verleihen Ivy Amista denn auch den Charme des Retro-Looks, während das Kostüm des Herren an Albrecht aus „Giselle“ erinnern. Ähnlich lyrisch, aber nicht so verwegen im Ausdruck, vielmehr bemüht, ist denn auch sein Part in „In the Night“.

Da hebt er sie, als wiege sie rein gar nichts, und ihre wie Flügel flatternden, weiblich gerundeten Arme verleihen der Paarstatue die Anmutung eines antiken Zauberwesens.

Die Musik, Chopins düster-leidenschaftliches Nocturnes op. 27 Nr. 1, ist zudem wirklich tief schürfend und mit seinen Lyrizismen anderer Stücke nicht zu vergleichen. Es ist Frédéric Chopin als moderner Komponist, wie man ihn hier hört und sieht. Maria Babanina beschönigt daran nichts, ihr Pianospiel umschmeichelt die Ohren natürlich, es handelt sich ja um späte Romantik hier, aber zugleich werden auch die Phrasen des Zweifelns und des Erschüttertseins nicht ausgelassen.

So hat jede Hebung, jede gemeinsame Biegung des Leibes, jedes Gegenüberstehen dieses Paares zugleich die Wirkung einer Festigung und Lockerung einer Beziehung. Wirklich erotisch, aber auch enorm alarmierend!

Höhepunkt dieses Pas de deux ist denn auch ein Suicide Wheel, bei dem die Frau wie zu einem Rad kopfüber, die Beine gestreckt-gespreizt nach oben gerichtet, vom Mann gedreht wird. Sie hat gar keinen Halt außer von seinen Händen, die ihre Taille heben und ihren Körper langsam drehen, während ihre Beine dadurch ein Rad schlagen.

Diese nicht ungefährliche Erfahrung beschwingt sie, und was er schon die ganze Zeit dieses Paartanzes über versuchte, nämlich sie innerlich zu halten, fruchtet damit. Es ist, als gebe sie den Gedanken, ihn zu verlassen, auf und füge sich in eine kreiselnde Harmonie mit viel Synchronizität.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Schon mal ein Blick auf den Schlussapplaus von „In the Night“ beim Bayerischen Staatsballett: Begeisterung und hellwache Ergriffenheit bestimmten die Gefühle im Publikum. Die dritte von links ist übrigens die Licht-Designerin Jennifer Tipton. Foto: Gisela Sonnenburg

Jerome Robbins choreografierte all das indes nicht vorsätzlich oder sozusagen freiwillig. Er steckte selbst in einer starken emotionalen Krise, war zwischen der Liebe zu einer Frau und der zu einem Mann ins Schleudern geraten. Letztlich verlor er beide Lieben. In der Rückschau schuf er diese drei Paartanz-Petitessen, eigentlich sind es sogar vier, denn nachdem die drei Paare einzeln auftanzen, vereinen sie sich zu einem surreal-harmonischen Finale.

Der Choreograf, der somit 1970 sein drittes Chopin-Stück schuf, polarisierte seine Zeitgenossen damit. Während wir heute die diffizilen, dunkel getönten Liebesbekundungen gerade des ersten Paartanzes aus „In the Night“ verstehen, war so ein Lebensgefühl des Hin- und Hergerissenseins innerhalb einer Paarbeziehung damals noch stark tabuisiert, egal, was der Grund dafür sein könnte. Paare hatten verliebt zu sein und zueinander zu stehen. Punkt. Dass sich auch in eine eingängig funktionierende Partnerschaft Dissonanzen von außen einmischen können, wollte man damals nicht wahr haben.

Die Kritikerin Doris Hering schrieb damals nach der Uraufführung im „Dance Magazine“: „’In the Night’ führte uns die neurotischen Seiten beider (sowohl Chopins wie Robins’) vor.“ Damit zeigte sie, ohne es zu wollen, wie engstirnig und intolerant, wie „unmodern“ und unreif man damals noch auf Paarbeziehungen sah. Soziale Kompetenz, wie wir sie verstehen, gab es 1970 so gut wie noch gar nicht, wenn es um die scheinbar grundlose Brüchigkeit von Beziehungen ging.

Robbins war mit seinem damaligen Lebensthema tatsächlich Avantgarde – obwohl er oft genug auch dem Mainstream frönte und etwa Musicals wie „Anatevka“ am Broadway choreografierte. Seine beiden voran gegangenen Chopin-Ballette waren ebenfalls weniger kompliziert ausgelegt: „The Concert“ von 1958 ironisiert das Publikum eines klassischen Konzerts, es fährt mit wenig originellem Humor sattsam bekannte Satireklischees auf, die allerdings im Ballett so zuvor noch nicht zu sehen waren. Etwa die unterdrückerische Hausfrau und den dazu gehörigen Pantoffelhelden. Robbins’ zweiter Chopin ist dann mit „Dances at a Gathering“ von 1969 schon ein ganz anderes Beziehungskaliber: Die „Tänze bei einem Treffen“, welche von Romanzen aus dem polnischen Landleben inspiriert wurden, heben die vorgestellten Paare bereits auf ein sehr hohes Niveau diffiziler tänzerischer Interaktion, wobei der Showcharakter auch hier noch stark immanent ist.

Anders „In the Night“ – Robbins traut sich weit vor, Ungewöhnliches an menschlichen Interaktionen im Beziehungsdetail zu zeigen.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Kurz vor dem Ende des zweiten Paartanzes in „In the Night“ kommt diese wundervoll-erotische Pose, aus der heraus die Tänzerin vor Erregung mit dem oben liegenden Bein zu zittern und zu trippeln beginnt… so zu sehen beim Bayerischen Staatsballett, hier mit Ekaterina Petina und Tigran Mikayelyan. Foto: Wilfried Hösl

Das zweite Paar hat denn auch scheinbar ganz andere Probleme als das erste. Es tritt mit Ekaterina Patina und dem aus Armenien stammenden Startänzer Tigran Mikayelyan auf. Zu dem Sternenhimmel über ihnen gesellen sich drei Lüster, die sofort an ein Ballambiente denken lassen. Während das erste Paar noch zu einer Besprechung den Ball verließ und unter freiem Himmel weiter tanzte, haben wir jetzt ein Paar vor uns, das sich auch unter Kronleuchtern intim verständigen kann.

Sie sind älter als die ersten Liebenden, abgeklärter, reifer. Ihre Schritte sind bodennah, aber verzwickt. Auch die Pirouetten, die die Ballerina an der Hand ihres Liebhabers zu meistern hat, sind mitunter schwierig-kompliziert, mit wenig Gelegenheit, vorher Schwung zu holen.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Dieselbe Pose, dasselbe Foto von Wilfried Hösl nochmal – jetzt hängt es an der Außenwand des Münchner Nationaltheaters. Foto: Gisela Sonnenburg

Es scheint etwas im Raum zu stehen, das die beiden trennen wird, aber noch ignorieren sie es mit der Routine der guten Beziehung, auch mit der Tapferkeit derer, die ihre Beziehung retten wollen. Dieses Einvernehmliche, Harmonische, Verbindliche ist das Hauptelement dieses Paartanzes. Wunderschön!

Schließlich setzt sie ihre Passé-Piqués wie kleine Halbpirouetten, und er erlaubt sich, sie zu ergreifen und in der Luft auf den Kopf zu stellen. So hält er sie, ruhig, bis ihr rechtes Bein, vor das linke gesetzt, ergreifend anfängt zu zittern, in der Luft zu trippeln. Fabelhaft!

Das Publikum der Premiere hielt den Atem an, so erregend und bewegend war diese Szene!

Sie führt zum Abschluss dieses Pas de deux, der zeigt, wie eine fast verlorene Liebe noch einmal voll erblühen kann.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Noch einmal Ekaterina Petina und „Tigi“ Mikayelyan in den Kostümen von „In the Night“, hier beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Nicht umsonst ist die Kostümfarbe hier ockergolden… und die letzten Drehungen der Ballerina partnert Tigran Mikayelyan aus der knienden Position. Diese Ehrerbietung vor seiner Dame setzt sich fort, indem er sie noch einmal hebt, ihr eine Pose mit vogelflügelartig gespreizten Armen abverlangend, und so trägt er sie aus dem Bühnenraum in die linke Seitengasse… schwer vorstellbar, dass hier kein heiß dankender Applaus aufbrandet!

Das dritte Paar „In the Night“ mutet schließlich wie ein Vorläufer von John Neumeiers „Spiegel-Pas-de-deux“ aus seiner „Kameliendame“ an.

Auch die Kostümfarben holte sich der „Kameliendamen“-Ausstatter Jürgen Rose offenbar hier, bei Anthony Dowell: zum lilafarbenen Gewand trägt die Dame ein rotglitzerndes Accessoire (bei Robbins rechts im Haar, in der „Kameliendame“ als Blume am Dekolleté).

Und wer tanzte dieses Stückchen zerbrechende Liebeskunst zur Premiere in München? Lucia Lacarra und ihr Ex-Gatte Cyril Pierre! Immer noch ein fantastisches Team!

Gleich zu Beginn macht sie ihm aber Vorwürfe, in ihrer Rolle, es ist wunderbar, mit einer Arabeske und gewirbelten Pirouetten, ach, er hat es nicht leicht mit ihr, sie aber auch nicht mit ihm! Dennoch ist der Wille da, aneinander festzuhalten… und dieses Happy Ending erträumt sich denn auch der Choreograf Jerome Robbins.

Bevor sie sich versieht, schultert er sie, gibt ihr das Gefühl, von ihm geehrt zu werden, er lässt sie nicht mehr los, er dreht sich mit ihr, sie auf den Armen tragend wie ein Kind – was soll sie da noch machen? Sie ist ja nicht aus Eis…

Aber als er sie absetzt, zart, behutsam, entzieht sie sich ihm wieder, langsam, aber bestimmt, sie ist offenbar keineswegs nur mal eben verstimmt.

Er geht ihr nach, will sie von hinten küssen, aber sie hat Redebedarf. Und weit holt Lucia mit ihren köstlichen Armen aus, schwingt diese von der Seite in runden Bögen nach oben und wieder zur Seite, dazu vollführen ihre Beine seitliche Tendus, und er muss einstimmen in ihre Bewegung, als wolle er sagen: „Ja, du hast Recht, oh ja, ich stimme dir zu“, jedoch – wenn er sie erneut hebt und dann zu Drehungen animiert, so antwortet sie, in dem sie ihn dreht.

Die Frauen sind schon sehr stark hier in diesem Robbins, noch stärker als zuvor im Balanchine-Stück!

Die Hände – die Handflächen sind dabei aufgestellt – berühren sich nicht mehr, wenn sich diese zwei gegenüber aufstellen und die Arme nacheinander ausstrecken. Ach, und dabei wollen doch eigentlich beide noch, dass ihre Geschichte weiter geht, das Band zwischen ihnen ist ein sehr festes.

Aber eben kein unverbrüchliches. Er gibt sie schon verloren, schaut traurig zu Boden, da kommt sie aber noch einmal, mit Schwung, er kann sie heben, quer liegt sie hoch über seinem Kopf. Doch kaum hat sie wieder Bodenhaftung, monologisiert sie, und er hat keine Chance mehr, ihr etwas vorzumachen. So sehr er es auch versucht, noch immer!

Und tatsächlich: Am Ende kniet sie vor ihm, liegt in der Hocke am Boden zu seinen Füßen, sie winselt um Gnade, und man ahnt, welche Qualen hier gemeint sind.

Noch einmal hebt er sie sachte empor, sie genießt die Arabeske, in der sie nun in der Luft steht, im Rippenbereich von ihm gehalten. Ihre Arme!

Lucia Lacarra schafft es, sich immer wieder neu zu verlieben, auch in einer solchen verfahrenen Situation, und als er sie runterholt und wieder auf den Armen schaukelt wie ein Kind, muss man fast kichern, weil Menschen so inkonsequent sind und manchmal nur dann wirklich glücklich erscheinen.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Sie treffen sich in einem harmonischen Raum, überlegen kurz den Partnertausch, aber dann, husch-husch, bleibt doch ganz schnell alles beim Alten… „In the Night“ beim Bayerischen Staatsballett, superfein getanzt. Foto: Wilfried Hösl

Es folgt das schon beschriebene Glück der drei Paare, das Robbins sich zu aus „Les Sylphides“ bekannten, äußerst lyrischen Klängen einfallen ließ. Wie schon bei Balanchine landen wir also im Paradies, in der Utopie, in einem Nirgendwo, das alle Merkmale der Perfektion in sich vereint.

Da stakst das Mädchen aus der „Sternensucht“ auf Zehenspitzen herein, am Arm ihres Kavaliers, sie scheinen rundum versöhnt – und ein vor allem repräsentatives Pärchen geworden zu sein. Das zweite Paar hingegen ergeht sich in flachen, in die Weite gehenden Hebungen, die dann, im Zusammenspiel mit dem ersten Paar, in hohe Lifts umschlagen. Seligkeit, o Seligkeit!

Auch das dritte Paar ist wieder voll da, in einem Impetus, der offenkundig geläutert ist: Man umarmt sich, ohne sich zu berühren, also hoheitsvoll, aber mit viel Rücksicht auf den anderen. „Schonung bitte“, scheinen beide auszurufen, „tu mir nicht mehr weh!“ Gesagt, nicht getan. Geht doch, meint die Choreografie.

Die drei Damen schließlich erweisen sich gegenseitig Referenzen, ihre Kavaliere des gleichen. Über einen Partnertausch scheint nachgedacht zu werden. Aber da stürmt das dritte Paar aufeinander los, auch die anderen beiden finden sich in altbekannter Besetzung – sogar die Probleme, die sie miteinander haben, können ein Paar zusammen schmieden.

So tanzen sie ein paar Takte schwingenden Walzer, bis sich die Damen von ihren Herren heben und hinaus tragen lassen, vom selben Glück träumend, das sie gerade vorgetanzt haben…

Man muss einfach begeistert sein. Ich muss es nochmals wiederholen: Dagegen können andere Compagnien, die „In the Night“ schon aufgeführt haben, vermutlich weitestgehend einpacken. Soviel Lyrik, Herz, Spannung und Versöhnung bei soviel Musikalität und Technik muss man erstmal vereinbaren können! Danke, liebe Ballerinen und Ballerini, und danke, liebe Ballettmeister!

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Der riesige Teddybär und die armen Männer… so zu sehen in „Adam is“ von Aszure Barton beim Bayerischen Staatsballett – ein Bühnenbild von Burke Brown mit Wow-Effekt. Foto: Wilfried Hösl

Und ohne Pause geht es dann weiter… in eine ganz andere, viel heutigere Welt, in der es zwar nicht rau, aber zunächst doch irgendwie lieblos zugeht. „Adam is“ ist eine fast anarchische, manchmal groteske, manchmal hoch ästhetische Collage rund ums Thema „Mann“, aber: Es ist überraschend, aber nicht unwahrscheinlich: Die insgesamt drei Stücke des Abends passen hervorragend zusammen, bilden ein Ganzes im Auge des willigen Zuschauers. Das assoziierte Thema ist etwas weiter gefasst, als der Titel vermuten lässt: Männer und Frauen, Frauen und Männer – Männer eben, Frauen halt!

Verantwortlich für diese mit großer Spannung erwartete Uraufführung ist Aszure Barton, die noch relativ junge kanadische Choreografin. Sie ist bislang kein völlig verwöhntes Ziehkind der Ballettwelt, sondern eine Frau, die sich durchbeißen musste und manchmal auch fast ihren Beruf verlor. Jetzt nutzte sie die Chance, mit den hervorragend trainierten Tänzern des Bayerischen Staatsballetts ein Stück jenseits aller Beliebigkeit zu arbeiten. Ganz allein kam sie da aber nicht hin.

Eher handelt es sich hier um ein Musterbeispiel für die positive Rolle, die eine kluge Dramaturgin bei der Entstehung eines Balletts spielen kann. Und das ist keineswegs ehrenrührig für die Choreografin. Solche Kooperationen zwischen Dramaturgie und Choreografie sollten hoch geschätzt werden! Damit sich ein kichernder Dreiklang aus Witz, Brillanz und Sinnlichkeit anbietet. Denn:

Die Dramaturgin und Stellvertretende Ballettdirektorin Bettina Wagner-Bergelt hatte angesichts der starken Frauen in „Sinfonie in C“ und „In the Night“ die zündende Idee zu einem Männerballett als Ausgleichsstück – und fragte Aszure, ob sie sich einen Abend nur mit männlichen Tänzern vorstellen könne. Und wie!

Schon Bartons vorletztes Stück sah sechsmal soviele männliche Tänzer vor wie weibliche – es gab nur eine Frau darin.

Jetzt war die Choreografin, von der leider kein Geburtsjahr bekannt ist, sozusagen gezwungen, sich auf die holde tanzende Männlichkeit voll einzulassen. Erfahrungen mit dem BS machte sie bereits 2014, als es ihr Stück „Konzert für Violine und Orchester“ zur gleichnamigen Musik von Mason Bates uraufführte. Barton trainierte übrigens zwar an den staatlichen Profi-Ballettschulen in Toronto und Stuttgart, war aber nur kurz als Tänzerin im Engagement. Sie war hungrig auf Neues, jobbte in den 90er Jahren in New York in einem Restaurant und tourte dann mit seinem Stipendium durch Europa, sah sich dabei soviele Compagnien und Stücke an, wie nur möglich.

Sie begann außerhalb der etablierten Theater, Performances vorzuführen – und fand außer Galeristen und Ladenbesitzern, die sie auftreten ließen, auch Künstler, die bei ihr mitmachen wollten.

Über Festivals rutschte sie dann doch in die etwas etabliertere Szene hinein, konnte dann sogar Mikhail Baryshnikov als Förderer gewinnen.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Shawn Throop ist ein toller Tänzer – hier in „Adam is“ von Aszure Barton beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Mittlerweile hat Aszure ein breites Erfahrungsspektrum, choreografierte an vielen namhaften Theatern, wenn auch ohne feste Anbindung.

Mit ihrem Teddybären-Stück „Adam is“ wird sie sich zweifelsfrei in Deutschland und darüber hinaus einen sehr guten Namen machen können.

Den Beginn habe ich eingangs ja schon beschrieben. Da sitzt ein etwas dicklicher, stoisch drein stierender Teddybär ohne Mund (dafür mit phallisch verlängertem Nasenrüssel). Das vermeintliche Vieh ist so groß, dass es wie ein Mahnmal in der Ecke sitzt, die Beine herausfordernd nach vorne gespreizt. Teddy, der neue Götze, die neue Gottheit, das Sinnbild einer neuen Ideokratie.

Aber eigentlich ist das nicht der Beginn. Das Vorspiel nämlich ist eine Videoprojektion, die die Silhouetten eines Laubwaldes in Nahaufnahme zeigt. Kontrolliert kreisend und trudelnd, zieht uns die Kamera in ihren Sog, immer stärker, bis wir meinen, mitten im Grünen zu stehen. Klänge eines Klaviers, leicht jazzig, mischen sich mit denen eines Schlagzeugs. Das Schlagzeug wird immer drängender. Dann geht der Vorhang hoch – und drei Tänzer in lässigen Anzügen mit Animal print toben zu den harten Drums in flippiger Manier herum. Hinter ihnen Nebel – und der besagte Riesenteddy, ein Menetekel des guten Benehmens ebenso wie kuscheliger Kindheitstrostmomente.

Ganz stark ist dieses Bild, gerade wenn man sozusagen aus dem Urwald kommt.

Der Teddy wirkt einschüchternd auf die Männer, er hat Einfluss auf sie, als riesenhaft überhöhtes Ideal sitzt er da und gafft, während die lebendige Männlichkeit sich kaum zu helfen weiß.

Aber sie bemühen sich, die feschen Jungs, das ist unübersehbar! Immer mehr kommen hinzu, alle in diesen Leoparden-Outfits, zappelig bahnen sie sich ihren Weg ins Nichts. Sie haben nur – einander. Sonst niemanden.

Schließlich sind es neun tolle Tänzer, die hier im Angesicht des Bären (eine durchaus auch weibliche Sexualmetapher ist hier drin) versuchen, für sich das Beste aus allem zu machen. Die Tänzer Javier Amo, Jonah Cook, Nicholas Losada, Erik Murzagaliyev, Ilia Sarkisov, Shawn Throop, Matej Urban, Nicola Strada und allen voran Léonard Engel rütteln tatkräftig mit ihren Körpern am Sein als Mann, sie alle sind Adam, der erste Mann, der hier womöglich auch der letzte sein könnte.

Es geht ganz offensichtlich darum, ein neues Männerbild zu erschaffen, von Mann zu Mann sozusagen – aber so einfach fällt das den Herren eben nicht.

Aszure Barton sagt von sich, sie arbeite rein intuitiv – und das ist auch glaubhaft. Dennoch reflektiert ihre Arbeit unbewusst die feministische Feststellung, dass die Männer, so wie sie waren und sind, versagt haben, dass sie dieses selbst auch bemerkt haben, und dass sie sich von daher ändern wollen.

In Soli wie in kleinen Gruppen wird agiert, als suche Mann den Sitz der eigenen Befindlichkeit durch den Bewegungsapparat. Einer reibt sich den Bauch, sucht dort den Sitz der männlichen Seele und kreist dann mit den Hüften wie einst King Elvis. Dazu ertönt ein mackerhaftes, fast tierisches Grunzen, es könnte vom Teddy als Bärenbrummen kommen, aber es verselbständigt sich auch und steht für männliche Urlaute schlechthin – zum Kichern, Schmunzeln, Ablachen ist das. Kennt man doch solche tiefdunklen Grunz- und Brumm- und Röhrlaute auch vom heimischen Sofa, sofern dort ein Mann in seiner Freizeit drauf lagert. Köstlich!

Und dennoch hat gerade das leichterhand Parodierende hier ernsthaften Hintergrund. Die Aggression und das Machotum – was bleibt, wenn man ihnen eine Absage erteilt? Ist der Mann dann noch ein Mann?

Aber ja! Und wie!

In wirklich hübsch choreografierten Scharen springen und fallen die neuen Männer, probieren sich aus, kullern übern Boden, rutschen in den Spagat – und liften sich qua ziemlich männlich ausgeprägter Beinmuskulatur mal eben wieder selbst empor.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Paartänze von Mann zu Mann, um sich zu verbessern… eine entzückende Idee in „Adam is“ von Choreografin Aszure Barton beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Wilfried Hösl

Die Paartänze, die sich zwischendurch immer mal wieder entstehen, sind das schönste in diesem Stück: Zwei Männer, die zunächst nur praktisch sein wollen, entdecken dann, dass sie Seelen haben und auch die Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit.

Ein anderer Paartanz exerziert das Kämpferische nochmals durch, dekliniert es wie ein ABC. Umsonst. Das taugt heute so nicht mehr, der moderne zeitgenössische Mann muss schon mehr auffahren. Männer seien die besseren Mütter, steht übrigens gerade aktuell im „Spiegel“ – na, da passt Aszure Bartons radikale Absage an alte Männlichkeitswerte ja allerbest.

Endlich gibt es damit mal feministische Power auf der Ballettbühne zu sehen, und statt Weichgespültem à la Sasha Waltz zu kredenzen, zieht Aszure Barton alle Register!

Zeit und Gelegenheit für Virtuosität gibt es obendrein, und zwar als Interaktion mit der eingespielten Musik, die übrigens von Curtis Robert Macdonald stammt, eine Auftragskomposition ist, und die den Tanz hier ganz vorzüglich einrahmt und inspiriert.

Jedenfalls muss es auch mal Steptanz sein! Die Klänge legen damit als Erste los, unbarmherzig setzt ein rhythmisches Klackern den Tänzer unter Druck. Als wolle es rufen: „Na, los, nun mach schon! Step den Bären!“ Aber der Tänzer tanzt zunächst noch zart-verhalten seinen eigenen Stil. Nur langsam kommt er drauf, wie es geht, bis er stept, jawohl, ohne diese klackernden Metallplättchen an den Schuhsohlen zwar, aber mit heftigem Temperament. Ah, so geht das also mit dem Lernen!

Dafür hat der Tänzer, es ist der an der Pariser Oper ausgebildete Léonard Engel, sogar sein Jackett ausgezogen. Ha!

Man sieht den Stolz eines Selbstfinders, und das ist keineswegs zynisch oder sarkastisch gemeint.

Manches erinnert hier dennoch an Ohad Naharin oder an Pina Bausch. Natürlich reflektiert Aszure Barton die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart, das ist beste Choreograf(innen)entradition, und anders ist Tanz, ist Ballett wahrscheinlich auch gar nicht denkbar. Es ist eine Kunst, die vom Vormachen und Nachmachen lebt – in jeder Hinsicht.

Das Geröhre und Gebrumm, das sich in die Musik mischt, erinnert zeitweise ans Röhren brünstiger Hirsche. Es karikiert die geile Manneskraft, würdigt aber auch gleichzeitig ihre humoristische Seite.

Zwei Jungs erklimmen schließlich mit flotten Sprüngen je einen Fuß des Bären, sitzen dann auch ihm wie auf einer Beute. Sie be-sitzen den Bären, können allerdings darüber hinaus nichts mit ihm anfangen.

Ab und an wird der Laubwald eingespielt – im Wechsel mit dem silhouettenhaft gefiltert-gefilmten Oberkörpers eines Tänzers. Adam, wer bist du, scheint die Leitfrage immer wieder zu sein. „Adam is“ – Adam gibt es noch, so einfach ist die Antwort, es ist ja auch der Stücktitel.

Als später eine Wand mit scheinbarer Tigerfellbespannung heruntergefahren wird, erhält die Suche nach der Männlichkeit neue Anschubkraft. Wer sagt denn, dass Mode nur Mode ist? Und ein Tigermuster nur ein Tigermuster?

Immerhin befreit dieser Zwischenvorhang die Jungs kurzzeitig vom mahnenden Teddybären, aber auch ohne diesen können sie sich nicht selbst verwirklichen. Gerade nicht, hat man den Eindruck.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

„Adam is“ wirkt auch in Neonblau – so in der Installation auf der Hausfassade vom Münchner Nationaltheater. Foto: Gisela Sonnenburg

Als der Vorhang wieder hochgeht, springen sie umso höher. Agon. Wettkampf. Daraus kann Krieg werden. Streit. Lüsternheit.

Aber Aszure Barton sagt, sie habe vor allem über Empfindsamkeit mit ihren Jungs gesprochen. Während der Proben. Ja, das merkt man. Sie versuchen ernsthaft, abzurücken vom männlichen Ideal des Besser-Schneller-Höher-Weiter… auch wenn ihnen dieses Superlativding immer wieder dazwischen kommt. Es rutscht ihnen einfach so raus, sozusagen.

Eine Szene weiter zuvor zeigte denn auch eine Art Neugeburt. Da beten alle diesen Teddy an, dazu röhrt und gröhlt es aus den Boxen. Schließlich ebbt die Spannung ab, die Männer verziehen sich – und zwischen den Beinen des Teddys kriecht die Hauptperson hervor, ein Mann, Adam, wie ganz neu fühlt er sich.

War das ein Besuch beim Feind, bei der Weiblichkeit? Ist diese überhaupt noch Feind? Oder Freund? Gibt es sie noch, hier, in diesem Stück?

Ja, ganz am Ende, da scheint die Weiblichkeit gesiegt zu haben. Das Zarte, das Feine, das Zwischenmenschliche.

Da gibt es einen letzten Männer-Paartanz – und noch während die beiden umständlich zu überlegen scheinen, was sie nun wirklich miteinander anfangen wollen, schält sich Sympathie hervor. Plötzlich sind sie ein Paar, mehr oder weniger, und der eine landet in den Armen des anderen, ohne Kuss, es ist nicht eindeutig sexuell, was hier läuft, aber der eine wird vom anderen Mann gehalten, beschützt, getröstet.

Damit, Teddy, bist du überflüssig geworden – Mann hilft Mann, und während der eine zwischen den Beinen des anderen sitzt und sich sanft an die männliche Brust anlehnen darf, wissen wir im Publikum: Ja, so ist es gut, so wird es gehen, das wird die Menschheit retten, das ist die neue elegante Linie, sie ist kreiert von einer Frau (ist doch klar!) – und ob diverse Talibans, Nazis oder sonstige Hinterwäldler, für die der Sinn des Leben ausschließlich aus der Vervielfältigung ihrer Spezies besteht, das nun auch so sehen oder nicht, kann uns, im Grunde, völlig egal sein.

Eine gute Mischung mit Herz in München.

Großer Schlussapplaus auch für die „Teddy“-Fraktion von Aszure Barton: Tänzer, Musiker, Designer und eine Frau mit Blumen, nämlich die Choreografin, beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Denn wenn man Aszure Barton als Kulturprophetin nimmt – was sie nicht ist, was aber noch werden kann – dann wird die Menschheit diesen einen Weg konsequent gehen, ob mit Tigerfell oder ohne: Die Evolution wird, nach der offensichtlichen Abschaffung der Frauen (oder nach ihrer Reduzierung auf Gebärfähigkeit), eine neue Zartheit erfinden – und die Männer dann ganz einfach Frauen sein lassen. Fast jedenfalls. Schön!
Gisela Sonnenburg

Weitere Termine: siehe „Spielplan“

www.staatsballett.de

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