Schneller Ritt durch die Gezeiten Der dreiteilige Abend „Thema und Variationen“ beim Semperoper Ballett zeigt je ein Stück von George Balanchine, William Forsythe und Mats Ek

Paarbeziehungen - rauf und runter.

Der Grand Pas de deux in „Thema und Variationen“ von George Balanchine stimmt auf das Thema überhaupt ein: die Paarbeziehung. Hier Startänzer Jiri Bubenicek mit Yumiko Takeshima, die aber dieses Jahr nicht mehr tanzt. Foto: Costin Radu

Was ist modern? Dieser Ballettabend beim Semperoper Ballett gibt Gelegenheit, darüber nachzudenken – und durch flotte Anschauung Beispiele zu besehen. Den Beginn macht das Tschaikowsky-Stück „Thema und Variationen“ von George Balanchine. Der Choreograf, 1904 geboren, ist einer der Väter des modernen Balletts, wie es sich seit etwa 1910 erst in Europa, dann auch in den USA entwickelte.

Balantschiwadse, wie Balanchine bürgerlich ursprünglich hieß, stammte aus der Tradition des „Marientheaters“ (Mariinsky Theater) in Sankt Petersburg und arbeitete von 1925 bis 1929 als Tänzer und Choreograf der Ballets Russes in Paris für Serge Diaghilev. Ab den 30er Jahren wirkte er in New York: als Schul- und Compagniegründer, als Choreograf und Wegweiser für Ballett in jeder Hinsicht. Sein neoklassizistischer Stil blieb indes seit den 20er Jahren stets erkennbar derselbe – und als er 1983 in New York starb, hinterließ er Hunderte von kurzen und abendfüllenden Stücken, denen er unverkennbar seinen Stempel aufgedrückt hatte. Balanchine – das bedeutet vor allem Stilarbeit: Er steht für Eleganz ohne Schnörkel, für Geradlinigkeit ohne Strenge und für Sinnlichkeit ohne Kontrollverlust.

Das Stück „Thema und Variationen“ entstand 1947 zur Suite Nr. 3 für Orchester in G-Dur op. 55 von Peter I. Tschaikowsky, dem Lieblingskomponisten von Balanchine. Und das nicht zufällig. Das Stück soll, so ist es von Balanchine überliefert, an die „großartige Zeit des klassischen Tanzes“ erinnern, in der „das Russische Ballett mit der Hilfe der Musik von Tschaikowsky erblühte“. Vulgo: Die Traditionen von „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Nussknacker“ sollen wieder ins Gedächtnis rücken, ohne die Moderne vergessen zu machen.

Dieses Kunststück konnte nur Balanchine so exzellent gelingen – die Aufgabe, die sich der Meister selbst mit der Kreation dieses Balletts gestellt hatte, war denn auch für ihn maßgeschneidert.

Ein zwölfköpfiges Damencorps und ein Paar eröffnen hier den Reigen der Einzelstücke, aus denen dieses typische Balanchine-Ballett zusammen gesetzt ist. Am Ende stehen 26 Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne – dazwischen faszinieren zwölf Variationen mit jener Vielfalt, die zu den Variationen eines musikalischen Themas im Balanchine’schen Sinne möglich sind.

Es gibt dabei auch einen Grand Pas de deux, der zentral steht und unangefochten die Höhepunkte des Balletts bietet. Mit Jiří Bubeníček ist hier ein Ballerino im Einsatz, der die schwer zu vollführenden Linien des Stils von „Mister B“ akkurat vorzeigen kann, ohne sie kalt oder gar roboterhaft erscheinen zu lassen. Was sicher die große Gefahr beim nicht adäquat einstudierten Balanchine-Stil ist.

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George Balanchine schuf mit „Thema und Variationen“ eines seiner beliebten Tschaikowsky-Ballette… hier das Semperoper Ballett in einer Sprungkombination. Foto: Costin Radu

Nochmals gesteigert sind die modern-technischen Anforderungen an die Tänzer bei William Forsythe, dessen Stück „Neue Suite“ nach Musiken von Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach und Luciano Berio kreiert ist. Forsythe, 1949 geboren, ist in Dresden einer der am meisten getanzten Ballettschöpfer, und das Ballett der Semperoper darf sich rühmen, auch und gerade international derzeit als womöglich beste Truppe für Forsythe-Stücke überhaupt angesehen zu werden.

Die „Neue Suite“ wurde denn auch speziell für das Semperoper Ballett kreiert. Sie besteht aus Pas de deux, aus Paartänzen, von denen die meisten bereits vorhandenen Forsythe-Balletten entstammen. Es ist sozusagen ein überarbeitetes Selbstportrait des Choreografen unter ausgiebiger Verwendung von Selbstzitaten. 2012 wurde dieses in Details brandneu gemachte Werk uraufgeführt – die Compagnie liebt es, gerade weil der Geist von Forsythe sich hierin voll und ganz auf die Spezifika der Truppe eingelassen.

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Ein exaltiert-eleganter Pas de deux, speziell fürs Semperoper Ballett ins Szene gesetzt: aus der „Neuen Suite“ von William Forsythe. Foto: Costin Radu

Keck und überdreht, stringent und linientreu – das Personal, das hier auftritt, um sich tänzerisch den Variationen möglicher Liebschaften zu widmen, ist durch und durch beseelt vom osmotischen Austausch äußerer Bewegung und innerer Beweglichkeit.

Forsythe selbst formuliert sein Interesse an seiner Kunst so: „Das Tanzen ist wie ein Lebewesen. Du kannst es nicht zwingen, du kannst es nicht zu dir holen. Du musst dich selbst wahrnehmend machen, und es kommt.“ So auch im rundum aufschlussreichen Programmheft in der Semperoper nachzulesen.

Forsythe – das bedeutet also auch: Ergebenheit ins Schicksal des Gegebenen und somit Verzicht auf Unmögliches.

Veränderung findet hier ohne lange Anbahnung statt. Die Paare probieren sich und ihre Partner aus, sie sind auf Selbstfindung, ohne Abstriche oder Kompromisse zu machen.

BEZIEHUNGEN OHNE KOMPROMISSE

Der Amerikaner Forsythe, der in Europa und von Frankfurt am Main aus gerade auch in Deutschland Karriere machte (auch mit einer eigenen Compagnie), hat genügend Mutterwitz und Knowhow über klassisches Ballett, sodass hier ein Feuerwerk aus spritzig-eleganter, immer wieder zu bestaunender Beziehungsakrobatik entstand. Ballettmoderne auf Dresdner Art, sozusagen.

Das dritte Stück des Abends ist hingegen bereits ein Klassiker des jüngeren modernen Balletts. „Sie war schwarz“ wurde angeregt von einer TV-Comedy, in der der Witz gemacht wurde: „Letzte Nacht habe ich von Gott geträumt.“ – „Und, wie sah er aus?“ – „Sie war schwarz.“ Nun ja. Ob das mit Feminismus nun wirklich viel zu tun hat, sei dahin gestellt. Was Ek sagen will, ist, dass die Emanzipation der Frauen den Männern auch ganz schön zu schaffen machen kann.

Sein Stück stellt denn auch die Regeln konventioneller Paarbildung auf den Kopf und verschiebt mittels körperlicher Gestiken die Sichtachsen auf Gruppendynamik und Individualisierung. 1995 in Stockholm bei den Cullbergballetten uraufgeführt – jene Compagnie, in die Mats Ek als Sohn der Choreografin Birgit Cullberg sozusagen hineingeboren wurde – zeigt „Sie war schwarz“ die Spannungen und Entspannungen, die entstehen, wenn Menschen miteinander zu tun haben, die eigentlich nicht freiwillig beisammen sind.

Die Musik von Henryk M. Górecki, vom Komponisten an seinem 57. Geburtstag, dem 6. Dezember 1990, begonnen, setzt sich mit der Tradition der Musik in der katholischen Kirchenkunst auseinander. Als gebürtiger Pole weiß Górecki um die Macht des Katholizismus.

Als Vertreter des Jahrgangs 1945 verkörpert Mats Ek hingegen ganz prototypisch die atheistische skandinavischen Avantgarde. Ich habe ihn mal als den „großen Schweden“ bezeichnet, und als solcher wirkt auch er – wie vor ihm Balanchine und neben ihm Forsythe – stilbildend. Jüngere Choreografen beziehen sich auf ihn, zitieren ihn, sind von ihm geprägt. Er selbst fand eine von Eckigkeit und Brüchen, aber auch von fließender Sinnenhaftigkeit geprägte Körpersprache.

„Mein Anliegen ist sowohl sozial als auch psychologisch und der Unwille in meinen Balletten ist oft stark. Unwille und Entrüstung sind wichtige Gefühle, die sehr oft einer tiefen Form von Liebe gleichkommen.“ Das sagt Mats Ek über seine Arbeit, und in der Tat gehört er zu jenen Künstlern, die durch die Reibung am „anderen“, die durch den Versuch der Bewältigung von Konfliktfeldern wachsen.

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Ein wundersxchöner Pas de deux, aus der „Neuen Suite“ von Forsythe, hier von Jiri Bubenicek und Anna Merkulova getanzt. Foto: Costin Radu

Interessant ist hier, wie auch bei den anderen beiden Stücken des Abends, die diesjährige Besetzung: In den Pas de deux tanzen je ein arrivierter Solist oder eine arrivierte Solistin mit einem Newcomer, einer Nachwuchs-Ballerina. Diese Kombination, von den Ballettmeistern und Ballettdirektor Aaron S. Watkin ausgeklügelt zusammen gestellt, gibt den Balletten einen neuartigen Pfiff, erhebt sie zusätzlich zum künstlerischen Eigenwert, den sie unstrittig haben, zu Ballettstücken des Lernens und des Generationswechsels.

Da tanzt, im titelspendenden Balanchine-Stück, Superstar Jiří Bubeníček mit der Coryphée Alice Mariani. Ein superbes Paar! Der gebürtige Prager und die junge Italienerin, die erst seit vier Jahren ihren Beruf ausübt, verstehen sich in Sachen getanzter Leidenschaft!

Der schnelle Ritt durch die Gezeiten von Beziehungen, den dieser Abend insgesamt bietet, erhält durch die abwechslungsreichen Besetzungen zusätzliche Delikatesse.

Das gilt auch für die Dresdner Spezialität hier, das Forsythe-Stück. In der „Neuen Suite“ tanzt die Solistin Duosi Zhu (die auch schon David Dawsons Titelfigur in „Giselle“ darstellte) mit der Coryphée Jan Casier. Er kommt aus Belgien und tanzt erst seit einem Jahr in Dresden – ihrer Zierlichkeit setzt er schlaksige Eleganz entgegen, ihrer Erfahrung die Neugier des Anfängers.

Bei Mats Ek schließlich, der für die Wiederaufnahme-Proben angereist war, tanzen die Primaballerinen Svetlana Gileva und Anna Merkulova mit der Coryphée Christian Bauch und dem Halbsolisten Johannes Schmidt. Beide Jungs kommen der Dresdner Palucca Hochschule für Tanz, während die Damen aus Russland und der Ukraine kommen.

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Mit geschmeidigem Grand jeté, mit eckigen Bewegungen, mit Brüchen allerorten. So muss Mats Ek getanzt werden, das Semperoper Ballett macht es vor. Foto: Costin Radu

Und auch István Simon, der meines Erachtens nach megabegabte Erste Solist in Dresden, tritt mit einem vergleichsweise deutlich weniger erfahrenen Tänzer gemeinsam auf: mit Skyler Maxey-Wert, der in New York, in den Balanchine-Instituten rund ums American Ballet Theatre, ausgebildet wurde. Damit schließt sich der Kreis: von Balanchine zu Balanchine.

Hierzu gibt es aber auch Bitteres zu verzeichnen. Denn man hat die von Balanchine gegründete School of American Ballet Theatre ja unverschämterweise umbenannt in „Jacqueline Kennedy Onassis School“ – des lieben Geldes wegen, das aus „Jackies“ Hinterlassenschaft in die Förderung der Ballettkunst strömt. Ein peinlicher neukapitalistischer Kniefall, weiß doch jeder, dass Jackie nicht tanzen konnte und auch sonst keine Talente hatte. Ich sage es mal so: Männer und Frauen, die – außer sich hochzuficken – keine Eigenleistungen erbracht haben, gehören nicht in die Titel bedeutender Einrichtungen. Aber Geldgläubige ohne antikapitalistische Ideale werden das wohl nie lernen. Dazu fehlt ihnen der Anstand.

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Sie sind wach und neugierig: Menschen bleiben Menschen, mit Beziehung oder ohne – sofern sie sich nicht verkaufen. Ensembleszene aus „Sie war schwarz“ von Mats Ek beim Semperoper Ballett. Foto: Costin Radu

Die Lehrerinnen und Lehrer am New Yorker Institut unterrichten derweil immerhin – noch – ganz im Geiste Balanchines – und eher weniger in der Jackie-Disziplin, sich auf Biegen und Brechen Millionäre oder Milliardäre zu Liebhabern und Gatten zu machen. Insofern sollte man die Hoffnung nicht ganz aufgeben, aus New York auch künftig noch ganz hervorragend ausgebildete Tänzerinnen und Tänzer zu bekommen. Ganz ohne die Käuflichkeit ihrer Ehre. Nur dann machen feministische Bestrebungen Sinn – wenn Männer und Frauen oder auch Frauen und Frauen und Männer und Männer unabhängig von finanziellen Fragen miteinander schlafen dürfen.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.semperoper.de

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