Der Run auf den hübsch gestalteten Salon im großen Haus am Berliner Franz-Mehring-Platz gestern abend war nicht ganz so groß, als ginge es um eine Premiere mit Freikartenvergabe. Aber die Interessenten brachten Aufmerksamkeit und die Bereitschaft mit, sich auf die Argumente von streikwilligen Tänzerinnen und Tänzern einzulassen. Darauf kam es allen Anwesenden an: auf einen offenen Austausch, jenseits von Pflichterfüllung und Leistungsdruck. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung, vertreten durch die Gastgeberin Michaela Klingberg, lag mit ihrem Motto in Frageform „Warum streiken die denn eigentlich?“ denn auch genau richtig – und der Moderator Wolfgang Brauer, Kulturpolitischer Sprecher der Berliner Linken, eröffnete mit diesem Debattenabend sogar eine neue Gesprächsreihe in Sachen Kultur. „Das ist heute eine absolute Uraufführung“, kalauerte Brauer geistreich, wohl wissend, dass das Thema des Berliner Ballettstreiks viel dünnes Eis zum Einbrechen anbietet.
Schließlich sind die Fronten in dieser Angelegenheit verhärtet, und der Arbeitskampf, den die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin führen, wird noch viel Kraft und Ausdauer erfordern. Die Namen der Künstler zu nennen, die sich an diesem Abend freundlicherweise der Öffentlichkeit stellten, geht natürlich nicht; sie müssen aus Gründen des Schutzes in juristischer Hinsicht anonym bleiben.
Sehr wohl benannt werden darf aber Sabine Schöneburg, die zuständige Landesfachgruppensekretärin von ver.di. Sie fasste zusammen, warum überhaupt gestreikt werden muss: Die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin werden nach zum Teil grob ungerechten, nicht mehr nachvollziehbaren Kriterien unterschiedlich bezahlt, sie haben zu wenig Mitspracherecht bei Ruhepausen und sonstigen Zeitplänen, sie fahren weite Wege ohne Zulagen, und transparent können sie ihre zum Teil kaum zumutbaren Arbeitsbedingungen schon gar nicht finden.
Die beiden grundsätzlichen Positionen im aktuellen Streik benannte Wolfgang Brauer vorab: ver.di, die hier engagierte Gewerkschaft, und die betroffenen Tänzer sehen das demokratische Recht verletzt, weil der Geschäftsführer vom Staatsballett Berlin die Gewerkschaft der Tänzer willkürlich aussuchen und ver.di dabei ausschließen will.
Die Gewerkschaften GDBA (Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger) und die VdO (Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer) fühlen sich hingegen von ver.di unter Druck gesetzt: Sie wollen von der geschäftsführerlichen Auswahl profitieren und ver.di mit ausbooten. Ihr größtes Problem dabei: Sie haben kaum Mitglieder unter den Berliner Tänzern, während über 90 Prozent vom Staatsballett Berlin bei ver.di organisiert sind.
Nun haben die beiden im Verhältnis zu ver.di winzigen Gewerkschaften in der Vergangenheit unter dem Oberbegriff „NV Bühne“ („Normalvertrag Bühne“) Verträge und Vertragsbedingungen für die Tänzer ausgehandelt, mit denen diese nicht zufrieden sind. Dennoch möchte der anwesende Heiner Boßmeyer vom Berliner Landesverband der VdO aus der bloßen Existenz der alten Verträge das Recht zum Abschluss von neuen ableiten. Ein Argument, das ebenso wenig einleuchten kann wie Boßmeyers harsche Attacken gegen ver.di: Offenbar fällt es seiner Vereinigung außerordentlich schwer, sich in die Rolle des guten Verlierers zu fügen. Das nahm in der Tat auch schon peinliche Züge an.
Fakt ist jedoch, und Wolfgang Brauer formulierte es im Verlauf der Diskussion so: „In der Politik und bei Gewerkschaftsfragen gibt es keine Erbhöfe“. Vulgo: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Die Tänzerinnen und Tänzer haben sich deutlich für ver.di entschieden, denn, so einer der Betroffenen: „ver.di war für uns da, hörte uns zu, nahm uns ernst, während ich in einigen Jahren als Tänzer beim Staatsballett Berlin nicht einmal wusste, dass die VdO überhaupt existiert.“
Zudem haben die Berliner Tänzer mit ihren Kollegen vom Friedrichstadtpalast ansehnliche Vorreiter vor Ort: ver.di hat für das Ensemble des berühmten Revuetheaters bereits 1991 einen Haustarifvertrag ausgehandelt und abgeschlossen. Dieser wird, auf arbeitsrechtlichen Druck hin, sogar stetig verbessert – in diesem Fall gibt es mal keine absurden Hemmnisse, weder von der dortigen Geschäftsführung noch aus der Berliner Regierung.
So streikte das Ballett vom Friedrichstadtpalast an einem Probentag im Juni diesen Jahres – was ausreichte, um einige weitere Forderungen durchzusetzen. Ganz zufrieden ist man aber auch im Friedrichstadtpalast noch nicht, denn etwa die „Maskenzeit“, also der Zeitaufwand fürs Schminken und Abschminken, gelten nicht als Arbeitszeit und werden entsprechend gar nicht entlohnt. Auch beim Staatsballett Berlin (SBB) wird diese notwendige Zeit der Vorbereitung für eine Probe oder Aufführung nicht bezahlt – und die Tänzerinnen und Tänzer vom SBB haben zudem Probleme wie lange Anfahrtswege bei drei verschiedenen Auftrittsorten.
Wie sieht denn nun so ein Tänzeralltag überhaupt aus? Die anwesenden SBB-Tanzkünstler erklärten bereitwillig und freundlich, dass es (obwohl es seit dem Beginn des Streiks einige kleine Verbesserungen gab) recht hart ist und mit großer Motivation für diesen Beruf überhaupt zu tun hat.
Konkret sieht das so aus: Normalerweise geht es um 10 Uhr zum Training, für eineinviertel Stunden. Falls eine Bühnenprobe auf dem Plan steht – die zumeist von 10 bis 13 Uhr geht – wird schon um 9 Uhr trainiert. Sonst beginnen um 11.30 Uhr die Proben in den Studios, die nur von 14 bis 15 Uhr für eine Stunde Mittagspause unterbrochen sind.
Bis 18.15 Uhr dauert der reguläre „Tänzeralltag“, es sei denn, es ist ein Vorstellungsalltag. Dann haben die meisten Tänzer den Nachmittag ab 13.30 Uhr, die Solisten ab 14 Uhr für sich. Die Vorbereitungen für die Bühne in dieser Zeit sind oft individuell – und natürlich auch eine persönliche Sache. Mit den Jahren wächst zwar die Berufserfahrung, aber: Tänzer, die im Durchschnitt mit 18 Jahren ihre erste Stelle antreten, bleiben durchschnittlich nur zehn bis fünfzehn Jahre im Beruf. Diese Zeit wollen sie natürlich intensiv für sich nutzen, sich entwickeln. Allerdings: Je besser die Bedingungen, unter denen sie trainieren, proben und aufführen, umso länger können sie auch fit sein für ihren außergewöhnlichen, auch außergewöhnlich anstrengenden Job.
„Jede Vorstellung ist für uns etwas Besonderes und wird als Schritt in unserer Karriere betrachtet“, sagte einer der anwesenden Ballettkünstler. Insofern, führte er weiter aus, tut ihnen die Bestreikung von Vorstellungen, die bislang acht Mal in Berlin notwendig war, selbst sehr weh.
Da tröstet nur die Aussicht, etwas zu verändern. Und eine bestreikte Vorstellung hat den Vorteil, dass sie schon aus rein materiellen Gründen von der Geschäftsführung des SBB nicht so einfach ignoriert werden kann wie der Wille der Tänzerinnen und Tänzer, sich von ver.di gewerkschaftlich vertreten zu lassen.
Sabine Schöneburg fragte denn auch weiter nach, und kompetent entlockte sie den Künstlern weitere Aspekte. Etwa den, dass die Probenwochenpläne erst am Freitag vor Wochenbeginn erstellt werden. Längerfristige Planungen sind von daher nicht möglich.
Vor, während und nach Gastspielen wird den Künstlern dann auch noch oftmals nicht ein einziger Ruhetag zugestanden. Das ist schon ein starkes Stück: Sie sind doch Menschen und keine Roboter, die da quasi wie am Fließband unerhört gute Leistungen erbringen müssen. Selbst Tierschutzrichtlinien sind wesentlich einfühlsamer als die gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse beim Staatsballett Berlin.
Was die arbeitsrechtliche Situation angeht, so beginnt die Misere mit der Tatsache, dass den Tänzern ihre Arbeitsverträge bisher nur auf Deutsch und wohl auch nur einmalig vorgelegt wurden. „Dick wie ein Buch“ seien sie, meinte ein Tänzer, aber ausgehändigt wurden ihm nur die zwei Seiten, die die Bezifferung seines Einkommens und seine Unterschrift beinhalteten.
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Nun weiß man, dass Ballet-Compagnien international gemischt sind und die Arbeitssprache Englisch ist. Warum also gibt man ihnen ihre Verträge nicht auf Englisch in die Hand? Will man am Ende gar nicht, dass sie ihre Rechte als Arbeitnehmer gut wahrnehmen können? Der Deutsche Bühnenverein, der generell hier als Arbeitgeberverband keine zeitgemäße, angemessene Politik abliefert, scheint jedes Übel zu dulden, solange es als Chefsache gedeckelt werden kann.
Beschaut man sich die Situation, dass ver.di schon in der letzten Spielzeit wieder und wieder von Georg Vierthaler, dem Geschäftsführer des Staatsballetts Berlin, ignoriert und mit jedem Verhandlungsangebot ohne Umschweife abgewiesen wurde, gewinnt man außerdem den Eindruck, dass da hinter den Kulissen Absprachen auch mit der Politik – der Regierung Berlins – stattfinden, die nicht wirklich rechtmäßig sein können.
Normalerweise müsste der Berliner Senat ein Interesse daran haben, die Sache zu befrieden und sowohl die zusätzlichen Kosten als auch den Imageschaden Berlins durch ausfallende bestreikte Vorstellungen in Grenzen zu halten. Man dürfte sogar voraussetzen können, dass ein Senat wie der einer Kulturmetropole à la Berlin sowieso ein Interesse daran haben sollte, dass sich die internationalen Künstler, die die Stadt für ihre Bewohner wie für ihre Besucher interessant machen, hier auch wohl fühlen.
Wolfgang Brauer fragte denn auch die Tanzkünstler, was sie von dieser Seite erwarten. Die Antworten waren geradewegs traurig, weil die Tänzer nämlich das Gefühl haben, in der Spitze der Regierung Berlins nicht wirklich erwünscht zu sein: „Es scheint dort überhaupt nicht zu interessieren, was wir haben wollen“, sagt ein Tänzer kopfschüttelnd.
Tatsächlich demonstrierten Michael Müller, der Regierende Bürgermeister Berlins, und Tim Renner, sein Kulturstaatssekretär, bislang einen ausdauernden Mangel an Interesse. Offenbar können sie sich weder fürs Ballett noch für den immerhin ja auch kostenintensiven Ballettstreik erwärmen – noch sind sie willens, Vierthaler zu Verhandlungen mit ver.di anzuweisen. Anscheinend ist die SPD so, wie Müller und Renner ihre Partei vertreten, auch nicht mehr zuständig für arbeitsrechtliche Belange, sondern steht, ganz im Gegenteil, für eine knallharte, neoliberale Position der Unmenschlichkeit, die für heutige Arbeitsgeberverbände und ihre Lobbyisten prägend ist.
Dass hier eine weltberühmte Balletttruppe herangewachsen ist, scheint Müller und Renner egal, ebenso, dass ver.di mal zum Kerngeschäft der SPD gehörte. Hierzu eine Anmerkung: Am Tag nach der Diskussion in der Rosa-Luxemburg-Stiftung kam die Pressemeldung, dass die Afa, die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der Berliner SPD, Georg Vierthaler dazu aufforderte, endlich Verhandlungen mit ver.di in Sachen Ballett aufzunehmen. Leider ist die Afa, deren Vorsitzender Christian Haß sich hier sehr engagiert, nicht weisungsbefugt – das ist im Fall Vierthaler nur der Regierende Bürgermeister Müller.
Aber wie war das noch mit den Erbhöfen? Eben. Dennoch: Etwa 140 Berliner Tänzer – also das SBB und das Ensemble vom Friedrichstadtpalast – hätten jetzt gern mal mehr zeitgemäßes arbeitsrechtliches Licht in ihrem arbeitsamen Leben und werden dafür kontinuierlich weiter kämpfen. Mit und ohne Zustimmung eines Regierenden Bürgermeisters, der möglicherweise nicht einmal weiß, was eine Ballettprobe von einer Uraufführung unterscheidet.
Da half es Boßmeyer von der VdO wenig, dass er lamentierte, die Tänzer hätten nie mit ihm reden wollen, sondern nur mit ver.di. Statt nun Sabine Schöneburg verbal anzuschießen, sollte er sich an die eigene Nase fassen und von ver.di lernen, was eine gute Gewerkschaftsarbeit ist.
Es ist eine Kunst, mit Niederlagen im Leben oder im Beruf fertig zu werden – der VdO beherrscht diese ganz offensichtlich überhaupt nicht.
Dass der VdO nun aber auch noch ohne das Mandat der Tänzer für diese einen neuen Haustarifvertrag unterzeichnen will, fand eine Zuschauerin gleich ganz unmöglich. Boßmeyer hatte da wirklich Pech mit seiner frisch-forschen Art: Er wirkte anmaßend, unglaubwürdig und sogar unverschämt.
Da konnte einem Sabine Schöneburg nur Leid tun, als er ihr Dinge unterstellte, für die sie überhaupt nicht zuständig war.
Wolfgang Brauer zeigte sich seiner Rolle als moderierender Dompteur aber absolut gewachsen – und er entschärfte die Situation, bevor sie hätte eskalieren können.
Als aber einer der Tänzer Heiner Boßmeyer tadelte, weil dieser den Namen des Tänzers entgegen den Abmachungen genannt hatte, war ziemlich deutlich, dass der VdO den Maßgaben dieser Diskussion weder inhaltlich noch personell gewachsen war. Behauptungen Boßmeyers, künstlerische und nicht-künstlerische Angestellte eines Betriebs müssten in unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert sein, bewirkten eh nur Unverständnis: so ungebildet sind die Ballettfans nun nicht, dass sie sich von solchen Finten beeindrucken lassen.
Auffallend war aber etwas anderes, nämlich, dass die erschienenen Tänzer vom Friedrichstadtpalast in der Diskussion weitgehend stumm blieben. Dafür redete ihre Chefin umso lauter: Alexandra Georgieva, Ballettdirektorin des schon zu DDR-Zeiten bekannten Revuetheaters, nutzte die Gelegenheit, um ihr Haus als mehr oder weniger vorbildhaft in Sachen Arbeitsrecht zu bewerben. Da klang in der Tat vieles sehr gut, und sogar Sprachkurse in Deutsch werden den Tänzerinnen und Tänzern vom „Palast“ sozusagen „flächendeckend“ angeboten.
Aber dass Georgieva und der von ihr mitgebrachte Verwaltungsdirektor Guido Herrmann die Stimme der Tänzer, um die es hier eigentlich gehen sollte, verstummen ließen, war weniger erfreulich. Dabei hätte ihnen schon klar sein müssen, dass die Autorität ihrer Ämter auf Untergebene naturgemäß einschüchternd wirken würde. Und es ist nicht so, dass man beim Friedrichstadtpalast von einer Revolution von oben sprechen könnte.
Denn: Ohne Druck von ver.di und den Tänzern wäre auch am Friedrichstadtpalast nicht viel passiert in Sachen verbesserter Arbeitsbedingungen für die Bühnenkünstler.
Was sich die Tänzer von der Politik in Berlin noch erhoffen würden? „Demokratie!“, sagte einer. Und Wolfgang Brauer führte aus: Nicht nur Gerede, sondern erfahrbare und gelebte Demokratie sei das Gebot der Stunde – bei diesem in jedem Fall schon jetzt geschichtsträchtigen Arbeitskampf von Balletttänzern in Deutschland.
Insofern sind wir alle gespannt auf die Fortsetzung des Dramas mit dem provisorischen Titel „ver.di rein in die Vertragsverhandlungen“. Denn noch vor einigen Jahren wäre es uns unmöglich erschienen, dass Tänzer streiken – aber es wäre uns auch nicht mal in den Sinn gekommen, dass man eine renommierte Gewerkschaft wie ver.di derart hart mobben und ausgrenzen könne, wie es Georg Vierthaler und Berlins Regierung derzeit tun. Die „Gutsherrenart“, die Wolfgang Brauer da als Geschäftsmodell ausgemacht hat, sollte keine Schule machen dürfen – wir wollen eine fortschrittliche Gesellschaft und keine, die zurück in die Finsternis der Willkür führt.
Gisela Sonnenburg
P.S. Trotz des am 23. September mitgeteilten Neuabschlusses eines Haustarifvertrags zwischen der Geschäftsführung des SBB und den beiden Mini-Gewerkschaften GDBA und VdO zu ihren Gunsten werden die Tänzerinnen und Tänzer vom SBB weiter dafür kämpfen, dass mit ver.di verhandelt und abgeschlossen wird! Das steht allerdings nicht in der dpa/ddp-Meldung, die heute an die Medien rausging…