
Der megabegabte Alessandro Frola, hier in „Epilog“ von John Neumeier, hat in Hamburg gekündigt. Ein Schock. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Es war kein Aprilscherz, als gestern bekannt wurde, dass einer der bedeutendsten Startänzer vom Hamburg Ballett seine Position gekündigt hat: Alexandr Trusch, genannt Sasha, will kommende Saison nach fast zwanzig Jahren beim Hamburg Ballett woanders tanzen. Er ist nicht der einzige Superstar des Balletts, der sich vom neuen Hamburger Ballettintendanten Demis Volpi und seinem Stab, Hamburgs neuen Ballettmeister:innen, vertrieben fühlt. Schon letzte Woche gab Truschs Kollege Alessandro Frola, auch er ein Megabegabter und Publikumsmagnet, bekannt, dass er Hamburg verlässt. Auch von der Primaballerina Madoka Sugai sowie den beiden Ersten Solisten Jacopo Bellussi und Christopher Evans hört man, dass sie gehen wollen. Von Edvin Revazov und Anna Laudere heißt es, dass sie ein Jahr später folgen werden. Andere sollen noch am Überlegen sein. Nun sollte man meinen, dass solche Vorgänge intern und extern ein großes Nachdenken und Diskutieren bewirken, dass sich ein Dialog zwischen den Körperkünstlern und ihren Chefs entwickelt. Jedoch: Die Leitungsspitze, allen voran Demis Volpi, erstarrt in Untätigkeit. Auch die Kulturbehörde in Hamburg, namentlich der sich auch als Präsident vom Deutschen Bühnenverein gerierende Kultursenator Carsten Brosda, hat anscheinend kein Problem mit dem Ausscheiden eines Gros der wichtigsten tänzerischen Kräfte. Ist ihnen die Bedeutung, ja die Strahlkraft etablierter Stars im Ballett – auch etwa für den Nachwuchs des Balletts – nicht ganz klar? Personelle Veränderungen seien ganz normal bei einem Intendantenwechsel, so der Tenor des Senats. Vielleicht wollen die Hamburger Ballettmächtigen das Problem einfach aussitzen. Aber führende Bühnenpersönlichkeiten kann man nicht mal eben ersetzen. Die Gretchenfrage lautet:
Ist der junge Newcomer Demis Volpi mit der Aufgabe, ein Ensemble zu leiten, das zu den führenden in der Welt gehört, überfordert?

Demis Volpi begrüßte das Publikum am 31.12.24 mit allen guten Wünschen für 2025. Leider wird es nicht das beste Jahr fürs Hamburg Ballett. Foto: Franka Maria Selz
Und: Kommt da noch etwas erschwerend hinzu? Gelten Leistung, Erfahrung und Qualität in der aktuellen Kulturszene in Deutschland nichts mehr, geht es nur noch um Beziehungen und Willkür?
Wenn sich bewahrheitet, was bisher nur halböffentlich bekannt war, dann verliert das Hamburg Ballett vier seiner sieben ersten Männer auf der Bühne. Auf einen Schlag. Sie werden dann auf der Nijinsky-Gala im Sommer ihren Hamburger Abschied tanzen.
Und mit Madoka Sugai geht eine superbe Tänzerin, die derart vielseitig ist, dass man sie praktisch in jedem der über 170 Stücke von John Neumeier prominent einsetzen kann.
Der Vorgang ist einmalig in der Ballettgeschichte. Noch nie verließen so viele Spitzen eines Weltensembles auf einmal ihre künstlerische Heimstatt.
Ihr Leidensdruck muss sehr hoch sein. Um Geld allein geht es dabei sicher nicht.
Es ist ein trauriger Schock nicht nur für Hamburg.
Und keiner der jetzt Gehenden ist am Ende seiner Karriere als Bühnenstar. Im Gegenteil:

Die Wunderblume gibt es nur auf der Bühne, hier in den Händen von Alessandro Frola in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier. Foto vom Bejing-Gastspiel, März 2025: Kiran West
Alessandro Frola (von dem man hört, er gehe zum Wiener Staatsballett) steht mit Mitte 20 noch am Beginn seiner Laufbahn, und Alexandr Trusch ist mit Mitte 30 für heutige Ballettbegriffe im besten Alter. Auch Christopher Evans und Madoka Sugai, Jacopo Bellussi und andere führende Solist:innen, die über ein Weggehen aus Hamburg nachdenken, sind jung und stark genug, um woanders ihre großen Karrieren fortsetzen zu können. Man kann ihnen nur alles Beste dabei wünschen.
Aber Hamburg blutet aus.
Denn die Neumeier-Stücke, für die all diese Tanzkünstler ausgebildet und sozusagen wie gemacht wurden, sind der große Schatz, sozusagen das Tafelsilber, über den das Hamburg Ballett verfügt.
Ohne sie ist das Ensemble fast nichts mehr wert im internationalen Reigen; all die anderen choreografischen Handschriften, inklusive seiner eigenen, die Demis Volpi in Hamburg tanzen lassen will, kommen an das künstlerische Werk eines Jahrtausendgenies nicht mal annähernd heran.

Jacopo Bellussi und Madoka Sugai in „Ein Sommernachtstraum“ im März 2025 beim bejubelten Gastspiel in Bejing. Wer soll sie beim Hamburg Ballett ersetzen? Foto: Kiran West
Hinzu kommt, dass Tanz stärker als andere Künste von der Bewahrung des Vergänglichen abhängig ist.
Was Neumeier in über fünfzig Jahren harter Arbeit zusammen mit Dutzenden von Helfershelfern in Hamburg an Tanzkunstgut aufgebaut hat, will jetzt bewahrt sein. Technisch, aber auch spirituell: Tanz findet immer auch im Geiste statt, und um ein Stück Ballett gut einzustudieren, muss man sein Flair und seine Konstruktion so intensiv kennen wie ein Dirigent eine Partitur.
Auch Trainings- und Besetzungsfragen müssen dazu passend gelöst werden.
Da kann man nicht mal eben einen Menschen nehmen, der damit bisher praktisch nichts oder nur sehr wenig zu tun hatte.
Wenn Ballettintendant Demis Volpi im Ballettsaal steht und sagen soll, was eine gute Neumeier-Linie im Tanzen ist und was nicht, dann kommt er vermutlich ins Stottern.
So etwas ist ein Problem.

Auch die Corona-Krise hatten sie hervorragend gemeistert: Lloyd Riggins trainierte Madoka Sugai – ganz privat und doch öffentlich per Stream. Videostill: Gisela Sonnenburg
Man hätte eben auf die Erfahrung von Lloyd Riggins setzen sollen, der viele Jahre lang von John Neumeier als dessen Stellvertreter auf den Posten als Ballettintendant vorbereitet wurde. Man hätte ihm noch ein oder zwei weitere Kräfte zur Seite an die Spitze stellen können.
Zum Beispiel Edvin Revazov, der nicht nur all die genialen Werke tanzen, sondern (im Gegensatz zu Riggins) auch fließend deutsch sprechen kann. Auch der vormalige Erste Ballettmeister Kevin Haigen, der stets hervorragende Qualität garantierte, könnte zumindest als Berater mit eingebunden werden.
Auf jeden Fall müssten alle Mitglieder einer neuen Leitungsspitze vom Hamburg Ballett viel, nein: sehr viel Ahnung vom Neumeierschen Werk haben, denn das ist es, was das Hamburg Ballett zu etwas Besonderem macht.
Sehr viel Ahnung haben heißt: sich jahrzehntelang sehr stark mit diesem Werk beschäftigen. Zu diesem Kreis gehört nicht mal die neue Chefdramaturgin vom Hamburg Ballett, Vivien Arnold, auch wenn sie in Stuttgart einige Stücke von John Neumeier dramaturgisch und als Pressereferentin begleitet hat.
Gelegentlich etwas zu machen, genügt nicht, um ein Experte oder eine Expertin zu sein.

Jacopo Bellussi (li) und Edvin Revazov (re) in „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier, im vierten Satz, der „Nacht“. Nur solche Kenner und Könner der Neumeier-Arbeit sollten das Hamburg Ballett leiten dürfen. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Zur Erinnerung: Glen Tetley, der nach dem Tod von John Cranko 1983 das Stuttgarter Ballett übernahm, war mit dieser Position auch überfordert. Zu weit war er, der als Choreograph durchaus interessant und bedeutend war, vom Crankoschen Ballettidiom entfernt. Erst Marcia Haydée, die Crankos bedeutendste Muse und bevorzugte Primaballerina war, konnte der Truppe als Chefin wieder Halt und Innovation in richtiger Hinsicht geben. Bis heute sind alle Stuttgarter Ballettchefs durch und durch vertraut mit dem Crankoschen Werk. Nur so kann es gelingen.
In Hamburg schlägt jetzt zurück, dass man schon seit Jahrzehnten Menschen mit Kompetenz mal eben aussortiert hat, wenn sie nicht die politische Mainstream-Haltung bedienen oder persönlich keine typischen Mitläufer sind.
Die Ballettmächtigen vor Ort müssen sich jetzt bemühen, Fehler einzusehen und zu korrigieren.

Aleix Martínez (li) und Demis Volpi (re) bei der Probenarbeit zu „The thing with feathers“ von Demis Volpi. Aber für die Neumeier-Kunst und ihre Bewahrung benötigt man Fachleute an der Spitze, auch in Zukunft. Wer soll das sein, wenn alle potenziellen Leiter, Lehrer und Ballettmeister abwandern? Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Für Demis Volpi heißt das, sich schmerzlich einzugestehen, dass er am falschen Ort gelandet ist. Er mag ein buntes, abwechslungsreiches Programm und ein solides Konzept fürs Hamburg Ballett entwickelt haben, und bei anderen Compagnien läge er damit genau richtig. Aber ausgerechnet im Neumeier-Tempel funktioniert sein Plan wohl nicht.
Der Politik kann man nur zurufen: Rettet, was zu retten ist – und versucht, möglichst viele der gehenden Stars umzustimmen und die anderen zu halten!
Gisela Sonnenburg

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Ein autarker Elf: Alexandr Trusch als Puck in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Jetzt hat er gekündigt – im Sommer wird er Abschied nehmen. Foto: Kiran West