
Phoebe Schembri probt hier einen explizit weiblichen Part in „Bella Figura“ von Jiri Kylián beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Miljana Bernal
Es ist wie die Bebilderung eines Ballettlexikons, Abteilung jüngere Zeit: Drei als moderne Klassiker geltende Stücke bilden das neue Programm mit dem Titel „Wings of Memory“ („Flügel der Erinnerung“) beim Bayerischen Staatsballett. Als da sind: „Bella Figura“ von Jiri Kylián; „Faun“ von Sidi Larbi Cherkaoui; „Le sacre du printemps“ in der Choreografie von Pina Bausch. Jedes Stück hat eine auffallende Besonderheit: In „Bella Figura“ tanzen Frauen oben ohne; in „Faun“ wird in blauer Badehose getanzt; der „Sacre“ (bzw. das „Frühlingsopfer“) von Bausch nutzt echtes Erdreich auf der Bühne. Warum allerdings ausgerechnet diese drei Stücke zusammen kommen (und nicht etwa „Boléro“ von Maurice Béjart, den das Bayerische Staatsballett erst in der folgenden Saison ins Repertoire aufnimmt, dazu stößt), und was der Titel „Wings of Memory“ mit den Inhalten der Werke zu tun haben soll, bleibt unklar. Vielleicht soll der Abend ja so schön sein, dass man ihn nicht vergessen kann. Ein die drei Werke verbindendes Element kann man jedoch ausmachen: Es ist das Begehren, das Verlangen, die irdische Lüsternheit. Und dieses schier unendliche Verlangen wird jeweils in ein Extrem geführt.
Den Beginn macht dabei ein offenkundig modernes Stück. Jiri Kylián lässt in „Bella Figura“ („Schöne Figur“) den halbnackten Frauenkörper reüssieren. Wie ein lebendes Kunstwerk führt er ihn vor; die fünf Tänzerinnen tragen dazu flammendrote, bodenlange Flatterröcke. Sie wirken antikisch (wobei in der Antike meistens der männliche, nicht der weibliche nackt gezeigt wurde): Sie erinnern an die seltenen barbusigen Statuen aus dem antiken Kreta. Und auch männliche Tänzer tragen die roten Röcke. Trotzdem spielt auch die Scham der jungen Frauen eine Rolle: Es ist schwierig, so viel intime Nacktheit von sich preiszugeben, und auch für Bühnenkünstlerinnen ist das ein Peepshow-Effekt.
Vier männliche Tänzer stehen dem entgegen – und wirken trotz oder wegen ihrer körperlichen Kraft viel weniger transzendent als die Damen, die eben auch was von Tempelpriesterinnen haben.

Elena Vostrotina und Jenni Schaeferhoff tanzten beim Semperoper Ballett in Dresden „Bella Figura“ von Jiri Kylián. Foto: Costin Radu
Dafür sorgt die elegisch-elegante Choreografie (1995) von Jiri Kylián. Ob sie nun sexy-futuristisch oder doch unterschwellig sexistisch-demütigend ist, muss jede Zuschauerin selbst entscheiden. Vor zehn Jahren, als das Semperoper Ballett „Bella Figura“ tanzte, hat mich das Stück noch begeistert. Heute allerdings – angesichts zunehmender Sexismen in der Gesellschaft – bin ich vorsichtiger mit bedenkenloser Nackigkeit auf der Bühne.
Barockmusik von Vivaldi und Pergolesi verstärkt das Flair gleichmäßiger Erhabenheit. Wie sich die Menschen hier begegnen, lässt vielschichtige Beziehungen vermuten – oder auch nur oberflächliche Show. Es ist ein Manko in Kyliáns Arbeiten, dass er oftmals keine eindeutigen Szenen zeigt. Einfach nur schemenhaft etwas anzudeuten, macht aber nicht jeden satt.
Der Bekanntheitsgrad des Stücks ist allerdings sehr hoch – schon weil der barbusige Balletttanz doch ziemlich einmalig ist. Ob man der Weiblichkeit damit nun huldigt und einen Dienst erweist oder ob man sie so letztlich nur wieder auf Sexiness reduziert, ist die Gretchenfrage bei dem Stück.
Es wäre durchaus wünschenswert, wenn darüber gesprochen wird.
Schließlich begeistert es aber Viele, wenn die Körper sich wie selbstverständlich auch halbnackt bewegen können. Bei hochkarätiger Besetzung – von Madison Young und Osiel Gouneo über Margaret Whyte und Jinhao Zhang bis zu Elvina Ibraimova, Jakob Feyferlik, Carollina Bastos, Ksenia Shevtsova und António Casalinho – geht hier sehr viel positive Energie über die Rampe. Kunstvolle Beziehungstänze sind eben doch ein Maximum, das Ballett leisten kann.
Das Publikum reagiert denn auch meist mit höchster Konzentration und Aufmerksamkeit: Selten wird es so still im Zuschauersaal wie hier, wenn die Spannung der berührenden Intimität einfach jede und jeden umfasst.

Paartänze gibt es in „Bella Figura“ von Jiri Kylián ganz im Sinne des Titels: Das Tanzduo Carollina Bastos und António Casalinho vom Bayerischen Staatsballett macht jedenfalls auch zusammen eine wunderschöne Figur. Foto: S. Gherciu
Zum Mittelstück gibt es dann vor allem Historisches zu sagen. „L’après-midi d’un faune“ von Claude Debussy wurde in der skandalumwitterten Choreografie und Darbietung von Vaslaw Nijinsky mit großem Aufwand in Kostüm und Bühnenbild 1912 in Paris uraufgeführt. Damals genügte schon die Andeutung einer männlichen Masturbation am Stückende, und zwar bäuchlings im Liegen, um die Gemüter zu erhitzen.
Das halten wir heute locker aus. Obszönität ist der zarten Auf- und Abbewegung des männlichen Körpers nicht anzudichten. Nijinsky war als Choreograf verhältnismäßig diskret.
So oder so geht es um Erotik.
Als Inspiration für die musikalische Partitur von Debussy gilt ein Gedicht des Symbolisten Stéphane Mallarmé. Ein Faun stellt darin Nymphen nach, verschleppt sogar zwei – sie können dann flüchten, aber er ist sich im Rausch seiner Gefühle nicht sicher, ob er ihnen nicht doch etwas antat. Im Rückblick sinniert er über seine Reue und auch über seine Angst vor Rache durch die Göttin Venus. Rückzug ins Träumen ist alles, was ihm bleibt.
Bei Nijinsky geht es weniger gewalttätig zu. Der Faun versucht zwar, bei den Mädchen zu landen, akzeptiert aber deren Sehnsucht weiterzuziehen.
Eine der jungen Frauen lässt ihren Seidenschal zurück – und mit diesem befriedigt sich der Faun am Ende voller Lust. Auch er befindet sich damit, wie der Faun von Mallarmé, in den Gefilden der Imagination.
Interessant ist, dass die Schwester von Nijinsky, Bronislava Nijinska, 1922 en travestie die Hauptpartie übernahm.
Rund 20 Minuten dauert dieses Stück, in dem Nijinsky als Choreograf erstmals zu einer stark stilisierten Form fand. Diese ist an den antiken Darstellungen von Handlungen etwa in der Vasenmalerei orientiert, wie sie in formidablen Hundertschaften in den Staatlichen Antikensammlungen in München zu bewundern sind.

Margarita Fernandes und António Casalinho tanzen hier den „Faun“ in der Version von Sidi Larbi Cherkaoui. Probenfoto vom Bayerischen Staatsballett: Miljana Bernal
Das Bayerische Staatsballett hatte diese Originalversion denn auch einst im Programm – nebst Felsen auf der Bühne, Lockenperücke mit Satryrhörnern und schicken Ledersandalen beim Faun.
Viele Choreografen strebten Nijinsky schon nach und schufen eigene Versionen. Immer wieder Aufsehen erregend ist die brillante Fassung von Jerome Robbins, der in „Afternoon of a Faun“ (1953) die Handlung in einen Ballettsaal im Hochsommer (ohne Klimaanlage) verlegt. Ein männlicher Tänzer langweilt sich darin zunächst allein, entwickelt dann erotische Gedanken und trifft prompt auf eine Ballerina mit wallendem offenen Haar, die er verführt.
Sasha Waltz visionierte die Handlung hingegen ganz kindlich-verspielt und leider auch etwas oberflächlich an einem Strand.
David Dawson hat mit „Faun(e)“ 2009 in London die Musik von Claude Debussy in einer Bearbeitung für zwei Klaviere verwendet und seine knifflig-eruptive Choreo später beim Semperoper Ballett in Dresden zwei miteinander tanzenden Männern zugeschrieben.
Sidi Larbi Cherkaoui nun verfremdet die bekannte Musik von „L’après-midi d’un faune“ von Claude Debussy mit orientalisch-indischen Klängen – und lässt dazu ein Heteropaar lasziv und bodenlastig baggern. 2009 wurde diese tänzerische Verführung in Stuttgart erstmals aufgeführt.
Zunächst kullert und purzelt dabei der männliche Tänzer durchs Gefilde, getrieben von Sehnsucht und Verlangen nach einem Weibchen. Dieses erscheint auch alsbald, die Tänzerin betritt noch wie ahnungslos die dunkle Bühne. Passend zum Jungen mit seiner hellblauen Badehose trägt die junge Dame ein hellblaues, kurzes Strandkleidchen (Kostüme: Hussein Chalayan).

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Fehlt nur noch der Sand am Boden, um einen Badestrand oder auch eine Waldlichtung in einer Vollmondnacht fasslich zu machen. Denn beide tanzen barfuß. Und ohne Schlaglicht, in dem sie sich bewegen, wäre es stockfinster auf der Bühne.
Diese beiden haben sich nun gesucht und gefunden: Im Krebsgang schaukeln sie nach einem lasziven Räkel-Solo der mutmaßlichen Jungfrau aufeinander zu. Plötzlich steht sie dann vor ihm, der sich zunächst weiterhin am Boden vor Leidenschaft windet.
Ein akrobatisch inspirierter Pas de deux entsteht, und der Tanz des Pärchens wirkt ein bisschen wie Trockenübungen für den Cirque du Soleil.
Statt der genialen Klänge von Debussy wabern zeitweise Mönchsgesänge und Zimbeln wie aus einem buddhistischen Kloster durch die Sphäre – es ist Geschmackssache, von dieser religiösen Musik eine Verbindung zum erotischen Paartanz erkennen zu wollen. Vielleicht ist es das Moment der Meditation, das hier beides verbindet, ganz im Sinne des Tantra.

Margareta Fernandes und António Casalinho tanzen hier den „Faun“ von Sidi Larbi Cherkaoui. Foto vom Bayerischen Staatsballett: S. Gherciu
Als Wassergeplätscher eingespielt wird, verstärkt das den Charakter eines Naturtableaus. Doch schließlich erklingt wieder die liebliche Flöte aus Debussys Partitur – und das Paar ergeht sich in eindeutigen gymnastischen Verklammerungen. Die Botschaft: Sex tut gut.
Im Grunde zeigt Cherkaoui hier, dass zumindest in der körperlichen Liebe der Unterschied zwischen Tier und Mensch nicht allzu groß ist. Als Ergänzung würden filmische Dokumentationen über das Leben und Lieben von Tieren in der Wildnis ganz gut dazu passen.
Mit der Raffinesse von Jerome Robbins kommt die Sache allerdings nicht mit.
Die Erstbesetzung mit Margareta Fernandes und António Casalinho mag bestechend lasziv sein. Ob die Zweitbesetzung mit dem Ensembletänzer Frederick Stuckwisch und der eher rein klassisch ausgerichteten Halbsolistin Zhanna Gubanova damit vergleichbar ist, sei dahingestellt.
Als Überleitung zum bedeutendsten Stück des Abends kommt das Werk aber gelegen. Denn urtümlich und bodennah mutet auch der „Sacre du printemps“ an, den Pina Bausch schlicht auf deutsch „Das Frühlingsopfer“ nennt.

Die Primaballerina Madison Young tanzt hier „Das Frühlingsopfer“ von Pina Bausch – eine elektrisierende Probe. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Miljana Bernal
Auch dieses Stück wurde, und zwar 1913, in der Choreografie von Vaslav Nijinsky bei den Ballets Russes uraufgeführt. Die Musik von Igor Strawinsky wurde legendär – und viele Choreografen haben seither ihre eigene Version vom „Frühlingsopfer“ entwickelt. Viele haben noch die sexy aufgeladene Fassung von Maurice Béjart dauerhaft im Sinn. Mein Favorit ist die existenziell dramatische, sehr moderne Version von John Neumeier, die 1972 in Frankfurt / Main entstand. Pina Bausch schließt 1975 an diese an, entlehnt und modifiziert manche Bewegungen, setzt das Ganze aber in ein ganz anderes Setting.
In allen Interpretationen geht es um Sexualität und Tod, um die triebhaften Vorgänge in einer Urhorde, die in der Opferung einer Frau, die sich zu Tode tanzen muss, gipfeln. Einerseits ist das Werk sinnlich, andererseits ergreifend – die Erinnerung daran, dass Menschen auch Bestien sind, lässt sich hier nicht beiseite schieben.
Pina Bausch nun verdankt ihrem Strawinsky-Werk den künstlerischen Durchbruch. Anders als ihre späteren Arbeiten ist dieses Frühwerk von ihr aber noch nicht dem Tanztheater, sondern wirklich dem modernen Ballett zuzurechnen.

Markant und stark: Die Jungs vom Bayerischen Staatsballett begeistern mit Pina Bauschs „Frühlingsopfer“. Foto: S. Gherciu
Das Besondere daran: Es schließt den Gebrauch von Erdreich auf der Bühne ein. Barfuß wird auf fluffiger, dunkler, echter Erde getanzt. Diese Idee hatte Pinas Bühnenbildner und Partner Rolf Borzik, und Bausch wurde damit schlagartig berühmt.
Damals war es faszinierend zu sehen, dass so ein Bühnentanz funktioniert. Bauschs Tanzsprache darin entspricht zudem abgewandeltem klassischem Tanz, aber in einer deutlichen, kräftig modernen Spielart. Bemerkenswert ist: Die Damen tragen schon Kleider mit Spaghetti-Trägern, einem späteren Markenzeichen der Bausch-Arbeiten.
Tänzerisch ist die Sache eine Augenweide: In großen Bögen gehen die Bewegungen hin und her, ästhetisch biegen sich die Körper bis zur scheinbaren Ekstase. Und musikalisch gibt es hier auch viel zu genießen, die Musik ist aufwühlend bis mitreißend.
Die Geschichte der Opferung einer Frau durch archaisch-aufgeputschte Kulte geht unter die Haut.

Fantastische Einheit, im Tanz wie im Atmen, in den Bewegungslinien wie in den Posen: die Damen vom Bayerischen Staatsballett im „Frühlingsopfer“ von Pina Bausch. Foto: S. Gherciu
Das Staatsballett Berlin hatte dieses Stück von Bausch übrigens 2023 für einige Vorstellungen im Programm, überzeugte aber außerhalb der Soli nicht ganz, weil die sportlich durchtrainierten, auf oberflächliche Schönheit bedachten Tänzerinnen und Tänzer für meinen Geschmack zu wenig expressiv waren.
Diese Gefahr besteht aktuell in München weitaus weniger. Das Corps de ballet, durchsetzt von solistischen Kräften, hält hier auf der Bühne stark zusammen, gibt sich gemeinsam den wechselhaften Rhythmen hin. Die Euphorie, die entsteht, springt im besten Falle auf das Publikum über.
Das Bayerische Staatsballett unter Laurent Hilaire schließt mit diesem Programm an seinen ebenfalls auf Erotik bedachten Abend mit „Le Parc“ von Angelin Preljocaj an. Und die Steigerung hin zu Pina Bausch dürfte niemanden kalt lassen. Toi, toi, toi für die Premiere am Donnerstag!
Gisela Sonnenburg

Madison Young und Osiel Gouneo proben für „Bella Figura“ von Jiri Kylián, also für den Abend „Wings of Memory“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Miljana Bernal
www.bayerisches-staatsballett.de