News aus dem Reich der Geister Gespenstisch gut: Edvin Revazov debütierte beim Hamburg Ballett in der „Odyssee“ von John Neumeier – und empfiehlt sich als künftiger Ballettintendant

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Edvin Revazov, langjähriger Neumeier-Star, bekommt viel Zuspruch und Applaus von den Kolleginnen und Kollegen vom Hamburg Ballett. Foto vom Schlussapplaus nach „Odyssee“ am 11.4.25: Gisela Sonnenburg

Wenn man einen Komponisten wie Richard Wagner in der Stadt hat, sollte man nicht überwiegend Händel und Vivaldi spielen. Oder kann man sich die Bayreuther Festspiele mit ihrem Gründer, dem Komponisten Richard Wagner, nur noch unter ferner liefen vorstellen? Das Hamburg Ballett hat nun eine einzige Besonderheit, die es weltberühmt macht: Es tanzt die Werke von John Neumeier so hervorragend, dass man diese bedeutenden Tänze nirgendwo sonst so rundum brillant interpretiert sieht. Obwohl sie in aller Welt gezeigt werden, bei Ensembles in den USA und in Australien, in Europa sowieso, aber auch in Russland und in Asien. Neumeier ist nicht irgendein hochkarätiger Choreograf, sondern ein Genie mit Ausnahme-Status. Sein Werk ist vergleichbar mit dem von Richard Wagner auf dem Gebiet der Musik, mit dem von Shakespeare auf dem Gebiet des Dramas, mit dem von Picasso auf dem Gebiet der Malerei. Das Hamburg Ballett ist der Ort auf der Welt, wo die meisten seiner Stücke entstanden und wo Neumeiers Stil und seine Schöpfungen am besten verstanden werden. So eine Tradition verpflichtet. Mit der Kunstsammlung, die die Stiftung John Neumeier verwaltet, hat das nicht mal viel zu tun. Es geht um die Erhaltung eines Werks, das gehegt und gepflegt sein will, indem es von fachkundigen Ballettmeistern und Lehrern mit dafür im höchsten Grade geeigneten Tänzerinnen und Tänzern einstudiert wird. Es handelt sich beim Hamburg Ballett nämlich nur wegen der Stücke von John Neumeier um eine weltbedeutende Institution. Sie bildet ein Imperium nicht für eine Person, sondern für deren Geschaffenes. Und all das erklärt man nicht mal eben für nicht ganz so wichtig. Das wäre sehr dumm –  und würde Hamburg um seine tänzerischen Juwelen berauben. Denn bei aller Mühe: So herausragend und hinreißend wie beim Hamburg Ballett werden die Neumeier-Stücke nirgendwo sonst getanzt. Das mag auch daran liegen, dass die meisten der Hamburger Ballerinen und Ballerinos schon als Kinder auf der Schule des Hamburg Ballett mit seinem Werk vertraut gemacht werden. Die „Odyssee“ von John Neumeier ist nun gewiss nicht sein stärkstes Stück. Schon gar nicht sein populärstes. Es ist anspruchsvoll und sperrig. Und doch hat es so viel Kraft und Durchdachtheit aufzuweisen, so viele grandiose Momente und unter die Haut gehende szenische Details, dass jede Aufführung ein Triumph ist. So wie das umjubelte gestrige Debüt des langjährigen Ersten Solisten Edvin Revazov in der Partie des Odysseus.

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

„Sage mir, Muse, die Taten des viel gewanderten Mannes…“ – So beginnt das Odyssee-Epos von Homer. Und Anna Laudere und Edvin Revazov proben im Bild für die „Odyssee“ von Neumeier im Hamburger Ballettzentrum John Neumeier. Foto: Kiran West

Man mag es kaum glauben, dass er daran denkt, Hamburg den Rücken zu kehren: Revazov tanzt den ewigen Helden Odysseus, der sich zu Friedenszeiten langweilt und den es immer wieder raus in die Abenteuer der weiten Welt zieht, als hin und her gerissenen Kulturmenschen.

Stärker und schlagkräftiger, dramatischer und weniger poetisch-lyrisch ist sein Odysseus als der seines Rollenvorgängers Alexandr Trusch.

Aber man liebt beide und will beide in dieser bedeutenden Rolle sehen können. Nur hat Trusch zum Sommer gekündigt (ohne ein neues Engagement vorweisen zu können), und von Revazov heißt es, dass er ein Jahr später gehen werde.

Was ist nur los in dieser fleißigsten und besten aller deutschen Balletttruppen, die zudem international ganz weit oben mitspielt? Es ist, als schrecke die Befürchtung, dass das Hamburg Ballett sich dem Niveau eines mittelmäßigen Gemischtwarenladens nähert – und das auch noch ganz ohne Klassik – schon jetzt Manche ab.

Doch werfen wir zunächst einige Blicke auf die Bühne von gestern Abend.

Zu Beginn ist Odysseus ganz Familienvater: mit hellem Strohhut lässig auf dem Fahrrad sitzend, den Sohn Telemachos auf dem Kinderfahrrad hinter sich her lockend.

Louis Musin nach der „Odyssee“ beim Applaus: Gerade erhielt er einen Förderpreis – er wirft sich regelrecht in seine Rollen. Foto aus der Hamburgischen Staatsoper: Gisela Sonnenburg

Louis Musin tanzt mit Elan die Rolle als Sohn und wurde zudem gerade durch den Erhalt des mit 8.000 steuerfreien Euro dotierten Dr. Wilhelm Oberdörffer Preis bestätigt und gepusht (herzlichen Glückwunsch, das ist verdient!). Er wird vermutlich kommende Saison Erster Solist werden – Wetten sind da überflüssig.

Musins leichte, aber präzise und hoch ausgeführten Sprünge, die geschmeidige Kombinationsarbeit, die ausdrucksstarke Mimik berücken – es besteht kein Zweifel, er ist als Körperkünstler undenkbar ohne seine Ausbildung in der John-Neumeier-Gemeinschaft.

Auch Penelope, Odysseus‘ Gattin – Anna Laudere, auch im wahren Leben die Ehefrau von „OdysseusRevazov – unternimmt in Neumeiers Stückversion Ausflüge auf dem Rad mit dem Nachwuchs. Und sie kümmert sich rührend um Telemachos, als der kindlich verunglückt.

Im Hintergrund auf der Bühne , die von Yannis Kokkos (der auch die Kostüme kreierte) gestaltet ist, flanieren auf einer Galerie, die an ein schickes Schiffsdeck erinnert, die Götter. Ganz in Weiß geben sie sich dem Sein hin, betrachten die wechselnden Bilder auf einem Monitor, die sie beim Publikumseinlass noch selbst erzeugten: mit Handys, mit denen sich die Flanierenden gegenseitig filmten.

Ida Praetorius steigt als Pallas Athene später mit weihevoll zögerlichen Schritten herab, an einer Leiter, wohlgemerkt, nicht über eine Treppe. Eine Treppe, womöglich noch im Showformat – das wäre viel zu gewöhnlich in diesem Stück, in dem so vieles anders ist als in all den publikumswirksamen Neumeier-Knüllern wie „Illusionen – wie Schwanensee“, „Romeo und Julia“, „Der Nussknacker“, „Anna Karenina“ oder in „Die Kameliendame“.

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Ida Praetorius beim Schlussapplaus: eine sinnliche Pallas Athene in John Neumeiers „Odyssee“. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Und dennoch fesselt das Werk von der ersten Sekunde an. Das gilt auch für den Sound: Eingespielte Worte – manchmal auf deutsch, meistens auf griechisch, manchmal lyrisch-heiter, dann wieder als aggressiver Sprechgesang – ergänzen die expressive, unter Markus Lehtinen live gespielte Partitur von George Couroupos mit den fantastischen Trompeten-Soli, die von Hyeonjun Lee vom Philharmonischen Staatsorcheser Hamburg mit viel Gefühl dargeboten werden.

Die Stimmung ist mediterran, Zimbeln und Schlagwerkzeuge entführen in eine exotische Sphäre. Kein Wunder: Das Stück, wiewohl in die Gegenwart versetzt, hat seinen Ursprung in der Antike, in Homers Epos „Die Odyssee“, also in einer der ältesten Schriften des Abendlands. Immer mal wieder klingen antike Elemente an, in den Bewegungen, den Kostümen, den gestalteten Linien, die sich nicht zufällig ergeben. Dazu das warme, sommersonnenhelle Licht (wie die Choreografie von John Neumeier):

Neumeiers „Odyssee“ ist ein Stück Griechenland in Hamburg.

Das kommt nicht von ungefähr, denn Neumeier schuf sie als griechisches Auftragswerk mit seinem Hamburg Ballett für die Megaron Concert Hall in Athen, wo die „Odyssee“ mit der Hamburger Erstbesetzung auch uraufgeführt wurde. Das war 1995. Als Neumeiers Odysseus reüssierte damals Ivan Liska, der später Ballettdirektor in München wurde und heute noch das Bayerische Junior Ballett München leitet. Anna Polikarpova, die heute an der Ballettschule vom Hamburg Ballett unterrichtet und täglich Kinder auf ihre eventuellen Aufgaben als Tänzerinnen und Tänzer vorbereitet, war die erste Penelope.

Kalypso (sehr sexy in Jeans und Top: Hayley Page) entdeckt Odysseus: Als er nach seinen ersten Kämpfen sprich dem Umbringen des Gegners im Nahkampf ermattet wie ein Käfer auf dem Rücken liegt. Sie fasst seine Hände und zieht ihn hoch: Diese Frau ist seelisch so stark, dass sie sogar einen Helden wieder aufrichten kann.

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Hayley Page und Edvin Revazov als Kalypso und Odysseus auf der Probe. Foto: Kiran West

Es funkt sofort zwischen ihnen, ihr Pas de deux mit einer Drehhebung, bei der die Frau quer in der Luft über ihrem neuen Schatz schwebt, ist da eindeutig.

Als sich das später wiederholt, nimmt die Nymphe dem Helden sein silbrig glänzendes Armband ab und nutzt es selbst als Oberarmreif. Eine schöne, bühnenwirksame  Abwechslung vom Eheringtausch.

Doch bald befindet sich Odysseus wieder auf großer Fahrt.

Das Meer, das ihm so nahe ist, wird von sieben Frauen in blauen Abendkleidern mit langer Schleppe verkörpert, angeführt von Francesca Harvey. In unterschiedlichen Winkeln beugen diese jungen Damen den Oberkörper vor und schreiten dann als lebendige Diagonale über die Bühne; manchmal bilden sie auch ein Wellenmäander im Liegen; und wenn Unruhe die See erfasst, dann hetzen sie über die Bühne, vom Wind aufgescheuchte hohe Wogen versinnbildlichend. Es ist so poetisch und erhebend, dieses Meer zu sehen!

Telemachos indes trägt zunächst Schwarz, ein Kleid mit Kopftuch wie von einer trauernden Witwe. Sein Vater ging ihm verlustig.

Er beschließt, ihn zu suchen. Die Mutter gibt ihm ein Foto mit. Den Koffer in der Hand und als Anzugmensch getarnt, zieht Telemachos los.

Lange Zeit findet er ihn nicht. Doch als Vater und Sohn sich erstmals in der Fremde treffen, erkennen sie einander nicht.

Die "Odyssee" von John Neumeier beim Hamburg Ballett ist topaktuell

Florian Pohl als Kyklop Polyphemos in John Neumeiers Version: Das exotische Federvieh wird Opfer in der „Odyssee“. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Da ist der Kyklop (umwerfend rührend: Florian Pohl), der hier kein abgrundtief böser Riese ist, sondern ein exotisches, komisches Monstrum.

Ein Kostüm eines Riesenfederviehs mit schmuddlig-weißem Rundumgefieder, wie ein monströs großes Huhn, lässt hier den Kopf des Tänzers mit einem gleißend hellen Scheinwerfer als Kopfleuchte hervorragen.

Zunächst begegnet das Vieh Odysseus, und man versteht sich. Doch als Odysseus sich verabschieden will, fürchtet das Tier Einsamkeit. Und klaut sich Odysseus‘ knallgelbes Taschentuch, damit er da bleibt. Der holt es sich wieder – und wird vom Vieh flugs seiner Hosenbeine beraubt.

Odysseus wird hier des öfteren ausgezogen, und jedes Mal kommt dann Militärkleidung zum Vorschein. Hier sind es Shorts in Military-Farben.

Was spielerisch beginnt, endet fatal. Odysseus ruft seine Soldaten herbei, die verknechten den Kyklop, den Einäugigen, und Odysseus raubt ihm das Augenlicht, indem er ihm den Scheinwerfer vom Kopf reißt.

Einsam, blind, gerupft begegnet der Kyplop, nunmehr stark behindert, Telemachos. Der ist ganz anders als sein Vater und empfindet sofort Mitleid. Er steht für das Christentum, gewährt christliche Nächstenliebe, will den Blinden sanft von der Bühne führen.

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Doch da erscheinen Odysseus und seine Mannen, rachlüstern. Sie knallen das arme Vieh ab, von hinten, es kann sich weder wehren noch seine Mörder sehen. Telemachos ist entsetzt. Sein Vater entschwindet mit seiner wilden Horde, ohne dass Vater und Sohn sich erkannten.

Hieran sieht man: John Neumeier verändert die antike Mythologie, nimmt sich die Freiheit, die über 2000 Jahre alten Legenden neu zu erzählen, neu zu weben.

Odysseus wird bei Neumeier am Ende auch nicht – wie in der maßgeblichen antiken Version – von seinem unehelichen Sohn unerkannt erschlagen.

Sondern: Es gibt hier zwar viele Frauen, die Odysseus liebt, aber an Kindern existiert im Neumeier-Stück nur Telemachos. Und der feiert seinen Vater, als er nach etlichen Irrfahrten endlich mit dem Sohn zusammen heim kehrt und dort die parasitären Freier, die Penelope zur zweiten Ehe zwingen wollen, vertreibt.

Bei den Irrfahrten und Abenteuern dominieren derweil Krieg und Liebe.

Zuerst der Krieg.

Neumeier: Odyssee gehört zu meinen anti-aggressiven Antikriegsstücken.“

Mehr noch: „Mit Sicherheit reflektiert es meine Gefühle als junger Mann gegenüber dem Vietnamkrieg, den Amerika so besinnungslos führte.“

Neumeier selbst hat übrigens gedient, er war als junger Mann Soldat, als gebürtiger Amerikaner in der Armee der USA. Wenn er über Vietnam und über die „Besinnungslosigkeit“ von Krieg spricht, so ist das absolut glaubhaft.

Tatsächlich flimmern zeitweise Szenen aus dem Vietnamkrieg über den Monitor oben auf der Galerie. Und als Odysseus unter Reisbauern gerät, erschießen er und seine Leute diese. Als Odysseus die Freier um Penelope erledigen will, stellt sich gar sein Sohn in die Schusslinie, direkt vor die Waffe, er trägt dabei einen spitzrunden Reisbauernhut – und Odysseus lässt die Pistole sinken, er muss die Freier ohne Gewalttätigkeit vertreiben.

Aktuell wie kaum ein anderes Ballett: das Anti-Kriegsballett „Odyssee“ von John Neumeier. Hier in der Besetzung mit Alexandr Trusch. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Dennoch gibt es auch Schlachtszenen auf der Bühne, sowie ein Lazarett, in dem der Liegende in aller Ruhe genesen kann, während sich am Boden viele verletzte Soldaten stöhnend winden.

Am Ende löst sich diese Szene mit hysterischem Gekicher auf: Lachkrämpfe als PR-Heuchelei, die die wahren Schrecken des Krieges verdeckt.

Das Stück mag uns eine Warnung sein. Wir sollten uns auch jetzt nicht daran gewöhnen, Krieg als etwas zwangsläufig Normales anzusehen.

Warum rüstet Deutschland hoch, als wolle es bald in einen großen Krieg, in einen Weltkrieg, ziehen? Russland nebst Vorgängerstaaten hat Deutschland noch nie angegriffen, noch nie in der ganzen Menschheitsgeschichte. Noch nie. Warum sollte es das jetzt tun? Was hätte es davon?

Russland selbst hat hingegen viel zu verteidigen, unter anderem Bodenschätze, wie sie kein zweites Land auf der Welt in solcher Fülle und Vielfalt zu bieten hat. Das ist international bekannt und unumstritten.

Wie wahrscheinlich ist da ein Angriffskrieg gegen die NATO?

Und wer profitiert wirklich von der enormen Aufrüstung Deutschlands? Es sind einige wenige, vor allem in der Rüstungsindustrie. Die zwingen uns nun, an vielen Orten in Deutschland die Kultur zusammenzustreichen, damit noch mehr Waffen und immer noch mehr Waffen gebaut werden.

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Trompeter Hyeonjun Lee und Dirigent Markus Lehtinen mit den Tänzerinnern und Tänzern nach der „Odyssee“ von John Neumeier am 11.4.25 beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Richard Wagner lässt Siegfried den Waffenschmied Mime vernichten, als dieser sich selbst zum Weltherrscher ermächtigen will. Und wir lernen daraus nichts? Wollen wir uns von unseren eigenen Waffenherstellern regieren lassen?

Solche Gedanken sind durchaus zulässig, wenn man ein pazifistisches Stück wie „Odyssee“ von John Neumeier sieht.

Sinnigerweise passt die Szenerie von Ithaka zwischen Krieg und Frieden ja auch hervorragend zur Beschreibung der aktuellen Situation vom Hamburg Ballett:

Es ist ein Geisterreich, in dem dieser Odysseus mehr überlebt als lebt – und Edvin Revazov macht mit seinem grandiosen Tanz und seiner großen darstellerischen Kraft ein Fest der Sinne daraus.

Nichtsdestotrotz trägt Odysseus hier die Züge eines Gespenstes, eines Untoten, der den Krieg zu sehr verinnerlicht hat, um noch als reiner Mensch zu gelten. Er ist ein wandelndes Mahnmal, tanzt um sein Leben, gibt alles – und lässt uns tief beeindruckt zurück.

Das passt auch und gerade dann, wenn man weiß, dass Edvin Revazov gebürtiger Ukrainer ist und neben seiner Tätigkeit als Ballerino und Choreograf das Hamburger Kammerballett leitet.

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Edvin Revazov erntet viel Applaus, auch von den Kolleginnen und Kollegen vom Hamburg Ballett – und er leitet bereits das Hamburger Kammerballett, das am 16. Mai 25 seine nächste Premiere in der Elbphilharmonie hat. Foto vom Applaus nach „Odyssee“ am 11.4.25: Gisela Sonnenburg

Am 16. Mai 25 zelebriert dieses derzeit nur aus ukrainischen Tänzerinnen und Tänzern bestehende Ensemble übrigens seine nächste Premiere: mit zwei Stücken von Edvin Revazov („Kintsugi“ und „Silentium“), und zwar in der Elbphilharmonie, zu Live-Musiken von Leon Gurvitch. Der Abend ist, wie „Odysseus“, dem Frieden gewidmet.

Frieden war immer eines der ganz großen Ideale aller tänzerischen Kräfte, vor allem aber auch von John Neumeier.

Und merke: Ein erfolgreicher Hamburger Ballettintendant muss Teil dieser John-Neumeier-Gemeinschaft sein oder werden – sonst wird das nichts.

Hierin sind sich Experten und Publikum einig. Und so sind die hervorragenden Neumeier-Vorstellungen ausverkauft, während die etwas mittelmäßigen anderen Programme, die der aktuelle, neue, junge Hamburger Ballettchef Demis Volpi auf den Spielplan setzte, es nicht sind.

Die Katastrophe, dass eine Mehrzahl der männlichen Zugpferde (also der Ersten Solisten) das Hamburg Ballett durch Eigenkündigung verlassen wird, zudem auch die vielseitige Primaballerina Madoka Sugai, ist ein Alarmzeichen, das man nicht übersehen darf. So etwas kommt im Ballett sonst ebenso wenig vor wie in Fernsehserien. Warum sollte man grundlos als etablierter Star das Weite suchen? – Da steckt etwas dahinter, und die Lust auf Neues allein ist es ganz sicher nicht. Die meisten derjenigen, die gekündigt haben, haben nämlich noch kein neues Engagement, soweit man es weiß.

Es wäre also an der Zeit, darüber nachzudenken, möglichst bald einen künstlerischen Neumeier-Experten zum Hamburger Ballettchef zu machen, um weiteren Schaden zu vermeiden. Und hier wiederum bietet sich, zumal nach der gestrigen Vorstellung, der neue Odysseus-Held Edvin Revazov an.

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Edvin Revazov reißt uns alle mit: beim Applaus nach der „Odyssee“ beim Hamburg Ballett. Foto: Gisela Sonnenburg

Er hat Führungserfahrung, Neumeier-Kompetenz und spricht deutsch. Er kennt sich im In- wie im Ausland aus, hat international gastiert, und er hat ein gewinnendes, keineswegs introviertiertes oder egozentrisches Wesen.

Hamburg, nimm ihn! Sonst wird es beim Hamburg Ballett Verluste geben, wie sie ein hochkarätiges Ensemble noch nie hatte. Es ist jetzt schon problematisch.

Denn wer soll denn künftig Neumeier-Ballettmeister und -Lehrer werden? Trusch, Sugai, Jacopo Bellussi, Christopher Evans und Alessandro Frola gehen im Sommer. Der fabelhafte Neumeier-Interpret Bellussi wird am 1. Juni 25 zum letzten Mal mit dem Hamburg Ballett auftreten, in „Romeo und Julia“. Eine ganze Generation von Neumeier-Stars wird danach stark ausgedünnt.

Und wenn es nicht gelingt, ihn etwa als Ballettchef zu halten, dann wird auch Edvin Revazov ein Jahr später gehen, seine tolle, in vielen Rollen legendäre Gattin Anna Laudere nimmt er mit. Die beiden haben mehr als ein Dutzend bedeutender Neumeier-Werke mit kreiert. Sie kennen sich aus wie sonst kaum wer. Sie haben viel mit Kevin Haigen, dem vormaligen, langjährigen Ersten Ballettmeister und früheren Startänzer von Neumeier gearbeitet. Ohne sie wird die Neumeier-Gemeinschaft starke Wissenslücken aufweisen. Und bitte: Wer soll denn dann den Nachwuchs schulen, die Talente richtig formen, aus jüngeren Tänzern Stars machen und so die Neumeier-Originalität und -Authentizität garantieren?

Ballett beruht auf dieser Sache, dass von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Der nicht mehr junge frühere Neumeier-Stellverteter Lloyd Riggins und die verbliebenen Ballettmeisterinnen und Ballettmeister werden das auf die Dauer nicht allein schaffen. Es gilt, ein Werk von mehr als 170 Balletten zu pflegen.

Soll einfach ein Teil des Hamburger Tanzschatzes vergraben werden? Obwohl das Publikum ihn sehen will, wieder und wieder?

"Tristan und Isolde" in Bayreuth 2024

Bayreuth mit nur ganz wenig Wagner? Unvorstellbar. Hier Tristan und Isolde, undurchsichtige Liebende, in der Perspektive aus dem Schnürboden bei den Bayreuther Festspielen 2024. Videostill vom BR: Gisela Sonnenburg

Wie wäre es denn, wenn man im Bayreuther Festspielhaus fortan auch nur noch gelegentlich Werke von Richard Wagner zeigen würde? Mag sein, dass Ahnungslose von so etwas träumen. Aber weltweit wird sich kein Kunst- und Kulturexperte finden, der das gutheißen würde.

Gestern abend jedoch obsiegte die Liebe zur originalen Hamburger Ballettkunst, und das ist nun mal die von John Neumeier.

Um die Liebe geht es auch in seiner „Odyssee“.

Und auch die Liebe ist ambivalent gezeigt.

Odysseus ist ja ursprünglich bei aller Abenteuerlust ein auch umsichtiger Mann, der in der antiken Sagenwelt Schutzvorkehrungen trifft, um nicht dem Charme des Sirenengesangs zu erliegen. (Gemeint ist damit nicht der Klang der Kriegssirenen, von denen der Noch-Kanzler Olaf Scholz schon 2022 allein für Berlin 400 Stück orderte, sondern der Gesang der Meerjungfrauen, die bei den Alten, also in der Antike, Sirenen genannt wurden.)

Odysseus landet dennoch in einer Art Gefangenschaft der Liebe, und zwar bei Kalypso, die ihn allerdings auf Geheiß der Götter auch wieder ziehen lässt.

Aber Odysseus ist auch ein Schürzenjäger. Im Grunde ist keine schöne Frau vor ihm sicher, zumal er eine so große männlich-attraktive Ausstrahlung hat, dass die Frauen ihn begehren und verführen.

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Die unvergleichliche Madoka Sugai beim Schlussapplaus im Kostüm der Kirke nach der „Odyssee“ beim Hamburg Ballett. Wow! Danke für so viele tolle Momente! Foto: Gisela Sonnenburg

Außer Penelope und Kalypso umgarnen ihn Nausikaa (sehr sinnlich: Eleanor Broughton) und Kirke, von der unvergleichlichen, exzellenten Madoka Sugai im lateinamerikanisch angehauchten Regenbogen-Outfit getanzt, sowie die Gottheit Athene selbst.

Bei Kirke, der supersinnlichen Zauberin, verliert nicht nur Odysseus vor Erotikrausch fast den Verstand. Seine Soldaten mutieren unter ihrem Einfluss zu grunzenden Schweinen – und erst die körperliche Liebe mit freizügigen Damen erlöst sie. Die Antike war nicht prüde, und das setzt Neumeier auf seine Weise um. Auch die Gottheiten dürfen sinnlich agieren.

Athene (Ida Praetorius, göttlich gut) gönnt sich das Vergnügen, in wechselnden Verkleidungen aufzutauchen. Und erst, als sie Vater und Sohn in einen Pas de trois verwickelt hat, legt sie ihren Männermantel und die Blindenbrille ab, um mit beiden Männern als Frau delikat zu tanzen.

Wo Casanova-Manieren herrschen, ist die verherrlichte Mutter nicht weit:

Laura Cazzaniga, verdiente Neumeier-Muse und längst als Ballettmeisterin beim Hamburg Ballett tätig, verkörpert mit weiß geschminktem Gesicht und langem, silberweißem Haar den Geist der verstorbenen Mutter von Odysseus.

Er begegnet ihr, wie so vielem in seinem Leben, wie im Rausch, wie in Trance.

Odysseus, ein Grenzgänger zwischen den Parallelwelten, trägt die Nachrichten des Diesseits in den Hades und zurück.

Doch bevor ihn seine Berufung zum Menschenschlächter im Krieg ereilt, wird er von einem superbe ausgeführten Zappeltanz überwältigt, ein Veitstanz, der ihn erwischt und dessen Macht er sich beugen muss. Als würden ihn am ganzen Oberkörper Insekten und Parasiten plagen, als müsste er sich zu Tode jucken, als würde nur das große Zucken dagegen helfen… Edvin Revazov tanzt sowohl diese Orgie des Juckreizes als auch die anderen Passagen seiner Partie mit enormer Verve. Was für ein Weltkünstler!

Revazov ist ein sehr gutes Beispiel für die Karriere eines Talents im Hamburger Tanzimperium. Vor Ort ausgebildet, stand er schon als Teenager mit dem Hamburg Ballett auf der Bühne.

Die "Odyssee" von John Neumeier beim Hamburg Ballett ist topaktuell

Der Krieg hat Odysseus die Sinne verrückt, er erkennt seinen Sohn Telemachos fast zu spät: Alexandr Trusch, der sehr differenziert darstellt, und Louis Musin in der „Odyssee“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Auch sein Vorgänger in der Rolle des Odysseus, Alexandr Trusch, ist ein Zögling der ersten Kräfte von John Neumeier. Schon allein diese beiden Weltstars beweisen, dass man den Stil und die Schulung von Nachwuchs und Tänzern in Hamburg unbedingt so beibehalten muss, wie Neumeier es übergeben hat.

Die weiteren Solistinnen und Solisten sowie der Corps de ballet zeigen, was nur unter solchen Umständen zu erreichen ist.

Und Ballett ist eine lebendige Kunst, die quasi täglich mit Training und Proben erhalten werden muss. Das ist pflegeintensiver als zeitgenössischer Tanz, bringt allerdings dem Publikum auch viel mehr: an Emotion, an Klarheit, an Energie.

Warum wohl sind die Abende mit Neumeier-Stücken ausverkauft und die anderen nicht? Etwa, weil das Publikum nur nach großen Namen ginge? Oh nein, das Ballettpublikum in Hamburg ist sehr fordernd und hat auch John Neumeier immer wieder angetrieben, bis an seine Grenzen zu gehen. Weil es von diesem Genie durch seine Kunst soviel Power erhält wie sonst eben nicht!

Man darf diese beglückenden Erfahrungen den kommenden Generationen nicht vorenthalten. Das wäre doch streng genommen ein Verbrechen an der kultivierten Menschheit.

Die wichtigen Resultate des Ineinandergreifens der Ballettschule und der Company sehen wir ja bei jedem Event vom Hamburg Ballett.

Auch der weibliche Nachwuchs in der Neumeier-Truppe – und die „Neumeier-Truppe“ wird das Hamburg Ballett bleiben, solange es Neumeier so famos zu tanzen weiß – kann sich nämlich wie die Herren im internationalen Vergleich der Größten sehen lassen. Zwei seien genannt.

Ida Stempelmann als Freundin von Penelope weiß formidabel viel aus ihrer Partie zu machen, sie verbindet folkloristische Strenge mit einer weichen, formschönen Moderne. Ihre Armarbeit ist dabei als besonders vorbildhaft hervorzuheben, aber auch die Art, wie sie den Rhythmus der Musik durch ihren Körper fließen lässt, ist unnachahmlich schön.

Francesca Harvey, auch sie eine „Pflanze“ der Schule vom Hamburg Ballett, tanzte gestern erstmals das Meer – und sie gleicht in Sachen Souveränität und in stolzer Würde schon fast Yun-Su Park, die als langjährige Neumeier-Ballerina ein Naturwunder für sich in der Rolle war.

Zurück zu den Herren, die im Werk von John Neumeier eine Vielzahl an exotisch-erfreulichen Rollen haben. So wie hier:

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Auch sie müssen sich im Sommer trennen: Alessandro Frola (links) geht nach Wien, Francesco Cortese bleibt in Hamburg. In der „Odyssee“ sind sie ein tolles Team. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Alessandro Frola und Francesco Cortese avancieren als mystisches, zwillingshaftes Duo, das Odysseus bedrängt und tänzerisch wie ein Solistenduo aus einer anderen Sphäre, aus einer anderen Welt, wirkt, zu Publikumslieblingen.

Doch auch der fantastische Allrounder und jüngste Erste Solist Alessandro Frola wird im Sommer seinen letzten Auftritt mit dem Hamburg Ballett haben – er wechselt nach Wien zu Alessandra Ferri. Viel Glück sei ihm dort gewünscht, mit George Balanchines „Jewels“, mit der „Fledermaus“ von Roland Petit und mit „Manon“ von Kenneth MacMillan sowie mit einer Kreation von Alexei Ratmansky – und leider ganz ohne ein Werk wie „Dornröschen“ oder „Pathétique“ von Martin Schläpfer und auch ohne „Die Kameliendame“, die das Wiener Staatsballett zuletzt auch im Programm hatte.

Das Hamburger Ensemble gab dessen ungeachtet gestern mal wieder sein Bestes, auch wenn manche männliche Tänzer in Kleingruppen nicht ganz so synchron tanzten, wie man es erwarten würde.

Am Ende der „Odyssee“ gibt es ein fulminantes, sich steigerndes Finale des frohgemuten Friedens. Telemachos, die Zukunft verkörpernd, tanzt zunächst mit einer großen Schar von Jünglingen, die aussehen wie aus Neumeiers Jugendballett „Yondering“: griechisch-folkloristisch inspirierte, auch kokette  Schritte sind dabei.

Dann kommen junge Damen dazu, und die künftige Welt scheint Eins in Fröhlichkeit und Frömmigkeit.

Schließlich läuft diese junge Gesellschaft nebst Herrscherpaar Odysseus und Penelope auf den breiten Steg, der zur Erweiterung der Bühne ins Parkett gebaut ist.

Edvin Revazov in der Odyssee beim Hamburg Ballett

Francesca Harvey probt hier die Partie des Meeres – mit unbestechlicher Eleganz und Würde. Foto aus dem Ballettzentrum Hamburg John Neumeier: Kiran West

Alle setzen sich mit dem Gesicht zur Bühne – und sehen aufs Meer, auf die malerisch-versonnen die Bühne überquerende Meerfrau (Francesca Harvey). Nur Odysseus steht langsam auf und dreht den Oberkörper zu uns. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet. Er wird wohl schon wieder Pläne des Aufbruchs schmieden. Denn dieser Odysseus gibt nicht auf.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

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