Marcia! Sie war in ihrem ersten Beruf die Muse bedeutender Männer – und wurde dann selbst zu einer Macherin. Zuerst aber war sie als Primaballerina legendären Zuschnitts eine individuelle Interpretin und Inspirationsquelle. Ihr Stil und ihr quasi-natürliches Spiel sind bis heute in dieser Mischung unerreicht. Und manchmal kreierte sie eine Rolle sogar gleich zwei Mal: Als sie im Januar 1981 in Hamburg „Die Kameliendame“ von John Neumeier tanzte, war das bereits die überarbeitete Version des Balletts, das Marcia Haydée 1978 in Stuttgart uraufgeführt hatte. Ihre bedeutenden drei großen Pas de deux im Stück hatten somit zusätzlich Schliff und Raffinesse erhalten, technische Schwierigkeiten inklusive; vor allem aber bedeutete das eine stärkere Rollenzeichnung. In Marcias Augen lag in dieser Rolle mehr Schmerz – emotionaler Schmerz – als all ihre Nachfolgerinnen in dieser wohl wichtigsten Partie des zeitgenössischen Balletts aufzubringen vermochten. Das gilt bis heute.
Marcia Haydée, eine wandelnde weibliche Initialzündung für große Ballette. Sie war die „Ur-Tatjana“ aus John Crankos „Onegin“ (was wieder so ein Ballett mit zwei Versionen ist, wieder wurden beide Versionen von Haydée erstaufgeführt). Sie war aber auch die „Ur-Katharina“ aus Crankos „Widerspenstigen Zähmung“, die Personifikation eines artistisch-halsbrecherischen Anschlags auf vordergründigen Feminismus. Und sie war die herzzerreißende „Ur-Blanche“ aus Neumeiers „Endstation Sehnsucht“. Für John Cranko, den Übervater des Stuttgarter Balletts, und für John Neumeier, den genialen Gründer des Hamburg Balletts, war die Tänzerin Marcia Haydée so etwas wie die absolute Femme fatale, mit ihren immer wieder neu erblühenden mädchenhaften und mütterlichen Zügen zugleich.
Kein Wunder, dass sich auch andere Choreografen, von Maurice Béjart über Hans van Manen bis William Forsythe, nur so um sie rissen. Wegen Marcias Präsenz und Gestaltungskraft, wegen ihrer sauberen Linie und ihrer bescheidenen Art. Aber auch, weil sie klug ist!
Ihre Ausstrahlung verführt mich, mal wieder Johann Wolfgang von Goethe zu lesen, der ihren Frauentypus in seiner dramatischen Literatur oft beschrieben hat. Ist Marcia nicht ein Gretchen und eine Marthe Schwertlein aus dem „Faust“ (oder auch aus dem „Urfaust“) zugleich?
Und in den „Römischen Elegien“ formuliert Goethe, wie segensreich sich der Anblick einer solchen weiblichen Kraft auswirken kann:
„Fromm sind wir Liebende, still verehren wir alle Dämonen, / wünschen uns jeglichen Gott, jegliche Göttin geneigt.“
Marcia – sie scheint nachgerade eine Garantie für solche tiefe Begeisterung, die im Ballett aus höchster Konzentration bei zugleich größtmöglicher Individualität resultiert. „Edle Einfalt, stille Größe“ war das Motto der Klassiker seit Winkelmann – Marcia Haydée löst dieses Bonmot in ihrer Ballettarbeit ein, über Jahre und Jahrzehnte.
Und das, obwohl man damals, in ihrer Generation, Ballerinen mit knapp 40 Jahren allerspätestens den Bühnenabschied verordnete. Aber Marcia war noch mit 50 Jahren eine unbestritten fantastische Primaballerina auf der Bühne – so auch als „Kameliendame“, anzusehen in der Aufzeichnung des NDR von 1986/87 (als DVD im Handel erhältlich).
Sie hat in ihrem aktiven Tanzleben alles gehabt, was eine Frau haben konnte. Sie tanzte mit Rudolf Nurejev und Mikhail Baryshnikov, mit Richard Cragun (der bis zu seinem Coming out als Homosexueller ihr Lebensgefährte war), und sie tanzte auch mit Kevin Haigen (der als ihr Partner Armand in Neumeiers „Kameliendame“ die Überarbeitung der großen Pas de deux anregte und der heute bei John Neumeier in Hamburg der Erste Ballettmeister ist).
Sie tanzte mit Ivan Liška (dem heutigem Ballettdirektor in München, der ihr Tanzpartner in der besagten „Kameliendamen“-Aufzeichnung ist), und sie tanzte mit Egon Madsen, dem „Ur-Armand“ in Stuttgart.
Man(n) wollte sie – und das Publikum akzeptierte mit Marcia einen Typus Ballerina, den es so zuvor nicht gab: Bei ihr waren schon früh eine gewisse Reife und Ausdrucksstärke viel wichtiger als Auswärtsdrehungen, Pirouettenwahn und Beinhöhe.
Dass die Winkel ihrer Linien dennoch stets schön und niemals fahrig, stets gediegen, niemals unbeherrscht wirkten, macht die Filmaufnahmen und Fotos von ihr zu einem Schatz größten Werts.
Eine kleine Petitesse und zugleich ein Beweis für die Echtheit von Ballett ist übrigens der „Weiße Pas de deux“ in der erwähnten Aufzeichnung der „Kameliendame“: darin rutscht ihr das weiße Kleid in einer Hebung für einen Moment so weit über die Schulter, dass man ihre rechte Brust entblößt sieht – für einen ganz kurzen Moment, der aber belegt, wie schön auch dieser Körperteil der trainierten, aber nicht überzüchteten Ballettfrau ist.
Die Entwicklung der Figur der „Kameliendame“ aber, von der hysterisch-heuchlerischen Kurtisane über die absolut Liebende (im „Weißen Pas de deux“) bis zur aus Liebe auf die Liebe Verzichtenden ist ihr auf den Leib choreografiert – sie ist und bleibt damit einerseits das Vorbild in dieser Rolle, andererseits aber auch das Vorbild für alle Ikonen reifer Ballerinen, die ja erst jetzt, seit einigen Jahren, immer mehr entdeckt werden.
Die Süße einer Frau über 30 oder auch jenseits der 40 – die Bewusstheit ihrer Arm-, Körper- und Beinbewegungen, der souveräne Ausdruck ihrer Welt- und Liebeserfahrung, schließlich ihr lang gewachsener, starker Wille – all das akzeptieren die meisten Ballettfans und Fachleute (Ballettmeister, Choreografen, Journalisten) erst seit kurzem: seit es, knallhart gesagt, Facelifts, Unterspritzungen und Ultherapien von so subtiler und punktgenauer Art gibt, dass die Gesichter – wie die Körper im Kostüm auf der Bühne – unauffällig viele Jahre jünger wirken. Weiter geht die Toleranz noch nicht. Ansonsten regiert derzeit weiterhin die Sucht nach Jugend im Ballett – vielleicht wird sich das auch niemals ändern.
Aber Marcia Haydée konnte auch mit einem schon gewelkten Gesicht noch die faszinierende Liebhaberin darstellen! Was für eine Ausnahmetänzerin.
Ein unschätzbares Kapital: Dass sie schauspielern und dennoch ganz sie selbst sein kann. Weder altersmäßig noch als Person muss sich verleugnen, wenn sie in die Rolle hineinschlüpft wie in eine zweite, durchlässige Haut.
Das In-einer-Rolle-Aufgehen – sie vollführt es jedes Mal, wenn sie die Bühne betrat, mustergültig.
Tanzen als zweite Natur.
Darum wurde sie zur Legende – und dass sie in den Jahren ab 1976 auch noch zusätzlich zum Dasein als aktive Primaballerina die Ballettdirektorin in Stuttgart war – mit vielen mütterlichen Gefühlen für ihre Compagnie – nährt diesen Ruhm von der Perfektion und Vielseitigkeit einmal mehr.
Tatsächlich wurde sie nicht aus Herrschsucht oder Machtgier Direktorin, sondern weil ihre Kolleginnen und Kollegin sie brauchten. Führung ist wichtig, nicht nur im Ballett – und Glen Tetley, der nach John Crankos überraschendem Tod in Stuttgart die Direktion übernommen hatte, konnte sich in den für ihn fremden Gefilden nicht wirklich einfinden. Man akzeptierte ihn nicht genügend, und er konnte nicht genug von sich geben.
Marcia aber hatte Cranko ohnehin oftmals beraten, und er war ihren Ratschlägen auch dann, wenn sie sie unaufgefordert vortrug, oft gefolgt, stets, ohne das bereuen zu müssen.
Das betraf Spielplan- wie Personalfragen, kleinere Details oder auch größere Entscheidungen mit Tragweite.
Dass Marcia es als Frau doppelt und dreifach schwerer hatte als vergleichbar ein Mann in so einer Position, hat sie nie wirklich interessiert, es fiel ihr nicht einmal auf.
Sie hat einfach gemacht statt zu lamentieren – und bis 1996 „regierte“ sie in Stuttgart nicht nur redlich, sondern auch mit inspiriertem Elan und einem ziemlich feinen Händchen für choreografische Grandezza.
Ihre Freundschaft zu John Neumeier, der immer mal wieder Uraufführungen für ihr Ensemble kreierte – und der sie beinahe als Kleopatra statt als Kameliendame auf die Bühne gestellt hätte – half ihr dabei, ebenso wie der starke Rückenwind, den ihr die Tänzer in Stuttgart gaben.
Aber wäre sie ein Mann gewesen, man hätte ihr zweifelsfrei noch ganz andere Möglichkeiten als Direktorin oder auch Intendantin eröffnet.
So wich sie ins Ausland aus, führte für einige Jahre in den 90ern gleichzeitig zwei Häuser in zwei Kontinenten: Stuttgart und Santiago de Chilé. Im Teatro Muncipal ist sie auch heute wieder Ballettdirektorin: geliebt, verehrt, umworben.
Ihr „Dornröschen“ von 1987 ist ihre erste und wichtigste Choreografie, eine runde Sache, ein delikates, dennoch farbstarkes Gespinst aus Tradition – mit der Choreografie von Marius Petipa und der Musik von Peter I. Tschaikowsky sowie dem Esprit von John Cranko – und Haydée’scher Modernisierung.
Vor allem mit der Neukreation der bösen Fee Carabosse gelang ihr ein Meisterstück: bei der Uraufführung von Richard Cragun mit androgynem, fast femininem Charme getanzt, zeigt diese Partie Bosheit und Niedertracht wie in einem Stummfilm, als zwar überzeichnete, aber realistische menschliche Komponenten.
Ansonsten ist es gedrechselte Kunstfertigkeit, die Marcias „Dornröschen“ immer wieder sehenswert macht.
Die Niedlichkeit der Prinzessin, die Eleganz des Prinzen, die Stärke der Fliederfee, die Sprungfertigkeit der guten Feen, die Walzerbefähigung des Ensembles – Marcia Haydée profilierte sich mit ihrem „Dornröschen“ als „Tänzer-Choreografin“, die mit ihrem Werk weniger dem eigenen Ego Raum auf der Bühne verschaffen wollte als vielmehr Sinnstiftung für den Balletttanz der Compagnie kreierte.
Ihre späteren Choreografien wie „Giselle und die Wilis“ sind zwar auch aufregende Eigeninterpretationen, aber so in sich abgerundet und durch und durch gestylt und vollendet wie „Dornröschen“ ist wohl keine. Das mag am Thema „Dornröschen“ liegen, an dieser perfekten Liebe, die es zu illustrieren gilt, aber auch an der engen Beziehung Marcias zum Märchenstoff von Aurora und Désiré: Für sie ist diese Love story keine absurde Legende. Sondern es fasziniert sie eine Sinnbildhaftigkeit, die für das Liebespaar in der Welt schlechthin steht. Adam und Eva auf ballettisch, sozusagen.
Die Einstudierung mit den aktuellen Tänzergenerationen in Stuttgart hat sie beflügelt, ihr Spaß und Mut gemacht. Die verschiedenen Besetzungen haben sie gefordert – und sie hat die Ballerinen und Ballerini mit ihrer Arbeit gefördert. Das Bühnenbild und die Kostüme von Jürgen Rose entfalten dabei unvermindert ihren Charme, wirken verspielt und lieblich, aber keinesfalls bombastisch oder aufdringlich.
Übrigens wohnt Marcia, wenn sie in Stuttgart zu tun hat, zumeist im Althoff Hotel am Schlossgarten, nahe dem Opernhaus, auf der anderen Seite des Parks gelegen. In der „Cranko Lounge“, wie die Hotelbar dort heißt, kann man, während man seinen vorzüglich geschüttelten Drink schlürft und sich bei sanfter Live-Pianomusik angeregt unterhält, an einer Wand auch Fotos aus den wilden Cranko-Jahren anschauen: Marcia und John mit dem Ensemble, Marcia und Cranko im Ballettsaal, Marcia Haydée und John Cranko debattierend. Man reist in eine andere Zeit mit solchen Bildern… Solcherart Ballettproben zu studieren, ist auch mal ein Vergnügen!
Für mich gibt es Marcia aber jetzt auch ganz real live, fürs Interview lernte ich sie im Sommer 2015 persönlich kennen.
Marcia Haydée – da ist sie. Sie zu begrüßen, macht bereits einfach nur Spaß, weil sie soviel positive Energie und unverstellte Freundlichkeit ausstrahlt.
Ihr gegenüberzusitzen, ist dann eine besondere Ehre. Würden meine Fragen ihr zusagen? Würden sie sie anregen können? Sie spricht mit weichem Akzent deutsch, sie schaut neugierig aus ihren Kulleraugen, und ihr Lächeln könnte einen ganzen Ballettsaal aufwärmen.
Ballett-Journal: Marcia Haydée, wie war es für Sie, als Sie in „Dornröschen“ als Tänzerin auftraten?
Marcia Haydée: Das war eine der ersten großen Partien für mich hier in Stuttgart. Wir haben damit 1961 begonnen. Im Dezember tanzte ich die Hauptrolle, die Aurora, in „Dornröschen“. Die kleineren weiblichen Partien hatte ich zuvor beim Grand Ballet du Marquis de Cuevas getanzt – insgesamt habe ich in meinem Leben jede weibliche Rolle in diesem Ballett mal getanzt!
Ballett-Journal: Warum haben Sie 1986 ausgerechnet „Dornröschen“ choreografiert?
Marcia Haydée: Ich brauchte damals ein neues klassisches Ballett für die Stuttgarter Compagnie. Meine Wahl fiel auf „Dornröschen“, weil es eines der schönsten abendfüllenden Balletten ist. Und ich suchte einen Choreografen dafür. Ich habe meine Compagnie danach befragt. Und da hat Richard Cragun einfach gesagt: „Marcia, du weißt doch ganz genau, was du willst. Warum machst du es nicht selbst?“ Die anderen haben sofort gesagt: „Ja, Marcia, mach es! Wir unterstützen dich!“ Das Wichtigste war für mich dann, dass ich Jürgen Rose für die Ausstattung bekam. Er hat meine Ideen umgesetzt, er verstand mich, wir kannten uns ja schon so viele Jahre. Er hatte die Kostüme und Bühnenbilder für „Onegin“ gemacht, für „Romeo und Julia“ und so weiter. Ich war ganz ehrlich mit ihm und sagte, dass es meine erste Choreografie sein würde. Jürgen hat mir alle Unterstützung zugesagt – und es lief.
Ballett-Journal: Bei uns Frauen ist es ja oft so, dass man jemanden braucht, der einen Anstoß gibt, der sagt: Ja, es ist gut so, mach es! Da fehlt sonst vielleicht auch das Selbstbewusstsein.
Marcia Haydée: Ja, so etwas gibt es. Aber damals, das muss ich sagen, gab es sowieso einen so großen Zusammenhalt, eine so starke geistige Zusammenarbeit. Das waren schon deshalb schöne Zeiten.
Ballett-Journal: Die Musik von Tschaikowski ist gerade für Ballett natürlich ganz fantastisch, sehr rhythmisch und sehr melodiös. War sie mit ein Auswahlkriterium?
Marcia Haydée: Unbedingt. Für klassisches Ballett sind die drei Musiken von Tschaikowski – „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Nussknacker“ – unersetzlich. „Nussknacker“ hat musikalisch keinen einzigen Fehler! Es ist die Perfektion von Tschaikowski! „Dornröschen“ und „Schwanensee“ sind am Anfang allerdings schwierig, weil sie nicht chronologisch komponiert wurden. Aber es zu hören und danach zu tanzen, ist auch einmalig. Auf mich wirkt diese Musik sehr. Und in „Dornröschen“ ist es allein schon die Musik für Carabosse, für die böse Fee, die so stark ist!
Ballett-Journal: Sie haben mit so vielen großen Choreografen zusammen gearbeitet. Haben Sie von denen auch für die Arbeit an Ihrem „Dornröschen“ gelernt? Oder haben Sie deren Handschriften eher ausgeblendet, um eine eigene zu entwickeln?
Marcia Haydée: Letzteres war der Fall. Als ich anfing zu choreografieren, das war, als wenn man gerade mal ein Auto unter sich hat und dann sofort raus auf die Autobahn fährt. Im Unterbewusstsein hat aber sicher alles in mir gewirkt, was ich vorher gemacht habe. Kenneth MacMillan, Maurice Béjart, John Neumeier, John Cranko – all das ist in mir. Aber ich habe mir ganz sicher nicht gesagt: Ich nehme jetzt das von dem und das von dem.
Ballett-Journal: Was ist die zentrale Idee in Ihrem „Dornröschen“?
Marcia Haydée: Für mich ist es der Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen. Und das Böse ist nicht alt und hässlich oder komisch. Sondern das Böse und das Gute sind Pole, die einander gegenüberstehen. Die Fliederfee ist das Gute, die Carabosse das Böse. Und wenn die Fliederfee jung und stark ist und über große Kräfte verfügt, dann trifft das alles auch für Carabosse zu. Richard Cragun war damals als Carabosse kein Mann und keine Frau, sondern er sah aus wie ein Kabuki-Krieger, voll exotischer Schönheit. Aber meistens – in anderen „Dornröschen“-Versionen – verschwindet Carabosse am Ende, man lässt sie einfach sterben. Bei mir stirbt sie nicht! Am Ende ist Carabosse da – und der Vorhang fällt, aber ihr Blick sagt dem Publikum: Nichts ist wirklich vorbei!
DER GLAUBE AN DAS GUTE IST AUCH EINER AN DIE KRAFT DES BÖSEN
Ballett-Journal: Jedes Happy End ist ein Happy End auf Zeit.
Marcia Haydée: Genau! Warum soll man denken: Das Gute bleibt und das Böse muss sterben. Das ist im wahren Leben auch nicht so!
Ballett-Journal: Im wahren Leben ist auch die Internationalität der Kunst wichtig. Sie sind eine Grenzgängerin, arbeiten am liebsten abwechselnd in Chilé und in Deutschland?
Marcia Haydée: Seit elf Jahren bin ich – mit einer Unterbrechung – in Santiago de Chilé Ballettdirektorin. Ich komme ja aus Brasilien, aus Rio de Janeiro, und meine Ausbildung habe ich in London, an der Sattler’s Wells School, beendet. Aber in Südamerika funktioniert Theater ganz anders als in Europa. Es ist schwieriger. In Chilé hat man mir die Tür geöffnet und gesagt: „Marcia, hier ist die Compagnie, mach was draus!“ – Und es ist eine sehr schöne Zusammenarbeit, aber anders als hier in Europa. Man muss dort die südamerikanische Mentalität verstehen. Sonst geht es nicht. Und die Compagnie ist toll! Die haben soviel Energie! Es sind 55 Tänzerinnen und Tänzer, wir haben auch eine Schule. 36 Tänzer von der Compagnie kommen von der Schule. Aber die Geschwindigkeit, die ist anders als hier. Das war in den ersten zwei Jahren, in denen ich das Ballett dort geführt habe, ganz schlimm für mich. Ich musste mich ständig bremsen. Langsam fand ich aber einen Weg, auf dem die Compagnie zu mir kommen kann.
Ballett-Journal: Und es gibt ja so begabte Tänzer aus Lateinamerika!
Marcia Haydée: Bis hin zu Carlos Acosta aus Kuba! Aber die Mädels sind auch sehr gut! Die Tänzer aus Südamerika, die haben etwas „Andersartiges“ an sich, etwas, das einen fasziniert, etwas, wo man gerne hinguckt. Die sind geboren fürs Tanzen.
Ballett-Journal: Gucken Sie hier in Stuttgart auch nach, was der Nachwuchs so macht, sehen Sie in der John Cranko Schule nach jungen Talenten?
Marcia Haydée: Oh, ja, und es gibt so viele gute Schüler hier! Ich komme und sehe lauter Prinzen und Prinzessinnen…
Ballett-Journal: Der Fortschritt bei den Ballettstudenten ist ja enorm und hat, international gesehen, in den letzten zehn Jahren nochmals stark angezogen.
Marcia Haydée: Das sind so geeignete Körper, schon fast fertige Körper, wie geboren fürs Ballett! Das war zu meiner Zeit ganz anders.
Ballett-Journal: Wenn klassische Choreografien einstudiert werden, müssen die jungen Leute heute sogar oft umlernen und zurückstecken – von überstrecktem Spagatsprung zurück auf 180 Grad, zum Beispiel.
Marcia Haydée: So etwas gab es zu meiner Zeit nicht. Ich danke dem Schicksal oft, weil ich genau in der richtigen Zeit geboren wurde! Ich weiß nicht mal, ob ich heute überhaupt Tänzerin werden könnte. Wenn ich sehe, was die alles heute machen müssen – nein, da würde ich kein Ballett tanzen wollen, glaube ich.
Ballett-Journal: Es gibt aber auch ein starkes Wechselspiel der verschiedenen Epochen…
Marcia Haydée: Das erinnert mich an das Verhältnis von Cranko zu Petipa. Cranko hat immer gesagt: Petipa ist der Größte. Als er den „Romeo“, den „Onegin“, die „Zähmung“ choreografierte, hat Cranko immer daran gedacht: „Wie hätte es Petipa gemacht?“ Er hat darum auch zum Beispiel nie einen Pas de deux gemacht, der länger als soundsoviele Minuten ist. Cranko war schnell, intensiv, in allem, was er tat. Er war an Ausdruck interessiert. Und er hat die Technik nie überbewertet. Es gab einmal ein Vortanzen von drei jungen Tänzerinnen, für einen freien Platz in der Compagnie. Zwei der Mädchen waren technisch sehr gut, die dritte aber nicht. Und genau die hat Cranko genommen! Die Ballettmeister haben ihn gefragt: Warum, John, warum nimmst du die? Warum keine der anderen beiden, die sind viel besser! Er hat gesagt: „Ich habe mit ihr gesprochen, und sie ist dabei rot geworden. Sie ist für mich.“ Da war irgend etwas, das ihn an ihr interessierte. So war er!
GESCHICHTE UND GESCHICHTEN UM JOHN CRANKO
Ballett-Journal: Wie ist es für Sie, wenn Sie hier in Stuttgart wieder arbeiten? Kommen da viele Erinnerungen hoch?
Marcia Haydée: Ich fühle das ganz stark: Jede Wand hier hat ihre Geschichten zu erzählen. Und jedes Theater in der Welt hat das. Ich verstehe zwar, wenn man modernisieren muss. Aber man muss auch das erhalten, was da ist. Als ich in das alte Bolschoi-Theater kam, konnte ich spüren, dass da mal große Tänzerinnen entlang gingen und gewirkt haben. Seit alles renoviert ist, ist es anders.
Ballett-Journal: Privat haben Sie Mitte der 90er Jahre das große Glück gefunden.
Marcia Haydée: Mein Mann Günther Schöberl ist Yoga-Lehrer. Ich habe Yoga aber nicht erst mit ihm kennen gelernt. Für mich gibt es schon lange Ähnlichkeiten von Ballett und Yoga.
Ballett-Journal: Wie haben Sie denn zum Yoga gefunden?
Marcia Haydée: Als ich 19, nein, 17 Jahre alt war und in die Compagnie vom Marquis de Cuevas kam, gab es fünf Ballerinen. Eine war Rosella Hightower, sie war aus den USA. Sie hatte eine Art zu tanzen, die hat mich fasziniert. Sie war nie müde, hatte sehr viel Kraft, ich hatte den Eindruck: Sie kann alles. Eines Tages bin ich zu ihr und habe ihr gesagt: Rosella, eines Tages will ich so tanzen wie du. Diese Leichtigkeit, die du hast, damit hast du mir gezeigt, was ich will. Und da hat sie mir gesagt: Du musst Yoga machen. Denn wenn du Yoga machst, lernst du atmen. Tänzer denken nie ans Einatemen und Ausatmen. Die denken an die Füße, an die Beine, an die Arabesque, an die Attitude, an den Kopf – aber nie ans Atmen, sie tanzen nicht, wie sie atmen.
YOGA BRACHTE IHR ERST DIE GROSSE SICHERHEIT, DANN DIE GROSSE LIEBE
So habe ich mit Yoga angefangen – und viele Jahre später kam mein Mann. Wir waren sofort verliebt. Und als wir 1995 zusammen in Brasilien waren, hat er mich angeschaut und gesagt: Ja, Marcia, ich will dich heiraten. Dabei hatte ich ihn gar nicht gefragt!
Er ist ein ganz besonderer Mensch, aber kein großer Fan vom Ballett. Ich finde das gut, denn wenn ich nachhause komme, dann nimmt er mich sofort aus der Arbeit raus. Dann ist es mal egal, was im Ballettsaal los war. Aber er weiß, dass Ballett mein Leben ist, das akzeptiert er, und er sagt auch immer: Marcia, mach es! Dafür bügele ich ihm dann seine Hemden, und ich genieße es, im Garten Gemüse anzubauen oder in freien Stunden ein Bild zu malen. Ich habe beides: meine Berufswelt und meinen Privatbereich. Und Günther ist heute der wichtigste Mensch in meinem Leben, das ich liebe!
Text und Interview: Gisela Sonnenburg
Weitere Berichte zu Marcia Haydées „Dornröschen“ und zur „Endstation Sehnsucht“ in Stuttgart:
www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-dornroeschen-haydee-detrich/
www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-dornroeschen-elisa-badenes/
www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-endstation-sehnsucht/
„Endstation Sehnsucht“: wieder ab dem 24. September 2015 im Opernhaus Stuttgart
„Dornröschen“: wieder ab dem 30. September 2015 im Opernhaus Stuttgart
DVD „Die Kameliendame“: Deutsche Grammophon, Bestellnr. 00440 073 4320