
„Schwanensee“ als Psychogramm von Prinz Siegfried, in der Fassung von Ray Barra beim Bayerischen Staatsballett getanzt: Jinhao Zang, Prisca Zeisel und Emilio Pavan in Aktion. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Wilfried Hösl
Er hob den Arm, legte den rechten Handrücken an die Stirn, beugte sich sanft, die Bewegung seitlich öffnend, zurück – und machte ein melancholisch bekümmertes Gesicht: Ray Barra war der erste Ballerino, der Ende der 60er-Jahre die heute weltberühmte Partie des „Onegin“ von John Cranko mit der legendären Weltschmerz-Geste tanzte. Jetzt ging er zu den Sternen, im Alter von 95 Jahren, am 26. März 25: lange nachdem der in den USA geborene Sohn spanischer Einwanderer bewiesen hatte, dass er nicht nur als Tänzer und Muse, sondern auch als Ballettmeister, Ballettdirektor und vor allem auch als Choreograf begabt und souverän war. Das Bayerische Staatsballett hat seinen „Schwanensee“, seinen „Don Quijote“ und seine Version von „Raymonda“ im Repertoire. Und dem heutigen Staatsballett Berlin schenkte er mit „Die Schneekönigin“ nach Musik von Alexander K. Glasunow an der Deutschen Oper Berlin in den 90er-Jahren ein Juwel an klassisch-moderner, psychologisch hintergründig gestalteter Märchenwelt. Man würde gerade dieses Stück gern wieder sehen. Das Griechische Nationalballett in Athen hat es übrigens auch im Repertoire. Die eigentliche tänzerische Heimat für Ray war indes das Stuttgarter Ballett – im soeben als DVD erschienenen Spielfilm „Cranko“ von Joachim A. Lang wird er von Jason Reilly verkörpert.

Ray Barra in der Titelrolle im Pas de deux mit Marcia Haydée in „Onegin“ von John Cranko. Sie schrieben zu dritt Ballettweltgeschichte. Foto: Alo Storz
Schon bevor John Cranko als Ballettchef Stuttgart ab 1961 zum Ruhm führte, tanzte Ray Barra als ganz junger Mann dort. Und zwar als Erster Solist, schon seit 1959. Geboren wurde er am 3. Januar 1930 in San Francisco, wo er auch zum Tänzer ausgebildet wurde und seine Karriere begann. Sein Geburtsname war übrigens viel weniger geschmeidig als sein Künstlername: Raymond Martin Barallobre Ramirez. Nach frühen Stationen in New York und Kopenhagen tanzte er in Frisco als Solist, dann beim American Ballet Theatre, dann endlich in Stuttgart.
Für Cranko war er der vielseitigste seiner Solisten; nicht nur den „Onegin“ kreierten die beiden als Schöpfer und Tänzer, sondern auch den Romeo in „Romeo und Julia“, den Prinzen in „Schwanensee“ und den Zarewitsch im „Feuervogel“ (was übrigens noch ein Stück ist, das man gern mal wieder sehen würde, und zwar liebend gern in Crankos Fassung).
1966 riss dann bei einer Probe seine Achillessehne – was damals medizinisch nicht reparabel war. Ray Barra musste aufhören, Ballerino zu sein.
Kenneth MacMillan, der in Stuttgart mit Barra auch als Assistent gearbeitet hatte, holte ihn zu sich an die Deutsche Oper Berlin: als Ballettmeister. Später, von 1994 bis 1996, trat Barra an seine Stelle, als Ballettdirektor.

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Bis dahin hatte er für John Neumeier gearbeitet und in Madrid eine künstlerische Leitung übernommen. Erste Choreografien schuf er noch zu Crankos Lebzeiten – und Ray Barra war sich nicht zu schade dafür, Opern und Musicals mit Tanz zu bestücken.
Mit seinem Lebensgefährten Massimo Barra (der gebürtig Barra heißt) lebte Ray auf der Sonneninsel Marbella. Nur für Arbeiten wie das Einstudieren von „Las Hermanas“ von Kenneth MacMillan beim Bayerischen Staatsballett 2012 reaktivierte er seine Ballettkenntnisse.
Das Buch, das 2020 von Victor Hughes über ihn auf Englisch publiziert wurde, ist indes so oberflächlich, dass es nicht mal den Namen „Biografie“ verdient.

Ein schelmischer Prinz auch in der Ewigkeit: Ray Barra, fotografiert von Ken Bell.
Dass Ray Barra in Athen ein Stück mit Gedichten von Pablo Neruda und Musiken von Mikis Theodorakis kreierte, dieses aber nie den Weg in die westlicheren Ballettsphären fand, zeigt, dass auch er – bei allem Erfolg, den er für sich verbuchen konnte – nicht so anerkannt wurde, wie er es verdient hätte.
Sich darüber zu ärgern – davon war er wohl dennoch weit entfernt. Denn Rays Lebensgefühl war eher barock: Pflücke den Tag und liebe die Nacht! In Ewigkeit. Amen.
Gisela Sonnenburg
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