Der einzige „Schwanensee“ weltweit Das Bayerische Staatsballett eröffnet seine Saison am 9. September 2020 mit „Schwanensee“ von Ray Barra: in einer Corona-Version

"Schwanensee" beim Bayerischen Staatsballett

Ein einsamer, aber schöner Schwan am Schlosskanal in München – stimmungsvoll und symbolträchtig fotografiert von Anna Beke.

Lieben Sie „Schwanensee“? Welcher Ballettfan tut das nicht?! Die große Beliebtheit des abendfüllenden Handlungsballetts veranlasste Igor Zelensky, Ballettdirektor vom Bayerischen Staatsballett, von seiner Programmplanung aus Zeiten vor der Corona-Pandemie nicht abzurücken und am 9. September 20 die neue Saison mit „Schwanensee“ zu eröffnen. Weltweit dürfte es aktuell der einzige live getanzte „Schwanensee“ sein, zumal in klassischer Ausrichtung. Denn die zwei Dutzend Schwanenmädchen auf der Bühne, die normalerweise ebenso dazu gehören wie üppig besetzte Ballszenen, sind in Corona-Zeiten undenkbar, und auch die Technik und Kulissenarbeit erfordert normalerweise ein enges Beieinander von vielen verschiedenen Mitarbeitern backstage. Vor allem aber ist „Schwanensee“ an sich ein mächtiges Ballett, das knapp drei Stunden dauert und ohne Pause bislang nicht vorstellbar war. In München im Nationaltheater wird das jetzt alles ein bisschen anders sein, doch man strengt sich an, um tatsächlich einen majestätischen  „Schwanensee“ in der Version von Ray Barra nach Marius Petipa und Lew Iwanow zu zeigen – und keinen Ententeich, in dem vereinzelt ein paar Schwänchen vor sich hin dümpeln.

Eindreiviertel Stunden sollte man für die Aufführungsdauer als Zuschauer einplanen, inklusive einer Lichtpause, allerdings ohne Pause, um seinen Platz zu verlassen – wie es sich in Corona-Zeiten gehört. Schließlich sind die Abstandsregeln in den Foyers nur schwer zu kontrollieren.

Mit einem ausgeklügelten Hygienekonzept für die Künstler und weiteren Mitarbeiter hofft man, ein rundes Dutzend – also zwölf – tanzende Schwäne auf die Bühne zu bringen.

Für Highlights wird über Soli und Pas de deux hinaus gesorgt: Auch die beliebten vier Kleinen Schwäne und die beiden Große Schwäne sind eingeplant.

Und die Festszene zu Beginn wird mit immerhin zwei Damen und vier Herren aus dem Corps de ballet aufwarten.

Der Hauptakzent aber liegt – in der Inszenierung von Ray Barra ohnehin – auf der Entwicklung der Hauptfigur Siegfried:

"Schwanensee" beim Bayerischen Staatsballett

Auch 2009 tanzte das Bayeriersche Staataballett den „Schwanensee“ in der Version von Ray Barra, hier mit der edelmütigen Daria Sukhorukova als Odette / Odile und mit dem wandelbaren Marlon Dino als Prinz Siegfried. Das ausdrucksstarke Foto stammt von Charles Tandy.

Der traurige Prinz, der in Halluzinationen und Träume flüchtet und schließlich daran zu Grunde geht, ist für Ray Barra, dessen Version 1994 / 95 fürs Bayerische Staatsballett entstand, die eigentliche Kerngeschichte, Hintergrund und Hauptmotiv zugleich in „Schwanensee“.

Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, das Ende des Stücks zu gestalten und die beiden Welten – den Königshof, dem Siegfried entstammt, und die Mädchen am See, die unter der Herrschaft des bösen Zauberers Rotbart stehen – zusammenzubringen. Ray Barra entschied sich gegen ein Happy End und für den tragischen Ausgang.

Ray Barra: „Ich hatte immer das Gefühl, dass Rotbart gewinnt. Der Böse gewinnt, und der Gute stirbt.“ Siegfried stirbt in Barras Version, und das erinnert nicht zuletzt an die Stuttgarter Glanzversion, die von John Cranko stammt und die Ray Barra aus seiner Zeit als aktiver Ballerino kannte.

Ein Vergleich mit der Version von John Cranko, die Barra als junger Mann tanzte, lohnt sich sowieso allemal. Bitte hier mit einem Klick zum Nachlesen der ausführlichen Rezension des Stuttgarter Abends.

Das ballet blanc, das „weiße Ballett“, ist jedoch stets und in allen „Schwanensee“-Versionen typisch.

Barra hat hier die von Lew Iwanow für seinen Meister Marius Petipa choreografierten Teile übernommen. Sie sind weltbekannt und verströmen jenen erlauchten, hehren Glamour, den wir alle mit „Schwanensee“ als absolut prägend verbinden.

1895 premierte diese Version, von Petipa und Iwanow choreografiert, am Mariinski-Theater in Sankt Petersburg. Und sie war erfolgreich, seither grassiert unter Ballettomanen wie unter nur gelegentlichen Ballettfreunden die „Schwanensee“-Manie.

Auch wenn die Uraufführung vom „Schwanensee“ 1877 in Moskau am Bolschoi-Theater (ohne Petipa und Iwanow!) das war, was wir heute einen Flop nennen – Fakt ist: Man kann dieses Stück gar nicht oft genug anschauen, jedes Mal, und in verschiedenen Inszenierungen und Besetzungen erst recht, ergeben sich neue Details, die den Blick halten und die Sinne fesseln.

Das Publikum vom Bayerischen Staatsballett kennt denn auch außer der Version von Barra die für Bayern besonders stichhaltige Modernisierung des Stücks durch John Neumeier. Sie entstand 1976 fürs Hamburg Ballett (damals: Ballett der Hamburgischen Staatsoper) und ist unter dem Titel „Illusionen – wie Schwanensee“ auf das Schicksal des schönheitsliebenden und homosexuellen Königs Ludwig II. von Bayern gemünzt.

Ray Barra, der von 1973 bis 1976 in Hamburg als Ballettmeister für Neumeier gearbeitet hat, kennt auch diese Version par excellance.

Für seine eigene Stückfindung ging er allerdings zurück zu den ursprünglicheren Libretti des „Schwanensee“ – und sah in Siegfried den Prototyp eines unglücklichen, unter seiner gesellschaftlich hohen, sozial aber unbefriedigenden Stellung leidenden jungen Mannes.

Die Melancholie in der Musik vom „Schwanensee“ gibt ihm darin Recht.

Sie stammt von Peter I. Tschaikowsky, dem bedeutendsten Ballettkomponisten überhaupt. „Dornröschen“, „Nussknacker“ und eben „Schwanensee“, aber auch seine Opern und später für Ballette wie „Onegin“, „Serenade“ und „Jewels“ verwendete Musiken machen Tschaikowsky zu einem unersetzbaren Heroen der großartigsten Klänge, für klassische wie moderne Choreografien gleichermaßen geeignet.

Ray Barra hat selbst die Titelfigur „Onegin“ in der Kreation von John Cranko in Stuttgart nicht nur getanzt, sondern auch uraufgeführt. Und John Neumeier saß, als junger Tänzer, dabei mit im Ballettsaal. Der Dandy Onegin, der ohne mit der Wimper zu zucken andere ins Unglück stürzt, ist so ziemlich das genaue Gegenteil von Prinz Siegfried aus dem „Schwanensee“. Wo der Erstgenannte egoistisch und hedonistisch handelt, agiert der Zweite weich und einfühlsam, labil und ergeben.

Heute, als älterer Herr, kann Ray Barra (Geburtsjahrgang 1930) gelassen auf sein Werk zurückblicken. Viele Jahre schon lebt er mit seinem Lebensgefährten Massimo Barra – der im Gegensatz zu dem als Raymond Martin Barallobre Ramirez geborenen Ray Barra tatsächlich auch bürgerlich von Geburt an Barra heißt – auf der Sonneninsel Marbella. In seiner zweiten Lebenshälfte arbeitete Ray vor allem freiberuflich, womit er sich den Stress der Führung einer Compagnie und der Gestaltung von Spielplänen ersparte.

Zuvor allerdings leitete er sowohl in Madrid als auch in Berlin große Ballettcompagnien, bewährte sich bis 1997 als Macher, der auch für viele andere mitzudenken weiß.

Zu der bayerischen Idee, seinen „Schwanensee“ nun in einer reduzierten Version aufzuführen, die den Corona-Schutzmaßregeln Rechnung trägt, gab er denn auch sofort sein Einverständnis.

Das Ballett, in dem Blau und Weiß die vorherrschenden Farbeindrücke sind, wird ein anderes sein als gewohntermaßen zu sehen.

"Schwanensee" beim Bayerischen Staatsballett

Auch ein unvergleichliches Paar, von den Fans unvergessen: Lucia Lacarra und Cyril Pierre in Ray Barras „Schwanensee“ beim Bayerischen Staatsballett. Charles Tandy fotografierte sie wie für die Ewigkeit, einige Jahre, bevor sie das Haus verließen.

Man wird von einigen Eindrücken absehen müssen, andere dafür umso intensiver aufnehmen können.

Ballettmeister Thomas Mayr vom Bayerischen Staatsballett verspricht: „Das Wesen des Werkes bleibt erhalten.“

Die magischen 32 Fouettés, die die weibliche Hauptrolle im Kostüm der Odile, des schwarzen Schwans, zu tanzen hat, werden denn auch weiterhin eine brillante Miniserie von Höhepunkten darstellen.

Marius Petipa ersann sie speziell für die italienische Starballerina Pierina Legnani und fügte sie darum einige Jahre nach der Premiere in seine Choreografie ein. Pierina war Expertin für schwierige Pirouetten, und Petipa nutzte ihre technischen Fähigkeiten, um den Ausdruck von Zauber und Hexenkraft mit den fortlaufenden Drehungen in einer Hoch-runter-Hoch-Bewegung zu verbinden.

Bis heute wirken diese Pirouetten – in den letzten Jahrzehnten werden sie zusätzlich gern durchsetzt von Doppelpirouetten – atemberaubend.

Aber auch die anschließende Serie von Drehungen à la seconde, bei der Prinz Siegfried sein Spielbein im Neunzig-Grad-Winkel seitlich hält, während er seriell pirouettiert, ist immer wieder ein Anlass für die Fans, vor Begeisterung rasenden Szenenapplaus zu spenden.

Wer nun die Besetzung bei dieser so besonderen Aufführung am 9. September 20 in München sein wird? Davon lassen wir uns gerne überraschen.

In Frage kommt vor allem das Paar des geschmeidigen Yonah Acosta als Siegfried (er wäre der erste dunkelhäutige Siegfried in München und würde der aktuellen Campagne „black lives matter“ sicher einen schönen ballettösen Drive verleihen) mit seiner Gattin Laurretta Summerscales als Odette / Odile, aber ebenso auch das ebenfalls privat verbandelte Paar Jonah Cook als Siegfried mit Ksenia Ryzhkova in der sagenumwobenen weiblichen Doppelpartie.

Allerdings proben, wie schon im Frühjahr, die Paare Prisca Zeisel als Odette / Odile mit Jinhao Zhang als Siegfried und Laurretta Summerscales mit Emilio Pavan an ihrer Seite. Das Hygienekonzept macht’s möglich.

Nun weiß man aber, dass Premieren und Wiederaufnahmen immer auch eine Superüberraschung sein können!

Ksenia wurde übrigens 1994 in Moskau geboren, in jenem Jahr, in dem Ray Barra an der Arbeit seines „Schwanensees“ in München begann. Zusammen mit Cook tanzte sie bereits früher beim Bayerischen Staatsballett, wechselte dann nach Zürich zu Christian Spuck und kehrt mit Beginn dieser Spielzeit nach München zurück.

Es wäre also ein Wiedersehen nach längerer Zeit der Abwesenheit – aber das bedeutet der kommende „Schwanensee“ in München ohnehin.

Denn seit dem 10. März 2020 – es war eine Vorstellung von „Portrait Wayne McGregor“  – hob sich der Vorhang im Nationaltheater nurmehr für Online-Tänze oder experimentelle Einzelprogramme, nicht aber für große Stücke wie eben „Schwanensee“.

Das Corona-Virus Covid 19 sorgte für die lange Unterbrechung, sogar für eine vorgezogene Sommerpause, um jetzt auch für ein reduziertes Zuschaueraufkommen verantwortlich zu sein.

Nur wenige Hundert Sitzplätze dürfen derzeit besetzt werden, der aktuelle Stand: 200 Zuschauer sind bei den 2100 Plätzen im Nationaltheater, dem Münchner Opernhaus, erlaubt.

Das ist ein extremer Kontingentschwund, extremer als in anderen Bundesländern, aber das muss als positives Zeichen begriffen werden, denn es dient der Sicherheit von allen Beteiligten. Der Begriff der Rentabilität muss hier außen vor bleiben.

Wofür, wenn nicht für solche Notlagen, gibt es die staatliche Subvention von hochkarätiger Kultur?!

"Schwanensee" beim Bayerischen Staatsballett

So viele Schwäne werden im Corona-Zeitalter nicht auf der Bühne sein können, aber auch beim kommenden „Schwanensee“ mit dem Bayerischen Staatsballett wird man auf das typische, mädchenhaft-elegante Schwanenflair nicht ganz verzichten müssen. Das mitreißende Foto stammt von Meisterfotograf Charles Tandy.

Wichtig ist, dass etwas stattfindet, das mit den ursprünglichen Aufgaben von Kunst zu tun hat und diese ohne Gesundheitsgefährdungen von Mitwirkenden oder Zuschauern wahrgenommen werden können.

Die bayerische Polizei ist dennoch hellwach – sie trat, wir wissen das, am 31. März 2020 im Ballettsaal vom Bayerischen Staatsballett auf den Plan, weil damals dort, als bereits der große Lockdown das Land im Griff hatte, unverdrossen weiter trainiert und geprobt wurde.

Zum Bericht über diesen in der deutschen Ballettgeschichte ziemlich einmaligen Vorgang geht es bitte hier auf Klick.

Der aktuell angefragte Polizeisprecher Peter Werthmann hat den spektakulären Einsatz noch gut in Erinnerung. Er hofft – ebenso wie die bayerische Fangemeinde – dass die Münchner Polizei wegen dem angekündigten „Schwanensee“ nicht erneut ins Ballett kommen muss. Toitoitoi!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett.de

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