Was wäre das Leben ohne „Schwanensee“?! Wie eine religiöse Legende bringt dieses Ballett zur Musik von Peter I. Tschaikowsky den Begriff der poetischen Dramatik auf den Punkt. Ein junger Mann sträubt sich darin gegen die Probleme, die ihm die Realität aufbürdet – und er flüchtet in eine Welt der Schönheit, der Unschuld, der Magie. Aber auch hier wartet großes Leid auf ihn, und die Liebe allein könnte die Rettung sein. Nicht nur für ihn… John Cranko legt in seiner 1962 kreierten, zehn Jahre später leicht überarbeiteten Version des Kunstmärchens vom unglücklichen Prinzen und den verzauberten Schwanenmädchen den Akzent auf das Seelenleben des Prinzen Siegfried. Friedemann Vogel verleiht der Partie beim Stuttgarter Ballett alle Facetten eines großen Tragöden – und zudem vor Anmut nur so strotzende Sprünge und Ports de bras. Aber auch Odette, die Schwanenprinzessin, zeigt bei Cranko etwas, das es sonst nicht im „Schwanensee“ gibt: fast realistische seelische Schmerzen, eingefasst in weniger strenge als vielmehr fließend-organische, animalisch inspirierte Bewegungen. Alicia Amatriain brilliert als Sinnbild femininer Stärke und weiblicher Passion.
Er war ja ein Schelm, der Begründer des Stuttgarter Ballettwunders, also John Cranko (1927- 1973), nach dem übrigens im Althoff Hotel am Schlossgarten gegenüber dem Stuttgarter Opernhaus nicht nur die gestylte Bar, sondern auch ein hühnerfleischlastiges Clubsandwich benannt ist.
Cranko verließ sich indes nie auf althergekommene Muster des Erfolgs am Theater, sondern erfand stets eigene, auch eigenwillige, dennoch nachvollziehbar-verständliche Verhaltensmuster seiner Figuren.
Als er 1963 seinen „Schwanensee“ beim Stuttgarter Ballett choreografierte, war er noch nicht der erfolgsverwöhnte Superstar internationaler Couleur. Er war mal gerade eben Ballettdirektor geworden und stand im Begriff, aus der soliden, aber nicht weltbewegenden Stuttgarter Truppe ein Ensemble zu machen, das dauerhaft einen historischen Stellenwert erhielt.
Mit dem „Schwanensee“ gelang ihm das nicht nur in Deutschland, sondern auch beim ersten Gastspiel in die USA, das er mit seinen Tänzern unternahm. Es war sozusagen der internationale Durchbruch, als nach einer Aufführung in New York der Kritiker Clive Barnes in entzückte Lobeshymnen ausbrach.
Seither ist das Stuttgarter Ballett eine Marke, ein Qualitätszeichen, und auf jede Vorstellung – zumal der Cranko-Ballette – darf man gespannt und neugierig sein.
Der erste Kunstkniff, den Cranko im „Schwanensee“ vorführt, ist, das Libretto zu verfeinern.
Wenn sich der Vorhang hebt, wähnt man sich eher im romantischen Ballett „Giselle“ als im klassischen „Schwanensee“. Denn statt der Volljährigkeitsfeier im Palast nach höfischer Etikette lässt der in Südafrika geborene, in England ausgebildete Choreograf seinen jungmännlichen Helden natur- und volksverbunden den Abschied seiner unbeschwerten Jünglingszeit mit Bauern und Bürgern mitten in der freien Natur feiern.
Das Corps tanzt in bäuerlicher Tracht, in sanften Farben – und die Mädchen tragen keine Spitzenschuhe, sondern verleihen der Szenerie etwas Romantisch-Bäuerliches, als kämen sie direkt aus einer groß angelegten Malerei, die das Landleben verherrlicht.
Jürgen Rose schuf hier eine seiner unverzichtbaren, zeitlos passenden Ausstattungen.
In Roses dem Teint schmeichelnden, warmen Sand- und Brauntönen – mit viel Elfenbein- und etwas Ebenholznuancen – entwirft Cranko hier sein Idealbild einer Gesellschaft. Man ist unkompliziert und freundlich, tanzt miteinander, bemüht sich, das Leben miteinander in Fröhlichkeit und Sanftmut zu verbringen.
Heiterkeit als das Leben selbst!
Man versteht, warum sich Prinz Siegfried hier wohl fühlt.
Zumal er unter seinen Untergebenen uneingeschränkt der Ranghöchste ist – und er, anders als am Hof seiner herrschsüchtigen Mutter, keine sinnentleerten Unterwerfungsrituale zu fürchten hat.
Aber das Herz geht einem auf, wenn Friedemann Vogel hier den Prinzen tanzt, der sich frei und sorglos fühlt – und zugleich doch weiß, dass die Zeit der unbeschwerten Jugend vorbei ist.
Seine hohen Sprünge – nicht nur, aber auch Grands jetés darunter – bezaubern mit wirbeliger Leichtigkeit und gleichmäßigem Nachstrecken in der Luft, sodass vollendet der Eindruck von Schwerelosigkeit und Flugkraft erweckt wird.
Sein Freund Benno – sehr stark, elegant und geschmeidig: David Moore, der übrigens in der Alternativbesetzung mit der schönen Anna Osadcenko die Hauptpartien tanzt – sowie vier weitere Jungs bilden das Gefolge des Prinzen: in neckischen Jägerkostümen mit Federn am Hut und heißblütiger Springlust in den Waden.
Ihnen hat Cranko aber auch Schritte und Sprünge zugeschrieben, die sonst üblicherweise den Solisten und Ersten Solisten zugeeignet sind: Grandiose Pirouetten à la seconde sowie en attitude und auch Tours en l’air.
So schuf sich John Cranko – wie er es später auch in „Onegin“ tat – eine demokratische Utopie auf der Bühne.
Er stellt dabei eine Gesellschaft mit mehreren Generationen vor, in der jede und jeder seinen Platz hat, ohne die anderen verdrängen zu wollen. Und auch die nicht ganz oben in der sozialen Hierarchie Angesiedelten erhalten hier ihre Chancen, mit Virtuosität aufzufallen.
Der erste Akt von „Schwanensee“ illustriert solchermaßen das – realistisch aufgemachte – Cranko’sche Idyll. Zugleich ist es eine Gegenwelt sowohl zum heimischen Palast des Prinzen als auch zur verzauberten Seenwelt der Schwäne.
Timoor Afshar, Adrian Oldenburger, Daniele Silingardi und Noan Alves bewähren sich darin blendend und tanzen – mit David Moore als Benno – herrlich ungestüm und doch ballettös diszipliniert. Junge Männer als Kern und Triebkraft der Gesellschaft – das ist nicht eben feministisch, aber hier wunderbar vital anzuschauen.
Und auch die Damenwelt zeigt Temperament.
Hyo-Jung Kang, die hoch begabte Erste Solistin, führt mit edlen Linien den Reigen so genannter „Bürgerinnen“ an, die allesamt in Spitzenschuhen das freundlich-gehobene Flair dieser Wunschgesellschaft illustrieren.
Es ist, als seien hier fünf Olgas aus „Onegin“ aufmarschiert, in hellen, spitzenbesetzten Sommerkleidern sowie mit sorgsam-anmutigem Tanz eine Augenweide.
Angelina Zuccarini, Veronika Verterich, Fernanda De Souza Lopes und Miriam Kacerova repräsentieren solchermaßen den weiblichen Mittelstand: voll Hoffnungs- und Glücksgefühlen.
Als tanzendes Paar dürfen Hyo-Jung Kang und Friedemann Vogel zudem eine moderne Beziehung im Adagio anklingen lassen:
Mit Verve dreht er sie, hebt sie, führt sie im Kreis, während sie ihr Spielbein in typischen „Schwanensee“-Posen „sprechen“ lässt, so mit dem Penché auf Zehenspitzen. Es ist das perfekte Leben zu zweit, das die beiden hier in sonniger Stimmung zelebrieren, und dabei geht es nicht um Liebe im Sinne von Verliebtheit, sondern um eine freundschaftliche Zuneigung, aus der vielleicht, aber nicht unbedingt mehr werden könnte.
Hervorhebenswert auch die Ports de bras und Cambrés der Tanzenden – mit ihnen flechten die Protagonisten viel Poesie in den scheinbar simplen, doch so verzwickten Pas de deux.
Cranko traf mit einem solchen Paartanz den Nerv seiner Zeit: Die Sechziger und Siebziger des letzten Jahrhunderts galten der sexuellen Revolution, und sogar in äußerst (klein-)bürgerlichen Verhältnissen weichten die standardisierten Rollenklischees und Erwartungshaltungen an Partner auf.
Zwei Dinge sind hier an der Choreografie bemerkenswert:
Zum Einen die bewusste Antizipation der originalen Lew-Iwanow-Choreografie der später erfolgenden „weißen Akte“ vom „Schwanensee“ (die 1894/95 am Mariinski Theater in Sankt Petersburg premierten). Spielerisch und fast nur in Posen und Sprüngen, weniger in Hebungen, wird hier tänzerisch zitiert.
Zum Zweiten aber fällt auf, wie raffiniert John Cranko hier moderne und traditionelle Tanzarten verschmolz. Da finden sich klassische Schrittkombinationen, in die unvermittelt moderne Bewegungen eingefügt sind, quasi nahtlos.
Frischer und weniger steif, expressiver und weniger formalistisch als andere „Schwanensee“-Varianten wirken diese Passagen. Und wenn vom einen Spitzenschuh auf den anderen Spitzenschuh gehüpft wird, dann hat das hier zugleich eine so moderne wie auch klassische Anmutung.
Auch der Gruppentanz der Mädchen („Bürgerinnen“) lebt von einer eigenen Geschmacklichkeit, die sich im Original-„Schwanensee“ so gar nicht finden lässt. Eine feine Melancholie durchwirkt hier ein Adagio, als sei es das tänzerische Abschiednehmen von der Kindheit, das die jungen Mädchen hier vornehmen.
Zum Thema der anstehenden Volljährigkeit Siegfrieds passt das natürlich haargenau, ohne langweilig oder eintönig zu werden.
Aber auch an grotesk-komische Elemente hat Cranko gedacht.
Wolfgang, den Erzieher des Prinzen, zeichnet er als närrischen, versoffenen Komiker, der mit aufgeschnalltem Bierbauch und dick aufgetragener Gestik direkt aus einem Volkstheaterstück stammen könnte.
Louis Stiens hat genügend Humor und Talent, um diese Rolle köstlich mit Persönlichkeit trotz ihrer Überzeichnung zu füllen. Ist es nicht ein anderer Sancho Pansa (aus „Don Quixote“), der hier die Lacher erntet?
Und noch ein Ballett-Zitat bewegt die Herzen der Kundigen: eine alte Frau, vom Morbus Bechterew tief gebeugt, trägt ein Kopftuch und wirkt ganz wie die alte, böse, stets en travestie besetzte Hexe Madge aus „La Sylphide“, die die Liebenden ermordet.
Hier aber ist es eine gutmütigere Variante der unheimlichen alten Frau. Sie liest den jungen Mädchen die Zukunft aus den Handlinien und weiß damit selbstredend auf unterhaltsame Art heftige Emotionen hervorzulocken.
Doch da tritt die Königin auf, in einer Kostümmode à la Elisabeth I., mit steifem Spitzenstehkragen und einschnürendem Renaissance-Korsett.
Streng ist sie und gebieterisch, und Melinda Witham muss zudem dem unwiderstehlichen Siegfried von Friedemann Vogel nichts als Zügel anlegen! Sie verbietet ihrem Sohn nämlich den ungehemmten Umgang mit den niederen Ständen – sie demütigt ihn und zieht sich erst wieder zurück, nachdem er klein beigab und für die Zukunft „Besserung“ gelobte.
Ein dubioser Berater der Königin (Sven Waibel), der nicht zufällig mit Rasputin Ähnlichkeiten aufweist, wiegelt die Majestät noch zusätzlich gegen ihren Sohn auf – einfach durch körperliche Präsenz, die eine gewisse Erwartung ausstrahlt.
Im Abendrot – das Licht ahmt die roséfarbene Errötung des Horizonts nach – ist Siegfried allein mit sich, der Natur und seinen kruden Gedanken, die ihn gar nicht zukunftsfreudig stimmen.
Das Leitmotiv der Schwäne erklingt zum ersten Mal hier – es gehört ganz den Sehnsüchten des Prinzen.
Da sieht er – und nur er – einen Schwarm Schwäne fliegen, und sein Blick wie sein Zeigefinger folgen diesem Flug: ins Publikum hinein, übers Publikum hinweg und über die seitlichen Kulissen.
Für den jungen Mann ist der imposante Eindruck der Tiere ein Zeichen des Schicksals: So rein und unschuldig wie diese edlen Wasservögel möchte er sein, ihre Aura zieht ihn magisch an. Er folgt ihrem Flug wie einem geheimen Signal.
Und bald wird er vermisst. Mit Laternen wird nach Siegfried gesucht, ein Gewusel wie in einem Kostümfilm ist es auf der Bühne – und Benno kommt schließlich mit der Armbrust, ein tatkräftiger und furchtloser Jäger.
Am See steht eine antike Tempelruine, eine Art Pergola. Ausstatter Jürgen Rose hat akkurat gearbeitet und das von Cranko gewünschte Zeitkolorit der Renaissance im deutschen Sprachraum aufgegriffen. Tatsächlich gab es damals, zumal südwestlich des Rheins, noch etliche Relikte aus der Zeit der römischen Herrschaft.
Aber auch die Atmosphäre des Bühnenbildes stimmt hier bis aufs kleinste Detail. Romantik dräut aus allen Fugen – ebenso der Wildwuchs der Natur, den die insgesamt dunkel und geheimnisvoll gehaltenen Kulissen bebildern.
Im Hintergrund des Sees ist ein Berg zu sehen. Man könnte an den Bodensee denken. Andererseits ist es untypisch, dass nur ein Berg am See zu sehen ist. Aber auf ein bekanntes Gebirge, etwa die Alpen, weist der Horizont nun wieder auch nicht hin. Einigen wir uns auf ein Irgendwo, das im Heiligen Römischen Reich in der Ära der beginnenden Neuzeit (Renaissance) angesiedelt ist.
Schwäne ziehen auf dem See vorbei.
Und da – eine Schwanenfrau erscheint, ein Zwitterwesen, halb Tier, halb Mensch, von wundersamer Gestalt und großer anziehender Schönheit.
Ah! Alicia Amatriain verströmt solchermaßen im federnen Tutu unter Silberkrone und Schwanenreif im Haar den anrührenden Impetus der um Hilfe suchenden Schwänin.
Sie trippelt, als sei das ihre natürliche Fortbewegungsart, und das stilisierte Flattern der Flügel – also das ellenbogengesteuerte, geschmeidige Auf und Ab der Arme – scheint sie flatternd über die Bühne zu tragen.
Kein Wunder, dass Siegfried sofort von ihr vereinahmt ist.
Und schon ist er verliebt, stürmt auf sie zu, bittet gar nicht lange zum Tanz, sondern ist sofort ihr Pas-de-deux-Partner.
Es gibt keine Pantomime hier à la „Ich war eine Prinzessin, wurde von Rotbart entführt, und die Tränenflut meiner Mutter ließ den See hier entstehen“. Aber der Dialog der beiden Verliebten übermittelt sich auf vielschichtige Weise. Odette erklärt Siegfried, dass sie von Rotbart entführt und verzaubert wurde, dass sie eigentlich eine Prinzessin ist und jetzt als Gefangene leben muss. Nur die reine, starke Liebe eines Mannes könne sie – und auch gleich ihre Leidensgefährtinnen, die anderen Schwäne, mit – retten und dauerhaft zurückverwandeln, ja sogar aus den Fängen Rotbarts befreien.
Übrigens liebt auch Odette, die Schwanenprinzessin, sofort diesen jungen Mann, während sie in den russischen Originalballetten zunächst nur um ihre Freiheit und Erlösung bittet und sich nur ganz langsam, Schritt für Schritt emotional für Siegfried öffnet.
Auch stilistisch ist der Tanz hier bei Cranko längst nicht so streng und stilisiert, längst nicht so strikt wie bei Lew Iwanow. Vielmehr fließen die Bewegungen von Alicia Amatriain von einer Pose in die andere, und vorrangig ist dabei nicht die Form an sich, sondern ihr gefühliger Ausdruck.
Leidend wie hoffend – das sind die Farben des weißen Schwanentanzes, die hier die seelische Wirklichkeit einer jeden unterdrückten Frau bebildern.
Das Verständnis, das Siegfried diesem seltsamen Wesen – immerhin handelt es sich ja um eine Schwanenprinzessin – entgegen bringt, hat mit seiner entflammten Liebe zu tun. Er ist ja kein Wissenschaftler oder Jäger, anders als in anderen „Schwanensee“-Versionen trägt er hier auch keine Armbrust mit sich. Siegfried bei Cranko ist ein emotional bedürftiger Mensch, jemand, der aus seinem Alltag ausbrechen und in eine wahrhaftigere, gefühlsstärkere Welt eintauchen möchte.
Die Liebe zu Odette ist der Eintritt Siegfrieds in diese Sphären.
Doch Rotbart kommt, der böse, mächtige Herrscher hier am See, er ist bei Cranko wie ein Militär mit Helm und Federbuschen ausgestattet und insofern auch ein rabiater Mensch statt nur ein Zauberer. Mit seinem riesenhaften Umhang wedelnd, ist er ein Anblick des stilvollen Grauens – und die schöne Schwänin muss sich ihm flugs fügen.
Matteo Crockard-Villa als Rotbart ist ganz der selbstsüchtige Machtmensch, der mit einem Vorrecken des Armes bereits deutlich machen kann, dass mit ihm ganz sicher nicht zu spaßen ist.
Da marschieren prompt die anderen verzauberten Schwäne auf, die zu nächtlicher Stunde bis zum Morgengrauen die menschliche Gestalt annehmen dürfen.
Und da gibt es eine Überraschung: Wir haben es jetzt mit einer modifizierten, vom Adagio ins Allegro gesetzten Choreografie des weißen Balletts aus „La Bayadère“ zu tun. Tatsächlich liegen hier die Wurzeln: Marius Petipa, der eigentlich das ganze Ballett choreografieren sollte und wollte, erkrankte und musste die weißen Akte, also die Szenen mit den weißen Schwänen, seinem Assistenten Lew Iwanow überlassen.
Der wiederum hatte die Anweisung, den Auftritt der „weißen Schatten“ in „La Bayadère“ zum Vorbild für die Schwanenchoreografie zu nehmen. Oft genug wird dieser Zusammenhang vergessen, denn der „Schwanensee“ hat im Laufe der Zeit eine richtige Eigendynamik entwickelt. Hier aber ist dank Cranko der historische Kontext wieder erlebbar, und dass die Ästhetik zudem besticht, wenn die jungen Mädchen solcherart auf die Bühne kommen, muss wohl nicht extra gesagt werden.
In einer schier endlosen Reihe mit einigen Serpentinen kommen die langbeinigen Vogelwesen aus dem See nach vorn. Die Schwäne rücken an, nicht langsam und in Zeitlupe wie die poetischen „weißen Schatten“, sondern hurtig und mit dem aufgeregten Impetus der aufgescheuchten Flatterwesen.
Ein betörender Anblick – flirrend und voll von gemischten Gefühlen, von Trauer und Angst über Geduld bis zu Hoffnung, in jedem Fall aber von großer Erhabenheit unterfüttert.
Da aber taucht Benno mit der Armbrust auf!
Er ist überrascht von diesen Schwanenfrauen, er lässt die Waffe zunächst sinken und sich von den Schwänen umzingeln, er ist ratlos.
Doch dann findet er heraus aus dem weißen Chaos, überlegt, was zu tun sei – und handelt stumpfsinnig-realistisch, indem er die Armbrust anlegt und auf die Vogelmädchen zielt…
Gerade noch rechtzeitig erscheint Siegfried und nimmt dem Freund und Untertan die Armbrust aus der Hand.
Erneut setzt jetzt ein aufgeregter Tanz der Schwäne ein, und wieder (wie schon im ersten Akt) durchwirkt Cranko die traditionelle Choreografie mit wenigen, aber auffallenden modernen Elementen.
Als die Schwanenmädchen links und rechts auf der Bühne im anmutigen Spalier stehen, erklären Siegfried und Odette einander im Pas de deux ihre Liebe. Die ruhige, eindringliche Art der Iwanow’schen Linien ist beibehalten.
Aber Cranko fügte einen Ausdruck hinzu, der aus Odette eine ganz normale Frau und aus Prinz Siegfried einen ganz normalen Mann macht. Ist es nicht schön? Diese beiden Außenseiterfiguren, die kaum Chancen hatten, jemals jemanden zu finden, der zu ihnen passt, erblühen im liebevollen Miteinander, und aus dem zuvor von der Choreografie her etwas steifen Schwan wird ein geschmeidiges, erotisches Mädchen, während der junge Mann, der eben noch schlecht gelaunt am Sinn des Lebens zweifelte, sich jetzt höchster Glücksgefühle erfreut.
Die Kraft der Liebe ist der Anfang von allem – und auch das absolute Ende, wenn man sie zuende denkt.
Für John Cranko stand jedenfalls schon aufgrund der tragisch-pathetischen Unterklänge der Partitur Tschaikowskys fest, dass es sich um eine Tragödie handeln musste. Dennoch wird der „Schwanensee“ durchaus auch überzeugend manchmal mit einem Happy Ending aufgeführt. Die Version von Vladimir Bourmeister (1953) erfreut sich bis heute großer Beliebtheit, und seit Svetlana Zakharova und Roberto Bolle sie mit dem Ballett der Mailänder Scala auf Video bzw. DVD bannten, gibt es vor ihr kein Entrinnen mehr. Man muss sie kennen – zum Vergleich.
Ebenfalls sollte man die DVD „Illusionen – wie Schwanensee“ mit der Version von John Neumeier zum Vergleich ins Auge fassen. Vor allem gen Stückende zeigt sich, dass Crankos Version hier ein Vorläufer ist und manche seiner bildnerischen Ideen von Neumeier aufgegriffen und weiter entwickelt wurden. Eine weitere Verbindung zwischen den beiden Versionen ist der in beiden Fällen zum Zuge gekommene Ausstatter Jürgen Rose – von ihm stammt auch die Idee, das Stück, so in Neumeiers Version, in Schloss Neuschwanstein anzusiedeln.
John Cranko wollte sich auf solch ein Experiment nicht einlassen, zumal er seinen „Schwanensee“ zeitlich in der frühen Renaissance ansiedelt und keinesfalls in der Belle Époque.
Beim Liebes-Pas-de-deux zwischen Siegfried und Odette spielt das historische Flair der frühen Neuzeit indes keine Rolle. Sie tanzen keine Pavane, sondern einen Paartanz, der im 19. Jahrhundert grundlegend von Iwanow kreiert wurde. Cranko, der sich derweil auf verschiedene historische Fassungen beruft, nahm sich dazu noch die Freiheit, hier und da durch emotionsfördernde Eingriffe kleine Änderungen vorzunehmen.
Aber auch seine Schwäne wollen sich mitteilen, sie wiegen sich in sanften Hüpfern, posieren mit akkurat synchron gestylten Frozen moments.
Die vier Kleinen Schwäne tanzen ihre berühmte Einlage, dann die beiden Großen Schwäne.
Paula Rezende, Aiara Iturrioz Rico, Fernanda De Souza Lopes und Angelina Zuccarini sind die Kleinen, Miriam Kocerova und Rocio Aleman die Großen.
Erneut setzt der kollektive optische Schwanengesang ein, bis Rotbart die Nacht für beendet erklärt.
Odette trippelt, mit dem schön geformten Rücken zu uns, nach rechts in die Kulissen, sichtlich von Angst getrieben, während Siegfried vorn an der Rampe auf bessere Zeiten wartet, auf eine Möglichkeit, seine Schwänin in seine Menschenwelt zu holen – bis der Vorhang fällt.
Der zweite Akt ist zuende. Gibt es Hoffnung?
Der dritte Akt spielt nun endlich im Palast der Königin.
Jürgen Rose schuf ein hehres Burginneres, im Renaissance-Stil und mit einer Galerie, mit kerzengeraden Leuchten sowie mit Säulen in jeder Größe ausgestattet. Prunk und Protz, Machtdemonstration und Ästhetik gehen hier eine aufreizende Verbindung ein.
Zentral zeigt eine orangerote Treppe am Bühnengrund an, wer gerade ein- und also auftreten will. Acht kindliche Pagen stehen hierfür bereit und halten Trompeten in den Händen. Die Musik kommt allerdings weiterhin aus dem Orchestergraben.
James Tuggle dirigiert mit sicherer Hand das Staatsorchester Stuttgart; der gebürtige Amerikaner hat, als langjähriger Musikdirektor des Stuttgarter Balletts (seit 1997 ist er es), sehr viel sozusagen einschlägige Erfahrung vor Ort. Er betont die Kontraste, reizt die sanften und die heftigen Pole der Musik voll aus. Gen Ende wird es darum ein immer stärker werdendes harmonisches Inferno geben…
Jetzt aber, im dritten Akt, zählt noch die Sorglosigkeit des Augenblicks.
Weil Siegfried sich eine Braut erwählen und sie auch gleich heiraten soll, haben sich die Adligen um seine königliche Mutter und ihren Ratgeber versammelt – und die eintreffenden Gäste bestehen aus von der Königin eingeladenen Prinzessinnen mit ihrem Gefolge, die jeweils die Folkloren ihres Landes vortanzen.
Eine Ausrichtung des Reiches in Richtung Osten oder Süden ist dabei offenkundig der Wunsch der Mutter. Man erkennt es an den von ihr ausgewählten geladenen Prinzessinnen, von denen eine als Schwiegertochter reüssieren soll. Sie kommen aus Ungarn und Russland sowie aus Spanien und Italien.
John Cranko hat, logisch folgerichtig, die deutschen Namen des Librettos – vor allem Siegfried als Helden – zur Lokalisation des Landes, in dem unsere Geschichte spielt, genutzt. Es ist also der deutsche Sprachraum, das deutsche Kaisertum, damals Heiliges Römisches Reich (deutscher Nation) genannt.
Anzumerken ist, dass – wie in „Giselle“ – die weibliche Heldin mit Odette / Odile einen bzw. sogar zwei französische Namen trägt, was auf eine Region im Grenzland hinweist. Da Odette von Rotbart gekidnappt wurde, kann man im modernen Sinn von organisierter, internationaler Kriminalität sprechen.
Die Deutung der Schwäne als sexuell missbrauchte Mädchen (etwa auch zur Zwangsprostituion gezwungen) ist denn auch schlüssig und nicht zu widerlegen – gerade die auffallende Darstellung der Schwäne als besonders rein könnte auf ihren Opferstatus hinweisen, der Beschmutzung durch den Täter Rotbart bewusst zum Trotz. Kinderbordelle und Salons mit Jungs gab es zudem auch schon zu Tschaikowskys Zeiten.
Warum Rotbart eigentlich Rotbart heißt? – Wahrscheinlich ist diese Namensgebung für einen Bösewicht eine ironische Anspielung auf den Mythos der Deutschen, Kaiser Barbarossa (dessen Name italienisch für „roter Bart“ steht) würde im Kyffhäuser-Berg sitzend auf seinem Thron schlafen, bis er eines Tages erwachen und das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu einer neuen Blüte führen würde. Ein wenig Spaß wird es den Brüdern Peter und Modest Tschaikowsky gemacht haben, solchermaßen die hochmütigen Deutschen zu piesacken.
Modest Tschaikowsky hatte das Libretto in einer Zeitung gefunden und zur Unterhaltung für seine Neffen und Nichten 1870 als Kindertheater im heimischen Familienkreis aufgeführt. Fünf Jahre später ließ sich sein Bruder, der Komponist, vom Moskauer Bolschoi-Theater den Auftrag erteilen, das Ballett „Schwanensee“ zu komponieren.
Der Ball im dritten Akt mit den Folkloretänzen ist fester Bestandteil sowohl der Musik als auch des Librettos. Aber nur selten wird so konkret zugeordnet, welchen Zweck diese Brautschau hat: die Königin will den Einfluss ihres Landes mittels Verkuppelung ihres Sohnes erweitern.
Den ersten Aufsehen erregenden Auftritt hat die Prinzessin von Ungarn mit ihren Begleitern. Daniela Lanzetti und Flemming Puthenpurayil führen die graziös-furiose Truppe an.
Wäre sie nicht die passende Partie für Siegfried? Doch er würdigt sie keines Blickes. Viel zu verliebt ist er in die Schwanenprinzessin, nachgerade in einem Rausch der Verliebtheit befindet er sich.
Friedemann Vogel spielt dieses Gefühl der Abgehobenheit, der entrückten Weltenferne exzellent – auf seinem Gesicht spiegeln sich die unrealistisch-euphorischen Erwartungen an die Zukunft, die jeder verliebte Mensch kennt.
Auch die Prinzessin von Spanien und ihr Tross (Rocio Aleman, Alexander McGowan, Adrian Oldenburger, Kirill Kornilov und Noan Alves) erreichen Siegfried nicht. Dabei ist ihr Tanz so mitreißend!
Die russische Prinzessin (Jessica Fyfe) mit unterm langen Folklorehängerchen unmerklich trippelnden Damen legt ebenfalls einen zugleich vornehmen und volkstraditionellen Tanz hin.
John Cranko achtete auch bei diesen Folkloreeinlagen darauf, sein Personal weder zu elitär noch zu plump wirken zu lassen.
So hat auch die Prinzessin von Neapel, die sich vorsichtshalber gleich einen Begleiter mitbringt, idealtypische, aber ballettös veredelte Folklore aufzuführen: Angelina Zuccarini und Timoor Afshar sorgen dennoch ordentlich für Stimmung.
Der Höhepunkt aber ist das ominöse Erscheinen des Magiers Rotbart – jetzt ohne federbuschigen Helm – der wie ein unbekannter Ritter auftritt. Seine komplizenhaft agierende Tochter Odile, sie ist der berüchtige „Schwarze Schwan“ und sieht Odette zum Verwechseln ähnlich, bringt er mit einem Trick quasi wie aus dem Nichts auf die Bühne und lässt sie später auch ebenso verschwinden, als könne sie sich in Luft auflösen.
Zu Beginn des Festes rauschen Rotbart und Odile einmal durch den Saal, hinterlassen mächtig Eindruck, vor allem beim Prinzen – und überlassen den anderen einstweilen das Feld.
Aber dann! Dann kommen sie zurück. Und dieses Mal kennen sie keine Gnade. Siegfried wird vom kokettierenden, lasziv sich gebärdenden Schwarzen Schwan verführt, nach Strich und Faden. Der Arme weiß gar nicht mehr, wo ihm der Kopf steht!
Sehr toll stellt Friedemann Vogel diesen liebestollen, völlig verwirrten Prinzen dar, der glaubt, ein einer Schwanenfrau mit wechselnder Gestalt sein neues Lebensglück vor sich zu haben. Er kommt nicht mal auf den Gedanken, dass hier irgendwas nicht stimmen könne. Er ist so verknallt, dass er die Begehrte überall sucht und sie ständig in seiner Nähe wähnt. Darum fragt er sich auch nicht, wie diese schwarz glitzernde Tutu-Schönheit überhaupt auf den Ball in den Palast kommt. Traut er Rotbart, den er ja bereits als mächtig bösen Zeitgenossen kennen lernte, so viel Freundlichkeit zu, hier jetzt den zivilisierten Gast zu mimen?
Aber Verliebte sind so: naiv und immer bereit, an das Gute zu glauben. Für Siegfried steht fest, dass seine Liebe Rotbart überzeugt hat und er ihm die Schwanenprinzessin als Braut zuführt.
Der Grand pas de deux der beiden – von Siegfried und Odile – ist denn auch ein Fest für die Sinne! Vogel und Amatriain beherrschen all die technischen Finessen und bieten zudem das Schauspiel der irre führenden Kokotte und des rückhaltlos Verliebten. Ach, man wünscht sich mit Siegfried, die Zeit würde stehen bleiben…
Es sei erlaubt, auch hier eine kleine Anmerkung zu machen. Das Libretto vom „Schwanensee“ stammt bekanntlich aus Russland, und der Name des Helden ist keineswegs ein Zufall. „Siegfried“ – so hieß schon vor Hitlers Reckenwahn der typische teutonische Held, und nicht nur Tschaikowsky kannte und verehrte die Opern von Richard Wagner sehr. Siegfried aus dessen Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ ist der schwertschwingende Drachentöter, der letztlich der Heimtücke seiner eigenen Verwandten zum Opfer fällt.
Siegfried im „Schwanensee“ knüpft hier an: Auch er wird von der Verwandtschaft nicht nur unterstützt, wobei man dem russischen Humor hier eine leise Parodie, eine satirische Absicht, in der Ähnlichkeit zu Wagners Sagenheld unterstellen darf.
„Die Nibelungen“ mit dem Helden Siegfried (auf diese Grundlage stützte sich Wagner bei der Erfindung seiner eigenen Mythenfolge) zählen zu den großen früh- und hochmittelalterlichen Epen, die schriftlich überliefert sind. Um 1200 ist die bekannteste schriftliche Fassung datiert. Übrigens spricht man das „i“ in „Nibelungen“ kurz aus, wobei die Betonung tatsächlich auf eben diesem kurzen „i“ liegt und keinesfalls auf dem „u“. An der weit verbreiteten Falschbetonung erkennt man stets eine gewisse Unbildung. Ich darf das mal so deutlich sagen, denn ich habe bei der kompetenten Professorin Irene Erfen-Schmitt in Berlin einige Zeit Mediävistik studiert, im Rahmen der Germanistik.
So wie Siegfried in der Nibelungen-Saga es mit einem Drachen zu tun hat, so fällt Siegfried im „Schwanensee“ auf die dämonische Kraft Odiles herein. Crankos Libretto bezeichnet sie sogar als Dämon, der die Gestalt Odettes annahm, um Siegfried zu verführen.
Rotbart präsentiert sie dennoch als seine Tochter, was Siegfried nun in der Tat stutzig machen müsste. Er kennt die traurige Geschichte der entführten und verzauberten Odette ja schon und sollte ihr, der Geliebten, mehr Glauben schenken als dem patriarchalen Rotbart.
Doch die sinnenhafte Wirkung der reich geschmückten schwarzen Schwänin obsiegt. Siegfried wittert weder Betrug noch die Gefahr, in die er seine Odette mit seiner leichtsinnigen Verehrung ihres Doubles bringt.
Tatsächlich bricht er ihr das Herz mit seiner unwissenden Untreue.
Gut gemeint ist eben nicht gut genug – Siegfried wird seinen heißen Flirt mit dem Schwarzen Schwan später nicht nur bitter bereuen, sondern sogar mit dem Leben bezahlen.
Zunächst aber ist er, nach den 32 Fouettés des Schwanenphantoms allemal, so sehr von Odile begeistert, dass er ihr einen Heiratsantrag macht. Damit hat Rotbart gewonnen – der Liebesschwur für Odette, den Siegfried leistete, um sie zu befreien, ist hinfällig geworden.
Mit großer Geste lässt Rotbart Odile verschwinden – und Siegfried steht da wie der erste Mensch, seelisch nackt und ungeschützt: Er verlor in einer Sekunde alles, mehr noch, als er in den letzten 24 Stunden gewonnen hatte.
Er eilt zum Schwanensee. Hofft und bangt. O weh!
Der Vorhang öffnet sich zum vierten Akt. Am Boden liegen die Schwäne, in jener Haltung, die mit Anna Pavlova und ihrer Schlusspose des Solos vom „Sterbenden Schwan“ weltberühmt wurde.
Die schönen Schwanenmädchen tanzen nur mit ihren Armen, heben und senken sie. Schließlich heben sie je einen einzelnen Arm und verleihen diesem mit hängendem Handgelenk die Anmutung eines Schwanenhalses. Ein sehr lyrisch-ergreifender Effekt!
Die beiden Mädchen in der Mitte des Kreises aus lauter Schwanendamen stehen als erste auf. Die anderen folgen. Es ist deutlich: Die Sache der Schwäne erlitt einen Rückschlag durch die Dummheit Siegfrieds. Jetzt sind die schönen Vogelfrauen schwächer denn je.
Aber sie tanzen, versuchen, so zu überleben.
Alicia Amatriain allen voran – hoch musikalisch tanzt sie die Odette, taktgenau und punktrichtig und doch voller Gefühl.
Aber auch sie ist traurig, voller Schmerzen, weil ihr die erhoffte Befreiung versagt bleiben wird.
Als Siegfried kommt, tanzen sie einen letzten liebevollen, leidenschaftlichen, von nahendem Trennungsschmerz überschatteten Liebestanz.
Dann rückt Rotbart an – es gibt einen erbitterten Pas de trois.
Die Angst der schönen Schwänin vor dem bösartigen Herrscher beherrscht die Szene. Odette ahnt, dass jemand sterben wird…
Matt liegt sie ein letztes Mal in den Armen ihres Geliebten.
Rotbart kommandiert die Schwäne ab, auch Odette muss sich fügen.
Siegfried ist allein mit der Naturgewalt des Sees.
Ein Gewitter zieht auf: Es blitzt, und der See entwickelt sich zur reißenden Flut. Blaue Tücher fallen hierzu aus den Seitenkulissen, blähen sich im Theaterwind über dem Boden, reißen scheinbar wie wilde Sturmwellen den Prinzen mit sich. Er stürzt, hat keine Chance, wälzt sich, von Strudeln getrieben, in den Fluten.
Am Horizont tauchen Rotbart und Odette noch einmal auf – sie muss hilflos zusehen, wie ihr Geliebter den Kampf auf Leben und Tod verliert.
Auch akustisch brachte Cranko ein Gewitter ein: Mächtiges Donnern legt sich auf die dramatische Partitur Tschaikowskys, was etwas gewöhnungsbedürftig, aber hier logisch und schlüssig ist.
Wieder und wieder versucht der Prinz, aufzustehen, mal gelingt es ihm, aber der Sieg über die Wasserkraft hält nicht lange an. Bald liegt er reglos in einem Spotlight, um ihn tost der unerbittliche See.
Der Bodensee ist übrigens berüchtigt für rasch aufziehende Unwetter, die nicht selten Todesopfer fordern (spätestens seit Martin Walsers Novelle „Das fliehende Pferd“).
John Cranko sah keine Hoffnung für Siegfried. Aber Odette ließ er leben (anders als in manchen anderen Versionen, in denen die Liebenden gemeinsam in den Fluten des Sees in den Tod gehen). Sie muss nun hoffen, dass eines Tages ein anderer Prinz erscheint, der sie liebt und der in der Lage ist, sie zu befreien. Der Deutung der Schwanenschar als Zwangsprostituierte – die es auch schon im 19. Jarhundert gab – gibt das durchaus Nahrung.
Dennoch:
Die Schicksale von Männern und Frauen enden zum Glück nicht immer in vergleichbarer Weise. Aber der wahren Liebe stellen sich nicht selten auch heute noch böse Kräfte aus der sozialen Umgebung entgegen, und nicht immer siegt das gute Gefühl.
Man sollte aufpassen, dass man nicht für den kurzen Rausch einer schwierigen Liebschaft sein ganzes Leben zerstört sehen muss.
Aber was wäre Siegfried ohne Odette? Er hätte die stärksten und schönsten Gefühle seines Lebens niemals kennen gelernt…
Gisela Sonnenburg
Zum Interview mit Alicia Amatriain über Crankos „Schwanensee“ geht es hier: http://ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-schwanensee-john-cranko-alicia-amatriain/
Termine: siehe „Spielplan“