Die Hoffnung meldet sich zu Wort Das Hamburg Ballett und die Hamburgische Staatsoper präsentieren verlockende Pläne für den ersten Teil der Saison 20/21. John Neumeier, Georges Delnon und Kent Nagano versprechen bei aller Vorsicht: „keine künstlerischen Abstriche“.

Die ersten Monate der Saison 20/21 beim Hamburg Ballett

John Neumeier spricht: auf der außerordentlichen Pressekonferenz am 7. August 20, die auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper stattfand. Mit viel Abstand und viel Klugheit! Foto: Kiran West

Very good news aus Hamburg! Das illustre Leitungstrio John Neumeier, Georges Delnon und Kent Nagano haben für das Hamburg Ballett und die Hamburgische Staatsoper sowie für das Philharmonische Staatsorchester Hamburg ihre aktualisierten Pläne für die kommende Saison offeriert. Und da locken neue, fabelhafte Ideen – und auch der Mut, es mit dem Corona-Virus und seinen gesellschaftlichen Folgen hochprofessionell aufzunehmen. So werden die seit Mitte Juni avisierten Premierentermine für zwei nach den Corona-Schutzregeln maßgeschneiderte, blitzgescheite neue Programme stattfinden: Am Samstag, den 5. September 20, mit „molto agitato“ in der Regie von Frank Castorf und am Sonntag, den 6. September 20, mit der Uraufführung von „Ghost Light“, dem neuen Ballett von John Neumeier. Bis zum 5. Dezember 20 reichen derzeit die konkreten Pläne, die nun wieder Musik, Tanz, Oper live im angestammten Ort an den Mann, den Frau und die Diversen bringen. Endlich! Nach fast sechs Monaten Zwangspause aufgrund der Pandemie wird die Hamburgische Staatsoper, dieses stolze moderne Haus, seine beiden Publikumseingänge öffnen. Es soll Menschen geben, die bei der Vorfreude darauf in die Luft springen – Vorsicht bitte bei der Landung!

Vorsicht und Achtsamkeit spielen ohnehin bedeutende Rollen in nächster Zeit, und das sollte ja eigentlich nicht nur für das Theatererlebnis gelten.

Ralf Klöter, Geschäftsführender Direktor der Hamburgischen Staatsoper, weiß: „Wie aus der Gastronomie und dem Einzelhandel schon bekannt, wird es auch in der Staatsoper auf allen Verkehrswegen eine Maskenpflicht geben. Bis zur Einnahme des Sitzplatzes sollen die Besucherinnen und Besucher auf allen Laufwegen eine Mund-Nasen-Bedeckung tragen.“

Auf ein Glas Selters vorab muss aber wohl nicht unbedingt verzichtet werden: Es wird angepasste Angebote der Gastronomie geben.

Die ersten Monate der Saison 20/21 beim Hamburg Ballett

Das illustre Leitungstrio mit Ralf Klöter (Geschäftsführender Direktor), von links: Ralf Klöter, Kent Nagano, John Neumeier und Georges Delnon. Foto: Kiran West

Die große Frage: Wieviele Plätze werden pro Vorstellung vergeben werden? 1690 Plätze hat das große Haus normalerweise zu bieten. Immerhin 650 Sitzplätze lässt die aktuell gültige Verordnung des Hamburger Senats in einem geschlossenen Raum zu. Um den Mindestabstand von 1,5 m einzuhalten, kann man das derzeit in der Staatsoper zwar nicht ganz ausschöpfen. Aber: Um die 500 Plätze werden es wohl werden.

Es wird sogar einen flexiblen Sitzplan geben, um Wünsche, nebeneinander zu sitzen, für bis zu zehn Personen erfüllen zu können.

Und weil wir gerade bei grundsätzlichen Neuerungen sind: Anlässlich der ersten Tournee vom Hamburg Ballett in seiner denkwürdigen neuen Spielzeit (ja, es sind Gastspiele geplant!) wird es sogar einen Live-Stream geben, mit „Ghost Light“ aus dem Festspielhaus Baden-Baden, wohin die Truppe im Oktober reisen wird.

Zuvor aber lockt das veränderte Programm ins große Haus nach Hamburg:

Das opernhafte neue Stück, das in der Regie von Frank Castorf entsteht und das Kent Nagano (Generalmusikdirektor) dirigieren wird, heißt „molto agitato“. Der italienische Titel passt zum Eröffnungstermin, er bedeutet nämlich: „sehr aufgeregt“.

Schließlich sind es völlig neue Bedingungen, unter denen jetzt gearbeitet und präsentiert wird.

Es ist zudem Castorfs Regiedebüt an der Hamburgischen Staatsoper. Mensch, da wird es aber auch mal Zeit für! Der nicht mehr junge Wilde, der zu Beginn seiner Laufbahn als Theatermacher in der DDR in der tiefsten Provinz (in Anklam) schon große Erfolge feierte und der dann vor allem an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, opernmäßig aber auch mit einem eigenen „Ring“ in Bayreuth, sowie quasi routinemäßig als Gast auf wichtigen Festivals reüssierte, dürfte den Hanseaten auf seine schnoddrig-ästhetische Art viel mitzuteilen haben.

Mit Kartoffelsalat wird man wohl nicht beschmissen werden, auch nicht auf der Bühne. Aber die musikalische Revue, die sich da auf der Grundlage der „sieben Todsünden“ von Kurt Weill mit Zusätzen von György Ligeti, Johannes Brahms und Georg Friedrich Händel zusammenbraut, macht mehr als ein bisschen neugierig. Ja, das Titelmotto passt: „molto agitato“ darf man sein!

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Hochgenuss erwartet man dann (auch) von John Neumeiers neuer Kreation, an der er seit Mai 20 unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Schutzmaßnahmen mit seinen Tänzerinnen und Tänzern tüftelt. „Ghost Light“, dieses Geisterlicht, bezieht sich im Titel auf die Einrichtung eines ewigen Lichts auf den Bühnen in den USA, wenn die Vorstellung oder auch Probe beendet und die Bühne verwaist ist. Die Glühlampe auf einem nackten Ständer steht zum Zeichen dafür dort, dass niemand die Bühne benutzen darf: Sie ist dann außer Betrieb und ohne Beobachtung.

Das Ghost Light ist also ein Zeichen, das für Sicherheit sorgt.

Für 55 Tänzerinnen und Tänzer schuf Neumeier sein Ballett gleichen Namens, welches das Abstandsgebot (außer bei Paaren, die im selben Haushalt leben) zur Grundlage hat. Musikalisch gibt es feine Klänge vom Klavier, komponiert von Franz Schubert. Neumeier zu einem jüngsten „Kind“: „Es ist vergleichbar mit einzelnen Instrumentalstimmen einer Sinfonie – oder einem traditionellen japanischen Essen: eine Folge sorgsam arrangierter, hoffentlich ‚köstlicher‘ Miniaturen.“

Ich kenne niemanden, der an der Köstlichkeit dieses „Gerichts“ auch nur den leisesten Zweifel hat. Vor allem ein Pas de deux von Primaballerina Madoka Sugai und ihrem Partner Nicolas Gläsmann sorgt bereits im Vorfeld für Furore – und wer Neumeiers choreografische Handschrift liebt und kennt, wird vermutlich in den üblichen Begeisterungsrausch fallen.

Am Donnerstag, dem 10. September 20, gibt es einen Event spezieller Art: Kent Nagano dirigiert ein Open-Air-Konzert auf der Freilichtbühne im Hamburger Stadtpark. Das genaue Programm und die konkreten Zugangswege werden noch bekannt gegeben. Auf jeden Fall aber haben so die echten Outdoor-Fans trotz Wegfall des Rathausmarkt-Konzerts eine prima Gelegenheit, ihrem Vergnügen zu frönen.

Die Bühne von der Bühne aus

Die Blicke können auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper auch ohne Kulissen gen Schnürboden wandern: von Zugstange zu Zugstange. Foto: Kurt-Michael Westermann

Bereits am Sonntag, dem 13. September 20, gibt es aber auch schon die nächste Opern- bzw. Operettenpremiere in Hamburg zu bestaunen, und auch sie ist so ungewöhnlich wie die ganze derzeitige Situation: Das „Märchen im Grand-Hotel“ von Paul Abraham. Der ungarisch-deutsche Komponist, 1960 in Hamburg verstorben, schrieb vor allem Operetten, die leichte Muse mit Hintersinn war seine bevorzugte Domäne. Sascha-Alexander Todtner inszeniert die komische Geschichte der Spielhandlung, in der es um eine ungewöhnliche Filmproduktion geht.

Am Sonntag, dem 11. Oktober 20, geht es mit der Premiereneuphorie weiter: Der lyrisch verkrachte, poetisch leidende „Pierrot lunaire“ von Arnold Schönberg und „La voix humaine“ („Die menschliche Stimme“) von Francis Poulenc werden von Luis August Krawen („Pierrot“) und Intendant Georges Delnon (la voix) inszeniert. Man darf gespannt sein, denn die klassische Moderne, für die die beiden Komponisten stehen, wird eigentlich nie langweilig. Zumal sie jetzt unter ganz neuen Vorzeichen zu erleben sind.

Auch das Opernrepertoire lockt herbei, auch und gerade weil die Orchestrierungen den Gegebenheiten der Corona-Schutzregeln angepasst werden.

So Mozarts delikate „Così fan tutte“ in der Inszenierung von Herbert Fritsch und „Die Zauberflöte“ in der Neudeutung von Jette Steckel.

Schließlich kommt auch hier ein Neumeier-Werk erneut auf uns zu: Mit der Ballett-Oper „Orphée et Eurydice“ von Christoph Willibald Gluck.

Nach seinem Gastspiel in Baden-Baden mit „Ghost Light“ und mit einer Ballett-Werkstatt dort kehrt das Hamburg Ballett ohnehin schon im Oktober in seine Heimat zurück.

Neumeier spricht: Debüt-Ballett-Werkstatt-Zeit-

„Um Mitternacht“ entstand im Jahr 2013: Siliva Azzoni tanzt hier in grünem Wallegewand, an die gefährlich schöne Grüne Fee erinnernd… Foto: Holger Badekow

Und besorgt sich und seinem Publikum auch gleich einen weiteren, abwechslungsreichen Abend: „Ballette für Klavier und Stimme“ fasst vier Tänze von Neumeier zu einem Programm zusammen. Nahtlos schließt sich dieses Programm an das „Ghost Light“ an; auch dieses wird musikalisch vom Piano beherrscht.

Die vier Piecen, die ab Sonntag, dem 18. Oktober 20, als „Ballette für Klavier und Stimme“ zu sehen sind: „Vaslaw“, das superbe Nijinsky-Solo zu Musik von Bach; „Ein Portrait von Marilyn Miller“, das einer Ikone des Broadway zugeeignet ist; „Nocturne“, das als legendär melancholisch-erotisches Pas de deux längst Weltruhm errang; „Um Mitternacht“, das Neumeier 2013 unter Einbezug seines Ensembles zu den Rückert-Liedern von Gustav Mahler erschuf.

Ab Donnerstag, dem 29. Oktober 20, wird dann wieder eines der großen abendfüllenden Ballette auf die Bühne zurückkehren: Neumeiers „Tod in Venedig“ nach der Novelle von Thomas Mann, mit Musiken unter anderem von Richard Wagner, hat so viele Spezialfreunde, dass es womöglich Glücksjauchzer gibt, dieses Stück entgegen den ursprünglichen Spielplänen für die kommende Saison wieder live sehen zu können.

Mit Pause dauert es zwei Stunden und zwanzig Minuten – ohne Pause wird es gut in das Maximal-in-etwa-zwei-Stunden-Konzept passen, das derzeit an den großen Bühnen Standard ist. Wieviele Abstände neu sein werden, wieviele Gruppentänze zu Soli oder Paartänzen mutieren – bleibt einfach mal abzuwarten.

Ebenso ist natürlich nicht konkret zu sagen, wie zum Beispiel das Weihnachts- und Silvesterprogramm aussehen werden, aber dafür gilt ab sofort: Carpe diem, pflücke den Tag – bzw. eben jene Vorstellung, die zu haben ist!

Trusch als Tadzio

Mit Lloyd Riggins tanzte Alexandr Trusch als Tadzio im „Tod in Venedig“ – eine grandios choreografierte Lustfantasie eines den Tod erahnenden Mannes. Foto: Holger Badekow

Die Karten für den September 20 können ab Montag, dem 24. August 20, telefonisch und online bei der Hamburgischen Staatsoper gekauft werden; für die Aufführungen im Oktober, November und bis zum 5. Dezember: ab Montag, dem 7. September 20.

Die Erleichterung, die man nun verspürt, da man die Hoffnung auf großartige Hochkulturerlebnisse haben darf, sollte die Vorsicht und die Achtsamkeit allerdings nicht verdrängen:

„Wir sehen es als unsere Aufgabe, diese Pandemiesituation künstlerisch zu reflektieren. Die Kunst sollte sich zu dem verhalten, was 2020 passiert. Und es darf – bei Einhaltung aller jeweils gültigen Hygieneregeln – keine künstlerischen Abstriche geben.“

Dieses Statement des erfahrenen, verantwortungsbewussten, aber auch kreativen Leitungstrios Neumeier, Delnon und Nagano kann man doch nur dankend als Ansporn nehmen, sich entsprechend den Ergebnissen zu widmen.

So meldet sich die Hoffnung selbst zu Wort: Kommt und schaut!
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

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