Es war die erste Ballett-Werkstatt in dieser Saison und zugleich die letzte in diesem Kalenderjahr in Hamburg: zum 211. Mal empfing John Neumeier, ganz in sportlich-elegantes Schwarz gewandet, seine Fans sonntagmorgens um 11 Uhr. Das Thema: „The Return of Cinderella“. Die Rückkehr der Cinderella? Das lässt sich als Hinweis auf die Wiederaufnahme des Stücks „A Cinderella Story“ deuten, aber auch als Kommentar zu besagter Kreation überhaupt. Denn schließlich ist Neumeiers „A Cinderella Story“ von 1992 eher eine Wiederkehr des Märchens – in moderner Version – als das alte Märchen selbst.
Entstanden ist der Werkstatt-Titel aber nicht etwa nach langer Diskussion, sondern spontan zwischen zwei Proben, als ein Mitarbeiter Neumeier danach fragte. Alsbald dachte der viel beschäftigte Ballettchef nicht mehr dran und nahm an, sein Team werde schon was draus machen. Doch niemand widersprach dem englischen Titel, alle fanden ihn schön, und wiewohl Neumeiers Werkstätte sonst im Inland auf Deutsch betitelt sind, blieb es jetzt bei der englischen Zeile. Als Neumeier dann sonntagfrüh den Programmzettel mit „The Return of Cinderella“ auf dem Cover las, sei er richtig erschrocken, erzählte er schmunzelnd. Aber da auch „A Cinderella Story“ ein englischer Titel ist, passt die Rückkehr auf englisch doch sehr gut.
Erklärungsbedarf gibt es auch beim Balletttitel selbst. „A Cinderella Story“, so Neumeier, nannte er es, weil „Story“ im Angloamerikanischen nicht nur „Geschichte“, sondern auch „Mythos“ im Sinne von „Legende“ bedeutet. Schließlich spielt seine Choreografie mit dem Aschenputtel-Syndrom und repliziert es nicht nur. Ein anderes Beispiel für die Verwendung von „Story“ als „Legende“ ging Neumeier locker über die Lippen – und es weckte en passant selige Erinnerungen: Die „West Side Story“, die Neumeier auch mal (und zwar 1978) in der Hamburgischen Staatsoper mit seinem Ballett (und Gastsängern) inszenierte, ist ein Paradefall für „Story“ als Bezeichnung für Mythologisierung.
Die Typisierung, die damit inbegriffen ist, hat im Fall von „Cinderella“ aber noch eine weitere akzentuierte Note: eine „Cinderella Story“ bedeutet, so John Neumeier in bester Erzähllaune, im Angloamerikanischen auch eine Anekdote mit unerwartet gutem Ausgang. Lana Turner etwa wurde in einem Drugstore beim Drinkschlürfen entdeckt – und ein Superstar des frühen Films. Einen solchen märchenhaften Aufstieg einer Frau nennt man eine „Cinderella Story“.
Da können die drei Minister, die das besonders komische Beiwerk dieser Cinderella-Inszenierung sind, nur lachen: Männer haben die Entdeckung per Zufall nicht ganz so oft bitter nötig wie Frauen, die auf dem Arbeitsmarkt auch im künstlerischen Bereich bekanntermaßen gehaltsmäßig noch immer weit hinter den Männern rangieren. Im Bereich der bildenden Kunst sind Frauen nach wie vor vor allem Muse und abgebildetes Sujet, nur in Ausnahmefällen aber auch gleich viel verdienende Künstlerinnen wie vergleichbare männliche Bildschöpfer. Die Listen der am besten verdienenden bildenden Künstler (und ein bildender Künstler ist in Neumeiers Cinderella-Inszenierung ja auch der Prinz) sprechen da eine deutliche Sprache.
Am meisten interessiert hat Neumeier aber nicht die Cinderella, sondern das deutsche Aschenputtel (Aschenbrödel). Die Grimm’sche Version, so der Tanzschöpfer, der zugleich stets sein eigener begabtester Librettist ist, inspirierte ihn vor allem deshalb, weil sie am „menschlichsten“ sei – im Gegensatz etwa zur französischen Cinderella, die sich in einem surrealen Plot bewegt und dort mit einer Fee und einem zur Kutsche verwandelten Kürbis gar kein Sozialdrama mehr ist, sondern einfach ziemlich märchenhaft.
Dass er die Musik von Sergej Prokofjew („Cinderella“) nehmen würde, stand für Neumeier von vornherein außer Frage. Allerdings dachte er zunächst daran, die „Story“ von dem traurigen Mädchen, das wudnersam seinen Prinzen findet, mit den Tagebüchern von Anne Frank zu verschränken. Ausgelöst hatten diese Idee die gelegentliche melancholisch-dramatische Note in der Musik und die Tatsache, dass sowohl „Cinderella“ als auch die Tagebücher von Anne Frank in den 40er Jahren, während des Zweiten Weltkriegs, entstanden waren.
Doch trotz heftiger Arbeit daran wollte sich kein Libretto fügen, dass die beiden so verschiedenen Mädchenschicksale – das vom glücklich heiratenden Aschenputtel und das von der im KZ ermordeten Anne Frank – zusammen fassen könnte. Neumeier ließ es also sein: woran man sieht, dass auch Arbeiten, die nicht beendet werden, wichtig sind und auch ihr Abbruch seinen Sinn hat.
Gespräche mit Dramaturgen ließen dann die neue Zuordnung von Szenen sprich eine neue Musikaufteilung entstehen. Damit war das Grundgerüst fertig und Neumeier konnte damit in den Ballettsaal gehen. Lächelnd erwähnt er, dass er sich noch sehr gut daran erinnert, wie er mit Gigi Hyatt, seiner damaligen Primaballerina für diese Rolle (sie ist heute die Leiterin der Ballettschule John Neumeier), im Studio stand und die ersten Schritte kreierte.
Die Rollenbesetzung, die er am letzten Sonntag vorstellte, war ein Rollen-Debüt: Anna Laudere, die blonde Melancholikerin aus Lettland, tanzte die Neumeier’sche Cinderella bei der Werkstatt zum ersten Mal vor Publikum; am Abend desselben Tages feierte sie ihr Debüt in der Vorstellung.
Neumeier ließ sie zunächst das erste Solo der Cinderella im Stück tanzen. Es zeigt Cinderella, die mit und um ein am Boden stehendes Bildnis ihrer verstorbenen Mutter tanzt; von traurig-gedrückten Bewegungen über leichte Sprünge zu einer träumerischen Sehnsucht hin.
Im hellblauen Trikot mit weißem Probenrock sieht Anna Laudere zart aus, obwohl sie von der Statur her eine der größeren, gerade eben nicht typisch zierlich-grazilen Tänzerinnen ist. Trotz ihrer Schlankheit wirkt sie nicht dünn oder schmal, sondern hat – relativ für eine durchtrainierte Profiballerina – auch etwas Nordisch-Stämmiges. Das verleiht ihrem Tanz stets eine Note von Schlichtheit und Geradheit, auch etwas Herbes. Als Kontrast zum Ausdruck von Lieblichkeit, den sie durch ihren Tanz gewinnt, ist ihre Statur immer ein Widerstand, den die Primaballerina durch die Disziplin der Bewegungen überwindet.
Als Cinderella hat sie zudem in manchen Soli – so im ersten – regelrecht eckige Bewegungen mit weichen, fließenden zu kombinieren.
Ihre erste Geste darin ist ein Öffnen der zuvor zusammengehenden Arme und Hände. Die gespreizten Finger sehen dabei mit der Innenseite nach vorn, und zeitgleich bewegen sich die Füße von einer lockeren Parallelposition in die erste Auswärtsposition. Sie öffne sich damit, sagt Neumeier, aber es sei kein freudiges Hier-bin-ich, sondern eine Öffnung, um Trauer und Kompliziertheiten mitzuteilen. „Jedes Mädchen, das seine Mutter verloren hat, hast etwas Verletztes“, so Neumeier.
Und weiter: „Das ist hier aber kein Schrei nach Hilfe“, etwa wenn sie ein Tendu nach vorne macht und mit der Ferse des Standbeins „stottert“, also schnell auf und ab wippt. „Sondern es ist die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit“, so der Choreograf, während seine Tänzerin die Arme weit öffnet. Das Wippen mit der Ferse soll aber auch für Nervosität stehen, für Cinderellas Unsicherheit darüber, wohin sie sich wenden soll: „Das Solo zeigt, dass da etwas in ihr ist, das nicht funktioniert, es symbolisiert einen Konflikt.“
Im Verlauf ihres weiteren Tanzes – auf das Bildnis ihrer verstorbenen Mutter zu und drum herum, aber auch mal weiter davon entfernt – entsteht ein Attitüdensprung, der fast etwas Leichtes hat. Es folgen träumerische Drehungen und schnelle Passés, für die Anna Laudere auf die Zehenspitzen springt. Neumeier dazu: „Das ist keine Rede darüber, wie sehr sie die Mutter geliebt hat. Das ist ja selbstverständlich. Sondern es geht darum, dass sie auch unangenehme Erfahrungen erinnert, etwa, dass ihr Vater sie geschlagen hat, und sie das verarbeiten muss.“ Für ihn ist die Psyche, die realistische psychologische Entwicklung bei Cinderella ganz wichtig: „Ich will kein Wesen in einem zerfetzten Zipfelkleid, dem ein Wunder passiert!“
Zunächst ganz gegen jede Art von Wunder steht der Vater Cinderellas, in dieser Besetzung von Dario Franconi (bei der Premiere vor kurzem von Lloyd Riggins) getanzt. Er sei „ein Mann, der seiner Tochter gegenüber liebenswürdig ist, der aber doch auch labil ist“, so Neumeier. Inwieweit diese Labilität aus sich selbst entstanden ist oder ob sie als Schutz und Vertuschung für etwas anderes steht, ließ er offen. So richtig normal ist ein Vater jedenfalls nicht, der seine Tochter zum Aschenbrödel für die angeheiratete Verwandtschaft werden lässt.
Diese charakterliche Schwäche zu tanzen, ist keineswegs einfach, und Dario Franconi stellt sie dar, indem er sich nicht hundertprozentig der Schönheit der Bewegungen ergibt, sondern eine gewisse innere Distanz aufbaut. Der Brecht’sche „V-Effekt“, der Verfremdungseffekt, fällt einem ein.
Dazu wirken die drei überdrehten Damen, die ihn in Folge umgarnen, wie aus einem Musical importiert. Carolina Agüero tanzt die künftige Stiefmutter Cinderellas, Winnie Dias und Mayo Arii ihre Töchter – die drei sind ein Ausbund der Bösartigkeit, aber auch der Heuchelei und des windigen Charmes, der damit verbunden sein kann. Zu dritt umtänzeln sie Dario Franconi, der hier rasch verwirrt wirken darf.
Dann lügen die Damen wie gedruckt mit ihren Körpern, sehr gekonnt. Sie bezeugen nämlich ihre angebliche Trauer über die verstorbene Mutter Cinderellas. Mayo Arii löst ihre Aufgabe besonders gut, indem sie sichtlich übertreibt bei ihren Bewegungen. Sie hat ein Taschentuch, mit dem Trauertränen markiert – ach, und niemand kann ihr glauben, so wenig dezent tut sie das. Köstlich: Es ist ein wenig, als sehe man einen Stummfilm, einen komödiantischen, in dem Übertreibung das beste Stilmittel ist.
Neumeier kommentiert: „Man merkt, dass diese Schwester vor allem darauf achtet, wie sie aussieht, ob ihre Füße gestreckt sind, das ist ihr wichtiger als das, was sie aussagen möchte.“ Oh ja, die Heuchelei ist eine eitle Verwandte des Neids…
Das tanzt auch Carolina Agüero. Ihre Interpretation ist weniger mondän als die von Silvia Azzoni, die die Premiere tanzte. Aber dafür lässt Carolina die Boshaftigkeit hier richtig gern raushängen, wie in einer Scharade, und es macht viel Spaß, sie, die in den letzten Spielzeiten als „Silvia“ und als Emilia in „Othello“ ernste, schwere Rollen perfekt auf den Punkt brachte, mal in so ultrakomischer, ja klamaukiger Rollenaufmachung zu sehen.
Winnie Dias hingegen hält sich bei der Betonung der Komik ihrer Rolle zurück, sie vermittelt die Bosheit der Stiefschwester von Cinderella mit Contenance, und auch das klappt vorzüglich. Ihre bad sister müht sich zu brillieren und wirkt dabei vor allem absichtlich „aufgesetzt“, blasiert, angeberisch. Auch das reizt zum Grinsen – und wenn das furiose böse Damentrio auch noch synchron tanzt, obwohl alle drei einen eigenen Stil haben, ist der Unterhaltungsfaktor schlicht maximal.
Neumeier erzählt von „Lear“ und „Hamlet“, mit deren Grundsituationen Cinderellas Lebenswirklichkeit hier Ähnlichkeit hat (siehe Rezension der Premiere hier im Ballett-Journal). Nachzulesen sind diese Zusammenhänge auch im Programmheft zu „A Cinderella Story“ oder, wenn man großen Appetit auf Neumeier-Trouvaillen hat, in seinem Megabuch „In Bewegung“.
In der Werkstatt erklärte er auch seine Beziehung zur Musik von Prokofjew. Ihm fiel nämlich bei der Erstellung des Librettos auf, dass es „wunderschöne Musik für die Hauptfigur, für Cinderella, gibt, die auch ihre Entwicklung spiegelt – aber der Prinz kommt da etwas zu kurz.“ Und dabei ist das Thema von Cinderella tatsächlich das von Tatjana aus „Onegin“ von Peter I. Tschaikowsky (das indes nicht als Ballettmusik komponiert, sondern erst fast hundert Jahre nach seiner Entstehung dazu gemacht wurde).
Richard Hoynes, der die Matinee versiert und engagiert am Piano aus dem Orchestergraben heraus begleitete, spielte indes auch dieses einzelne Thema mit pointierter Struktur.
IMMER IN BEWEGUNG
In seinem Buch „In Bewegung“ schwadroniert Neumeier: „Wahrscheinlich ist ‚A Cinderella Story‘ ein Ballett über Selbstfindung und Erwachsenwerden. Ich möchte beiden Figuren, dem Aschenputtel und dem Prinzen, den gleichen Wert geben und das Zusammenfinden von zwei Menschen zeigen, die beide Außenseiter sind oder werden: Cinderella durch die Wiederheirat ihres Vaters…, der Prinz, weil er in manchem dem Schwanensee-Prinzen ähnelt…“ Der knallrote Einband und der Titel des Buches täuschen also nicht, es enthält in der Tat Bewegendes.
Um dem Prinzen Musik zu geben, damit er ein großes Solo hat, nahm Neumeier übrigens das Stück „Herbstliches“ von Prokofjew dazu. Doch dazu später.
Zunächst aber assoziierte der Meisterchoreograf beim Schöpfen zur Klangwelt von „Cinderella“ eine, wie er es sagt, „bestimmte Kitschwelt“, wie es sie zum Beispiel in „Leonce und Lena“ gebe. Auch dort ist der Prinz kein normaler Prinz, sondern höchst gelangweilt von allem Höfischen, und alles ist ein bisschen überdreht und wird oft ein bisschen idyllisch-idiotisch inszeniert. Wie das Umfeld des Prinzen in „A Cinderella Story“, wobei der Prinz hier zudem auch noch bildender Künstler ist. Cinderella sieht er erstmals am Grab ihrer Mutter – und er zeichnet sie, hingerissen von ihrer Schönheit und ihrem echten Gefühl.
Was den Choreografen am meisten beim Arbeiten nach seiner Selbsteinschätzung bewegt, ist in seinem Buch „In Bewegung“ nachzulesen, das beim Hamburg Ballett online zu bestellen ist. Aber vorsicht: Es hat mit sechs Pfund Gewicht und dem Format einer altertümlichen Hausbibel deutlich Übermaße und ist für normale oder gar zierliche Regale mitnichten geeignet.
Darum rasch zurück zur Show. Die nächste Szene, die getanzt wird, zeigt den Künstler-Prinzen mit den drei Ministern, die versuchen, ihm eine Reihe von Prinzessinnen schmackhaft zu machen. Auf dass er eine von ihnen zur künftigen Gattin küre. Doch von wegen – dieser Prinz ist da gar nicht gut aufgelegt, bei der Präsentation der Popportraits von jungen Damen, und letztlich lehnt er ziemlich brüsk weitere Bemühungen seiner hohen Staatsdiener ab.
John Neumeier kann sich hier eine kleine Spitze gegen die Entwicklungen des Ballettnachwuchses in New York nicht verkneifen: „Diese Prinzessinnen sind wie Mädchen vom New York City Ballet: sehr schön, mit sehr langen Beinen, aber es ist eine Schönheit, die von außen kommt.“ Genau diese Langweiligkeit kann es einem ja so verleiden, sich mit angeblich idealtpyisch ausgesuchten Ballerinen im Nachwuchsformat zu beschäftigen!
Und wenn ich über die „Jacqueline Kennedy Onassis School“ lästere, so wundert mich nicht, aus so berufenem Munde wie dem von John Neumeier indirekt zu hören, dass das New York City Ballet, das häufig mit AbsolventInnen aus der Jackie-Schule bestückt wird, an Profil verloren habe. Der Trend, Tänzerinnen nicht nach Temperament, Können und Ausstrahlung, sondern nach gleichmäßigem Wuchs und Dehnbarkeit der Gliedmaßen auszusuchen, hat indes nicht New York allein erfasst, sondern ist ein Symptom der Unsicherheit und der Gier nach Anerkennung überhaupt in der Ballettwelt – und auch des sie erfassenden, unsinnig übertriebenen Wettbewerbs in technischer Leistungsfertigkeit.
Der Ballettschule John Neumeier kann man solche Vorwürfe nun nie und nimmer machen. Im Gegenteil: Hier sieht man künstlerische Individuen heranwachsen, die nicht trotz, sondern wegen ihrer Nichtzugehörigkeit zu irgendeinem kleinkarierten Ideal à la „langweilige Klone“ Bühnenkünstler werden und die sich so gut voneinander unterscheiden lassen, dass man sie eben auch verschieden besetzen kann. Mancher Junge, manches Mädchen haben da schon im Teenageralter Aura – was sonst wirklich selten ist.
Noch nicht ganz wieder bei sich ist hingegen der Erste Solist vom Hamburg Ballett Edvin Revazov als Prinz. Während seine Partnerin Anna Laudere in jeder Sekunde als Cinderella diese Rolle atmet und auch technisch-tänzerisch auf einem neuen Niveau ihres auch zuvor schon hochkarätigen künstlerischen Könnens angelangt ist, scheint Edvin noch von der verletzungsbedingten langen Zeit seines Aussetzens in der letzten Spielzeit geprägt. Es ist aber anzunehmen, dass er innerhalb kürzester Zeit wieder ganz in der Lage sein wird, seinen Körper als virtuoses Instrument für die Rollengestaltung einzusetzen – und sich über ihn zu beklagen, heißt ohnehin, auf sehr hohem Level zu jammern. Denn natürlich ist er ein sehr guter Tänzer, und nur, wenn man ihn kennt, weiß man, dass er derzeit noch etwas unter seinen Möglichkeiten bleibt. Er sollte wieder stärker mit der Kraft des Podex tanzen statt aus der Brust heraus – dann wird er uns bald wieder völlig zu verwöhnen wissen.
Hübsch anzusehen ist er allemal, mit seiner neuen Kurzhaarfrisur, die jungenhaft-strubblig einher kommt und ihm den Touch eines Abenteurers verleiht (statt der melancholischen Anmutung, die seine langen glatten Strähnen früher besorgten). Als Partner von Laudere ist „der blonde Riese“ vom Hamburg Ballett optimal, er hebt sie und wirbelt sie durch die Luft, als sei sie eine Feder – und wenn Edvin Revazov sie führt, als Prinz auch verführt, mit ihm zu gehen, so hat er dabei ein Timing und eine Präsenz, die klar machen, dass die beiden wie füreinander geschaffen sind.
John Neumeier weiß denn auch, dass diese Prinzenrolle nicht ganz einfach zu fassen ist, weder für seinen jeweiligen Darsteller noch für das Publikum noch für einen jeden Choreografen, der sich der „Cinderella“-Musik von Prokofjew annimmt. Durch den Kunstgriff, aus ihm einen Künstler zu machen, verleiht Neumeier seinem Cinderella-Prinzen eine neue Facette – aber es ist schon bezeichnend, dass dieser (zumal in der an Personalnamen stets gern schwelgenden klassischen Ballettwelt) auch in der vorliegenden Version nicht mal einen Namen hat. So stark ist diese Partie davon gekennzeichnet, der sozial höchst stehende Bursche im Land und im Stück zu sein. Und das, obwohl er das gar nicht sein will, sondern viel lieber den Motiven zum Zeichnen hinterher jagt.
Seine Sehnsucht nach Liebe und Identitätsfindung durch das Lieben ist denn auch in des Prinzen Soli wunderbar formuliert – und wenn Edvin Revazov sich verträumt auf den Bühnenboden legt, als halte er mit der nur imaginierten Cinderella Zwiesprache, dann ist das schon sehr anrührend.
EMOTIONALE WAHRHEIT IST IMMER SUBJEKTIV
„Mich interessiert die emotionale Wahrheit eines Menschen“, sagt John Neumeier, und der Zweig eines Haselnussstrauchs, den Cinderella dem Prinzen in dessen Traum überbringt, stehe nicht nur für die Magie in diesem Stück, sondern auch für die Sehnsucht und Aufforderung der jungen Frau an ihren Traumprinzen nach dem Motto: „Finde mich!“
Dabei ist ihre soziale Situation im Stück viel härter als in den meisten anderen „Cinderella-Versionen“. Sie ist nicht nur irgendein Aschenputtel, das mit der Natur und der Armut mehr oder weniger harmonisch zu leben weiß (viele denken da sicher auch immer wieder an den zauberhaft-nostalgischen tschechischen Märchenfilm „Drei Nüsse für Aschenbrödel“). Sondern Neumeiers Cinderella leidet handfest unter einer Herabsetzung und Demütigung, unter einer Verdammung zur Sklavenarbeit, die sie als ungerecht empfindet und gegen die sie aufbegehrt.
Da gibt es eine wütende Passage in ihrem Solo, und Anna Laudere tanzt diese trotzig-energiereichen Schritte mit enormer Authentizität. In der vorliegenden Szene aber hat sie nicht mal mehr Schuhe, sondern muss barfuß tanzen, und zwar aus Gründen der Armut, nicht aus romantischen Beweggründen heraus.
Und noch einmal holt Neumeier zu einer süffisanten Spitze gegen das New York City Ballet aus: Dort würden die Ballerinen Wert darauf legen, so weiß er mit mokantem Lächeln zu erzählen, dass sie die schönsten, besonders auffallenden, weil am meisten glänzenden Spitzenschuhe tragen. Solche wiederum sind John Neumeier, und das wissen seine Fans, ohnehin suspekt – zumeist müssen die Spitzenschuhe für Neumeier-Stücke vorher mit Puder mattiert werden, bevor sie auf die Bühne dürfen.
CINDERELLA ALS HEIMLICHE REBELLIN
Für Cinderella jedenfalls gibt es inmitten ihrer heimlichen Rebellion vorm Küchenherd nur zwei Arten von Trost: die Pas de deux mit dem Vater, die von zum Teil noch kindlichem Toben bestimmt sind, andererseits vom Üben partnerschaftlichen Verhaltens, wobei er mit heftigem Klatschen auf seine eigenen Schenkel seine Tochter spielerisch um Verzeihung für erteilte Schläge zu bitten scheint.
Außerdem hilft Cinderella in ihrer Not immer wieder der Gedanke an die Mutter, die denn auch als Geist und feenhaft-hilfreiche Person erscheint.
„Sei gut, ich werde vom Himmel auf dich herabblicken und immer um dich sein“, waren die letzten Worte der sterbenden Mutter – die dann mit einem Geschenkpaket im Arm langsam von links nach rechts über die Bühne schreitet, als sei sie eine Botschafterin auf dem wundersamen Jenseits, welches mit Zaubertricks für Gerechtigkeit zu sorgen weiß.
Hayley Page tanzt diese Mutter mit einer zielstrebigen Grandezza und einer vergeistigten Zartheit, kurz: einer Erhabenheit, die einen vergessen lässt, wie jung diese Vollbluttänzerin mit gerade mal 21 Jahren noch ist. Das ist halt nur im Ballett so möglich: dass die Jüngere glaubhaft die Mutter der Älteren darstellt und dabei alle Qualitäten entfaltet, die dafür notwendig sind. Dabei hat die Interpretation der Mutterrolle durch Hayley durchaus manche Ähnlichkeiten mit der von Anna Laudere, die in der Premierenbesetzung Cinderellas Mutter tanzt.
Der Pas de deux der beiden jungen Frauen vor dem Hintergrund des Schuhgeschenks ist denn auch ein Highlight dieses Balletts, den man auf keinen Fall missen möchte. Und Anna Laudere und Hayley Page harmonieren darin so stark, dass man sie auch als Illustration eines neuartigen „Wahlverwandtschaften“-Romans glattweg akzeptieren würde. Eine führt die andere, Hand in Hand laufen sie über die Bühne wie durch das Feld der Kindheit, sie sind der Natur gemeinsam besonders nah, doch langsam, aber sicher emanzipiert sich Cinderella, wird sichtlich in der Choreografie erwachsen. Toll!
Apropos Natur: Die „Vogel-Geister“, die Neumeier als Freunde und Helfershelfer von Cinderella schuf, sind besonders aparte, dem modernen Tanzzeitgeist verpflichtete Parts. Dem brillanten Ersten Solisten Alexandre „Sascha“ Riabko gefielen sie stets vom Ansehen und von Proben her so gut, dass er seinen Chef Neumeier darum bat, im Vogel-Geschwader mittanzen zu dürfen. Der Wunsch wurde gern gewährt – und Sascha kann somit ein weiteres seine Geschmeidigkeit und Anmut auch jenseits der „Heldenrollen“ unter Beweis stellen. Es spricht ja sowieso sehr für ihn, dass er sich eine Teamrolle aussucht und nicht auf Biegen und Brechen die Nummer Eins im Stück sein will. Der Applaus auch dafür ist bei einer Ballett-Werkstatt absolut angebracht.
Als einzige Tänzer in dieser Werkstatt dürfen die „Vogel-Geister“ denn auch in ihren Original-Glitzer-Hosenröcken zu freiem Oberkörper auftreten, also im Kostüm. Verständlich: Ohne die wabernden Stoffmassen um die Beine wäre ihre Choreografie im Kontext vermutlich nicht voll verständlich, der Choreograf Neumeier denkt schließlich stets ans große Ganze, das er dann dem Publikum serviert.
Aber die Armarbeit der schönen Jungs will erläutert sein, und das macht Neumeier mit Akkuratesse: Auf und ab wedeln die vier Männer mit den muskulösen Armen, stellen sie auf „Ellenbogen hoch“ ein, wenn sie sie seitlich halten, und der Eindruck von Flugbewegungen stellt sich dann ganz unwillkürlich ein.
Neben dem höchst anmutig-geschmeidigen Alexandre Riabko tanzen Aleix Martínez (mit besonderem Schmelz), Christopher Evans (betont sportiv) und Marcelino Libao (mit hinreißender Linienführung) die „Vogel-Geister“: Sie wirken androgyn, sollen sogar laut Neumeier mitunter etwas Weibliches dabei haben, sie tanzen zart und ohne „männliche“ Absichten, aber stringent und kraftvoll und durchaus glaubhaft darin, dass sie Abgesandte der Natur sind, die Cinderella helfen können und wollen.
Bei ihrer Benennung als „Vogel-Geister“ und eben nicht einfach „Vögel“ oder „Raben“ oder „Kraniche“ ist zu beachten, dass Indianer und andere Eingeborene in vielen Religionen und in den verschiedenen Gebieten der Welt die Geister der Tiere, die sie bejagen, töten und verspeisen, vorher rituell um Verzeihung für das bitten, was sie ihnen antun wollen.
Dazu eine Anmerkung (und nur, wer sich gesundheitstechnisch nicht weiterbilden will, überlese die folgende Passage): Der Mensch ist ja gerade nicht für den täglichen Fleischkonsum geschaffen. Sondern das Mammut, das Gnu oder die Schlange zwecks Nahrungsbeschaffung zu töten, war auch für die Steinzeitmenschen die Ausnahme vom Alltag. Man ging damals nicht täglich auf die Jagd, das wäre in der Wildnis viel zu gefährlich und auch vom Kraftverbrauch her zu ineffizient gewesen. Elefanten und Raubtiere oder auch große oder viele Vögel brauchen sich ja nur gestört zu fühlen, schon trampeln oder reißen sie einen Menschen zu Tode, attackieren und verletzen einen. So fand die Versorgung mit fleischlicher Nahrung zu der Zeit, als unsere auch heute noch dem entsprechende genetische Ausrüstung entstand, kaum häufiger und eher seltener als einmal im Monat statt. Ansonsten deckten ab und an Fische und Vogeleier sowie vor allem vegetarische und vegane Nahrung den gesunden Bedarf. Milchprodukte sind hingegen für Erwachsene, das sei angemerkt, gar nicht gesund, sie machen auf Dauer nur die Lebensmittelindustrie glücklich – denn der Körper ausgewachsener Menschen ist eben nicht für Produkte aus „Tierbabynahrung“ geschaffen, sondern empfindet Milch, Joghurt, Sahne, Quark und Käse als Schlacken. Selbiges gilt für Industriezucker. Das merkt man aber erst, wenn man mal ein paar Wochen darauf verzichtet hat. Rheumatiker, Diabetiker und andere Kranke können mit der richtigen Diät bei Fleisch-, Zucker- und Tierfettverzicht sehen, wie sie langfristig auch ihren Medikamentenkonsum reduzieren oder sogar ganz einstellen können. Nüsse statt Steak, Datteln statt Chicken! Nicht nur Startänzer Roberto Bolle lebt nach dieser Devise. Calcium findet sich außerdem reichhaltig in Salat, Kräutern und grünen Gemüsen, und zwar in vom menschlichen Stoffwechsel viel besser verwertbarer Form als in Kuh-, Schaf-, Ziegen- oder Büffelmilch.
Die moderne Massentiertötung würde also, wenn sich heute eine neue, zeitgemäße Religion gründen würde, vermutlich eine Rolle spielen – und ähnliche Abbitten notwendig machen, wie schon die Indianer und andere Urvölker sie zur Grundlage ihrer spirituellen Existenz gemacht hatten. Vielleicht würde man den exzessiven Fleischkonsum dann aber auch aus religionslogischen Gründen abschaffen und auf ein Maß, das noch unter dem wöchentlichen Sonntagsbraten liegt, reduzieren. Man könnte dann von einer gesunden Religion sprechen. Welche Gottheiten man dieses Mal, in diesem Jahrhundert, erfinden sollte, um dauerhaft plastische Vorstellungen zu erwecken – das kann sich gern jeder selbst ausmalen.
Jenseits der rund 33 0000 Göttinnen und Götter, an die Menschen weltweit derzeit glauben (da wurden von Anthropologen auch die Nischengottheiten diverser Amazonas-Stämme und auch die diversen Himalaja-Götter mit einberechnet), kämpft derweil auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper die schöne Cinderella um ihr Schicksal und ihr Lebensglück. Vulgo: Sie will nicht als Aschenputtel und Dienstmädchen ihrer bösen Stiefschwestern versauern… und um ihre Träume zu verwirklichen, rücken der Geist ihrer Mutter sowie die „Vogel-Geister“ an.
Es ist elegant und organisch zugleich choreografiert, wie die vier „Vogel-Geister“ mit der Mutter von Cinderella zu tanzen wissen. Sie heben sie und zelebrieren mit ihr eine Art Kult, der schon an einen neumodischen Mutter-Ritus erinnern könnte. Und dann, nachdem sie ihr pantomimisch ein Küken zum Liebkosen (nicht zum Schlachten) übereignet haben, heben sie Cinderella mit derselben Leichtigkeit und Souveränität wie vorher die Mutter empor – und tragen sie, tänzerisch leicht und fast verspielt, aber mit einer gewissen Weihe, auf den Ball ins Schloss.
„Anna, welche Schuhe hast du an?“ John Neumeiers Frage gilt den schönen Ballerinenfüßen von Anna Laudere. Und sie hat doch einen Symbolwert – es ist die Frage nach der Identität und könnte, aus dem Kontext gelöst, auch eine nach der (geistigen) Haltung oder zumindest der aktuellen Lebensart sein. Birkenstock oder Pumps? Collegeschuhe oder Schnürstiefel? Flipflops oder Riemchensandalen zum Schnüren? Gummistiefel oder Sneakers? Das sagt schon viel aus über den Träger oder die Trägerin.
Und im Stück „A Cinderella Story“ muss die Titelfigur tatsächlich ständig die Schuhtracht wechseln: von Spitzenschuhen über barfuß hin zu goldenen Schnallenschuhen für den Ball.
Der heutige Wiener Ballettdirektor, Manuel Legris, hätte es sicher nicht so einfach, bei einer Märchen-Inszenierung auf Prunk und Symbolismus zu verzichten, wie Neumeier es im puritanischen Norddeutschland tun konnte. Legris setzte allerdings als Gaststar in der Rolle des malenden Prinzen beim Hamburg Ballett Maßstäbe – er war als Tänzer männlich-markant und dennoch von einer Poesie, die direkt dem Paradies zu entstammen schien. Fotos im Programmheft der Hamburgischen Staatsoper erinnern daran und belegen dies.
Zurück zur Frauenfrage der Cinderella, die sich bei Neumeier nicht mehr an der Kleinheit der Füße orientiert. Die Schuhgrößenfrage, die im Original des deutschen Grimm’schen Märchens eine große Rolle spielt – nur Cinderella hat da so kleine Füße, dass ihr der verlorene Ballschuh ohne gewaltsame Fußverstümmelung passt – lässt Neumeier zwar außen vor. Aber die Schönheit und Besonderheit der Cinderella-Füße wird implizit durch den häufigen Schuhwechsel im Stück betont.
Und natürlich: durch ihren Tanz!
Als John Neumeier dann an der Ballszene arbeitete, lief bei ihm zuhaus gerade der Fernseher, und zwar ohne Ton (etwas, das bei mir auch häufig so stattfindet und bei geistiger Arbeit sehr zu empfehlen ist). Zu sehen war „ein Wettbewerb in Gesellschaftstanz“, also eine Tanzsport-Meisterschaft.
Mir dreht sich ja der Magen um bei dem Gedanken, aus Tanzen einen Sport mit Meisterschaften zu machen – aber für viele ist das offenbar akzeptabel, und es gibt ja sogar Ballett als Meisterschaftssport, wie Fußball oder Tischtennis – allerdings haben diese Ballettleute rein gar nichts mit den Ballettkünstlern zu tun, eine Überschneidung der beiden Bereiche findet mitnichten statt, vermutlich, weil beide etwas völlig Verschiedenes erreichen wollen, das nicht miteinander vereinbar ist, auch wenn die dabei eingesetzte Körpersprache vordergründig gesehen dieselbe ist.
In Neumeiers Fernseher jedenfalls lief damals so eine angeknipste Tanz-Sport-Geschichte (Im Deutschen wird „Geschichte“ ja auch gern im Sinn von „Angelegenheit“ oder „Sache“ benutzt, von daher könnte man „A Cinderella Story“ vielleicht auch spielerisch, wenn auch weniger klangvoll mit „Eine Cinderella-Sache“ übersetzen). Die kreischbunten, speziellen Regeln entsprechenden Kostüme und die abgezirkelten, sich redundant wiederholenden Choreografien der Sporttänzer erweckten bei Neumeier den Eindruck, dass es sich dabei um etwas Dekadentes handeln müsse.
Und genau diese Dekadenz inspirierte ihn für die Ball-Szene in „A Cinderella Story“. Denn er entdeckte sie in der Musik von Sergej Prokofjew wieder, hatte vielleicht sogar schon längere Zeit nach einer optischen Entsprechung dieser schrägen, irgendwie überdrehten Walzertöne gesucht.
Dennoch sieht das Hamburg Ballett in den Kostümen von Jürgen Rose keineswegs schräg oder angeknipst aus. Sondern mondän, elegant – und ganz absichtlich truppenhaft-einheitlich, was in der Mischung tatsächlich die Note „Dekadenz“ ergibt.
Statt Kürbis-Kutsche (pumpkin carriage) also eine Sänfte aus Vogel-Geistern; statt Glamour, Prunk und Lebesucht ein starker Touch von Dekadenz. So ein Ball ist das hier! Schön außerdem an den „Ballmenschen“ (O-Ton John Neumeier): Sie bilden ein großes Ensemble, neun Paare plus Solisten treten auf, und insbesondere Aurore Lissitzky und Graeme Fuhrmann machen hierbei eine fantastische rituell-mondäne Figur, und auch ganz junge Ballerinen, die neu im Hamburg Ballett sind, wie die niedliche Maria Tolstunova, die just vom Wiener Staatsballett dazu kam, haben hier einen großen Auftritt.
Die Wandelbarkeit und Flexibilität der Profi-Tänzer vom Hamburg Ballett kann man ja gar nicht oft genug rühmen. Das Cover vom Programmheft zu „Cinderella“ täuscht da ein bisschen drüber hinweg, denn man kann da den Eindruck gewinnen, dieses Ballett sei ein mysteriöses Spiel um Identitäten. Aber faktisch haben die Charaktere der Tänezr durchaus gute Chancen, sich auf der Bühne deutlich als Individuen zu zeigen.
Nicolas Gläsmann, der die Newcomerin Greta Jörgens (die gerade erst ihren Abschluss an der Staatlichen Ballettschule Berlin machte) führen darf, fällt zudem mit einer cool angezündeten Zigarette auf, die er nach einigen demonstrativen Zügen lässig wie ein Machtinsignium seiner Partnerin reicht. Nun stammt die Choreografie von 1992, damals wusste man in der Tat noch nicht, welche und wieviele suchterzeugenden und schädlichen Zusatzstoffe „normaler“ Tabak so enthält. Aber an sich, muss ich gestehen, bin ich mittlerweile gegen das Rauchen auf der Bühne – Verruchtheit können solche Künstler allemal (!) auch ohne Lungenverpestung darstellen. Wie wäre es mit einem Requisit, das Eitelkeit symbolisiert? Ein Handspiegel am Stiel etwa? Ich schlage das natürlich nur für künftige Choreografien und andere Choreografen vor. Denn es gehen ja auch Kinder und Teenager in Tanzvorstellungen, und denen muss man eigentlich nicht die überholte Marlboro-Man-Nummer als coole Sache anbieten, nachdem sie in der Werbeindustrie nach jahrelangem Hin und Her endlich abgeschafft wurde und in Ballsälen heutzutage überwiegend Rauchverbot herrscht.
Fehlt im übrigen noch ein Verbot von Handys und Smartphones in Restaurants – aber da steht die Lobby der Workaholics vermutlich noch stramm dagegen. Wie die Raucherlobby sich auch jahrzehntelang gegen ihre Verbannung aus dem guten Raumklima wehrte.
Zurück zur Ballett-Werkstatt. Cinderella und der Prinz wandeln durch die tanzenden und posierenden Paare, zunächst einzeln und ohne sich wirklich zu finden. Ein Solo von Cinderella – mitreißend und einerseits voller Tatendrang, andererseits in der ungewohnten Umgebung fremdelnd – mündet darin, dass der Prinz hinter ihr steht. Wortwörtlich und auch symbolhaft, könnte man sagen, denn tatsächlich wird er sie später auch ohne kostbare Schuhe und passendes Ballkleid akzeptieren.
Zunächst aber läuft sie ihm alsbald davon, und er bleibt, verliebt-sinnierend, für ein kleines Solo allein mit sich auf dem Ball. Eine schöne Szene – und so ungewöhnlich für eine Cinderella-Choreografie!
Später im Stück (nach dem Kern-Pas-de-deux, siehe „Nur du und ich und ein Stück Obst“ hier im ballett-journal.de) befindet sich der Prinz auf Reisen. Auf Wanderschaft. Auf einer modernen Aventuire, die sich in Sinnsuche erschöpft. Er sucht seine Liebe, einen Koffer und den Zeichenblock mit sich tragend. Ein Künstler ohne Muse. Aber ein Gasthof ist ihm wie der andere, ein Kellner wie der andere, ein Wein schmeckt wie der andere. Sogar für die verschiedenen Schönheiten der abwechselnd auftanzenden jungen Damen hat dieser total verknallte Prinz (der nicht mal den Namen seiner Verehrten kennt) keinen Blick übrig.
Futaba Ishizaki muss hier genannt werden – sie hat einfach so viel Präzision und Delikatheit im Ausdruck, dass sie allein schon einen Aufführungsbesuch wert wäre.
Und noch ein Solo der Mutter (Hayley Page) lockt – es ist zart und leicht und genügt, um eine Gegenwelt zur trist-grellen Cinderella-Familie, zum aufgedrehten Hofstaat und auch zur traurig-bunten Reisewelt des Prinzen zu erschaffen.
John Neumeier indes betont (und das ist der verbale Höhepunkt seiner superben Werkstatt-Show), dass er nie die eine Besetzung mit der anderen vergleiche in dem Sinne, als er sich niemals fragen würde, wie etwa Gigi Hyatt damals das und das getanzt hätte. Im Gegenteil. Ihn interessiert die Gegenwart, die absolute Gegenwart, also die Frage: „Wie ist die emotionale Situation heute?“ Neumeier weiter: „Das ist ja das Besondere an Ballett, das, was so toll daran ist! Es ist jeden Abend anders.“ Und damit meint er nicht, dass Tänzer Fehler machen oder mal nicht so gut drauf sind. Damit meint er, dass, weil beim Tanz der Künstler und sein Kunstmedium identisch sind, eine andere Synthese von Innen und Außen hergestellt werden kann als bei anderen Künstlern.
Selbst bei Sängern oder Schauspielern gibt es keine Kongruenz in so hohem Ausmaß von Körper, Geist und Seele. Und eben auch von deren Techniken, deren Ausdruckskraft, deren Essenz.
Ballett mit seiner organisch durchdachten, meditativen wie akrobatischen Technik liefert nun mal eine einzigartige Möglichkeit, sich als Mensch ganzheitlich zu betätigen und in Szene zu setzen.
Kein Wunder, so gesehen, dass es von allen darstellenden Künsten die jüngste ist (mit rund 400 Jahren) und zugleich in seinen Ursprüngen die vermutlich älteste: mit Ritual-, Freuden- und Beschwörungstänzen in der Steinzeit.
Und schon Insekten wie Bienen, aber auch diverse Vogelarten verständigen sich in bestimmten Situationen durch bestimmte Tänze – ich persönlich bin auch geneigt, den sich bei manchen Pflanzenarten relativ rasch ändernden Richtungswuchs ebenfalls als „Tanz“ durchgehen zu lassen, auch wenn er sich in stunden- oder tagelangem Zeitlupentempo vollzieht und zudem meistens das Licht, dieses aber keineswegs ausschließlich, zur Zielvorgabe hat. Die Vermeidung von Unbill spielt bei den Pflanzen eine große Rolle, insofern handelt es sich nicht um Tanz um des Tanzens willen. Aber die Ornamentik, die dabei entsteht, hat optisch-rhythmische Züge, sie ist durch keine Zweckhaftigkeit zu erklären. Dass Pflanzen sich über die Aussendung und Wahrnehmung von Duftstoffen verständigen und sie auf Geräusche, etwa auf Musik, aber auch auf Kreissägen, reagieren, ist mittlerweile wissenschaftlich nachgewiesen. Und die sich auf Berührung ruckartig zurückziehende Mimose ist schon seit Jahrhunderten sprichwörtlich – die Seelen von Pflanzen dürften also ganz besonders interessant sein. Im Mittelalter ging man übrigens sogar von einer Liebesbefähigung der Pflanzen aus: Man unterschied zwischen vegetativer, animalischer und menschlicher Liebe, wobei letztere die beiden ersteren in sich vereinen sollte.
Ach, und die Liebe schenkt natürlich auch „A Cinderella Story“ ein weiteres glücklich-beglückendes Highlight. John Neumeier erklärt seinen stillen letzten Pas de deux des Liebespaares vor allem mit dem Verhalten des Mädchens: „Sie will nicht nur genommen werden, sie will auch nehmen, sie will ihn nehmen.“ Darum läuft sie ihrem Prinzen auch hier (wie schon auf dem Ball) kurz davon, um dann von selbst wieder auf ihn zuzugehen. Im Kontext sieht das so aus: Der reisende Prinz wird von Cinderellas Vater an den Haselnussstrauch, in dem Cinderella sitzt und auf ihn wartet, herangeführt. Der Prinz lässt seine Utensilien stehen und geht, von seiner Identität als Reisender wie von einer Last befreit, um den Baum herum. Er dreht den Baum – instinktiv und richtig, und nur so kann er die darin versteckte Cinderella finden.
Das sind traumhaft-symbolische Handlungsakte, und sie zu sehen, bringt immer wieder Vergnügen. Man darf an dieser Stelle feststellen, dass einen formidablen Pas de deux an sich auch andere Choreografen kreieren. Aber solche Bühnenabläufe, solche Inszenierungsmuster, die eine unglaublich große Kraft haben, findet man nur bei John Neumeier. Was seiner Genialität als Pas-de-deux-Tanzmeister natürlich keinen Abbruch tut. Denn auch in seinen Schrittmustern finden sich spannungstreibende und spannungslösende Momente, die so kein anderer Künstler zu erschaffen vermag.
Die Endszene von „A Cinderella Story“ ist denn auch ein prima Beispiel dafür. Als der Prinz Cinderella im Baum entdeckt, bleibt er ruhig und still. Er springt nicht sofort auf sie zu, bestürmt sie nicht, greift nicht gleich nach ihr. Er steht stumm da, so wie sie reglos bleibt. Edvin Revazov und Anna Laudere spielen das meisterhaft. Er steht ganz in ihrem Bann da – und sie sitzt keineswegs entrückt-somnambul (wie Hélène Bouchet in der Premierenbesetzung) in ihrem Strauch, in ihrem Nest, könnte man sagen, sondern ganz irdisch, ganz sinnlich, ganz diesseitig.
Dann sehen sich die beiden an. Lange, lange, lange Zeit. Die Musik plätschert, auf der Suche nach harmonischen Bögen, vor sich hin – aber dieses Paar, das sich nach langer Zeit des Suchens und des Wartens endlich bekommen kann, schaut sich nur reglos an. Wunderschön.
Man darf an das unverhoffte Wiedersehen der Künstlerin Marina Abramovic und ihres früheren Geliebten und damaligen Weggefährten Ulay erinnern (man findet es auf youtube als Mitschnitt einer Abramovic-Performance).
Und man darf daran denken, welche Kraft die Liebe hat, egal, unter welchen Umständen und Beziehungen sie auftritt.
Der anschließende Pas de deux von Cinderella und dem Prinzen erfüllt, was Neumeier angekündigt hatte: Der Prinz pflückt seine lang Gesuchte vom Baum, nimmt sie unprätentiös auf die Arme und trägt sie zur Bühnenmitte. Sie setzt sich da zunächst allein in den Schneidersitz, er nimmt respektvoll etwas weiter hinten Platz. Dann geht sie auf und davon, in die Kulissen – und kehrt entschlossen zurück, ganz zu ihm, legt ihre Hände auf seine Schenkel, stemmt ihren Kopf gegen seine Brust, trägt ihm solchermaßen ihr Vertrauen, ihre Duldungsbereitschaft, aber auch ihre Handlungsbereitschaft an. Der Paartanz ihres Lebens kann beginnen…
Tosender Applaus umfängt die Protagonisten, Solisten wie Corps de Ballet, den Pianisten Richard Hoynes wie auch die Bühnenarbeiter und Techniker, die für ein paar schöne Kulissen und feines Licht gesorgt haben. Vor allem aber dankt das Publikum seinem John Neumeier, der als Choreograf wie als sein eigener Dramaturg schlicht Großartiges leistet.
Gisela Sonnenburg
Weitere Infos, Texte und Bilder und Daten zu „A Cinderella Story“ bitte hier:
www.ballett-journal.de/hamburger-theaternacht-2015/
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-a-cinderella-story-wa/
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-a-cinderella-story-2017/