Können Märchenballette nur Träume zeigen? Ganz sicher schaffen sie mehr: Sie entführen in Welten, die eine starke Verbindung zum Unterbewussten haben. Da dürfen die Realitäten und die verschiedenen Traumebenen, äußerlich gesehen, gern durcheinander purzeln – eine innere Verbindung haben sie dennoch. Auch das Spielzeug, das in Form von Puppen auftritt – auch der „Nussknacker“ ist hier kein Funktionsgerät, sondern ein Spielzeug – steht für diese Vermischung und Vereinigung verschiedener Innenwelten. Besonders deutlich zeigt das „Der Nussknacker“ in der spielerisch-lokalisierten Version von Aaron S. Watkin und Jason Beechey in Dresden beim Semperoper Ballett.
Im ersten Bild zitiert diese Fassung den Dresdner Weihnachtsmarkt, den so genannten Striezelmarkt, der auch im 19. Jahrhundert schon das Sinnbild schlechthin für typische Weihnachtseinkäufe war. Holzpuppen, Pyramiden, Holzpferdchen, Weihnachtssterne zieren da die kleinen Buden auf der Bühne.
Tatsächlich gab es im 19. Jahrhundert aber auch die süßen essbaren Spezialitäten, die dem Striezelmarkt seinen Namen gaben. Christstollen und Zuckerwerk, Nüsse und Äpfel in verschiedenen Ausführungen beschwörten das vorweihnachtlich-winterliche Lebensgefühl, schon damals war das zudem kein Privileg nur der Oberschicht.
Außer dem Weihnachtsbaum, der als traumhaft zu gelten hatte, werden in den einschlägigen Publikationen nur allzu gern „goldene Äpfel“ und „Zuckerpuppen“ beschworen. Diese Figuren, der Spielzeugwelt entlehnt, als Lebensmittel hergestellt, vor allem aber symbolisch aufgeladen als Ziergegenstand verwandt, stehen bereits an sich für eine Vermischung verschiedener Ebenen der Realität und der Sehnsüchte.
Ein Gedicht von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, „Der Traum“ betitelt, gibt da noch mehr Aufschluss: „Ich lag und schlief; da träumte mir / Ein wunderschöner Traum: / Es stand auf unserm Tisch vor mir / Ein hoher Weihnachtsbaum.“ Lichter, Goldäpfel, Zuckerpuppen beschreibt der Dichter als Baumschmuck. Hoffnung, Reichtum und Genuss verkörpern sie. Aber als der Dichter im Traum danach greifen möchte – „Da wacht ich auf aus meinem Traum, / Und dunkel war’s um mich.“ Es bleibt der poetischen Seele nur, auf Weihnachten zu hoffen, auf die Wiederkehr der Bäumchenpracht am Heiligen Abend.
Wenn dann später eine Zuckerfee mit ihrem Gemahl auftritt, so könnte es doch gut sein, dass diese von einem Zuckerpuppen-Paar, das als Baumschmuck zu sehen war, inspiriert worden ist. Zuckerpuppen als Spielzeug für Alt und Jung: die Sinne reizend, zugleich aber auch eine Fetischisierung bestimmter Werte wie Schönheit und Jugend vornehmend.
Zuckrig wirken schon wegen der weißen Farbe auch die tanzenden Schneeflocken, die im Ballett vorkommen, allen voran die Schneekönigin, die mit Alice Mariani einfach fabelhaft besetzt ist: kühl, aber nicht herzlos, lieblich, aber nicht zu süßlich tanzt sie die leichthin den Winter verkörpernde, feenhafte Gestalt mit einer sagenhaften Anmut. Danke!
Mit solchen und ähnlichen Gedanken sieht man die Striezelmarkt-Besucher in ihren historischen Kostümen auf der Bühne in der Semperoper, vor dem Vorhang.
Da taucht eine hehre, geheimnisvolle Gestalt in einem schwingenden Umhang auf: Drosselmeier, getanzt von dem eleganten, an der Pariser Oper ausgebildeten Clément Haenen, erscheint. Er zeigt, wie ein Moderator, was die Budenbesitzer in Sachen Weihnachtspuppen zu bieten haben. Und als abends schon alle wieder vor dem heimischen Kamin sitzen und der Striezelmarkt wie leer gefegt ist, nimmt er zwei der Puppen mit sich: einen Nussknacker und eine Mauspuppe, den Mausekönig.
Kurze Zeit später treffen wir Drosselmeier wieder: Bei den Stahlbaums, die in einer Puppenstuben-haften, niedlichen großbürgerlichen Einrichtung wohnen. Es ist bereits Weihnachten, der geschmückte Baum beherrscht die Szenerie. Kinder – von der Palucca Hochschule für Tanz – wuseln umher, die Jungs mit Trompeten, die Mädels mit Puppen.
Und dann zeigt Drosselmeier, was unter seiner Zauberkunst aus den beiden Figuren, die er vom Striezelmarkt mitnahm, geworden ist: Lebensechte scheinbare Menschen im Kinderformat, und zwar zwei Paare, die nacheinander auftanzen und mit ihrem hübschen Tanz alle in Verzückung bringen. Allen voran die kleine Marie, die vom Tänzerkind Uliana Veginy ganz liebreizend dargestellt wird.
Die eigentliche Attraktion aber ist in diesen Momenten die Magie von Drosselmeier.
In diesem zweiten Bild tanzen nämlich unter seiner Regie die gespielten mechanischen Puppen für die Kinder unterm Weihnachtsbaum auf: Sie nehmen damit die Träume der kindlichen Hauptdarstellerin vom fürchterlich-kämpferischen, aber auch abenteuerlich-sinnlichen Erwachsenenleben, welches im fünften Bild erfolgen wird, vorweg.
Da ist die Zuckerfee mit ihrem Gemahl in kindlicher Ausfertigung: die beiden tragen purpurfarbene Kostüme mit goldenen Applikationen und tanzen, schon ganz wie die Erwachsenen, einen kleinen Pas de deux. Da muss der Junge das Mädchen halten und führen, und ihre schönen ausgestreckten Beine bestimmen die Ästhetik des Paartanzes.
Später werden die erwachsenen Ebenbilder dieser beiden ehrenvoll den Grand Pas de deux des Stücks darbieten: Die Zuckerfee (Svetlana Gileva, eine virtuose Russin, die seit 2008 in Dresden tanzt, seit zwei Jahren als Erste Solistin) und ihr Gemahl (Denis Veginy, der wie Svetlana aus Perm stammt und mit ihr nach Dresden kam und ebenfalls Erster Solist ist). Hebungen und Pirouetten in vielfachen Variationen kommen hier hinzu, machen den Pas de deux zu einem Höhepunkt des Balletts. Gileva und Veginy verströmen dabei jene Eleganz und jene Würde, die man so nur im Ballett findet – zauberhaft!
Ihr Pas de deux besteht aus vier Teilen. Der erste besteht aus sehr klassischen Lauf- und Findungspassagen, enthält Figuren wie den „Fisch“ und mündet in eine Zuversicht und Souveränität verheißende Hebepose. Der zweite ist das große Solo des Feengemahls: schnelle Sprünge und Drehungen machen es zu einem Ausdruck der Virtuosität. Der dritte Teil ist das Solo der Zuckerfee zu „ihrer“ typischen Musik, für die sich der Komponist Peter I. Tschaikowsky etwas ganz besonderes hat einfallen lassen: den Einsatz der Celesta.
Tschaikowsky weilte in Paris, als er auf dieses Instrument stieß und es sich für den „Nussknacker“ vornahm. Die Celesta (von französisch: „la céleste“, was soviel wie „die Himmlische“ heißt) ist eine Art Hammonium, das so ähnlich klingt wie ein Glockenspiel. Diese süßen Klänge gehören seit der Uraufführung des „Nussknackers“ am 18. Dezember 1892 – und eigentlich schon seit der konzertanten Uraufführung der „Nussknacker“-Suite einige Monate zuvor – fest zum Image der Zuckerfee.
Ihr Solo, das bereits von Lew Iwanov für die Uraufführung so erdacht worden war, erfordert denn auch eine hohe Fertigkeit auf Spitzenschuhen, muss die Zuckerfee doch auf den Spitzen springen und auch wieder dort landen; außerdem sind Drehungen und Arabesken in hoher Anzahl absolvieren – und schließlich auch noch eine Rotunde mit Piqué-Pirouetten und Chainés meistern. Dabei hat sie, wie Svetlana Gileva, unbedingt fröhlich und ausgeglichen zu wirken – sie ist ja die Zuckerfee und somit im „Land der Süßigkeiten“, von dem hier geträumt wird, die Herrscherin.
Der vierte Teil des Grand Pas de deux besteht dann aus großzügig angelegten Schrittkombinationen im Allegro-Tempo, die zuerst abwechselnd von den Ehegatten, dann von ihnen synchron bzw. zusammen getanzt werden.
Es handelt sich dabei um pure Brillanzbeweise!
Sprünge, Sprünge, Sprünge gehören dazu – und eine formvollendete Schlusspose, bei der der Mann die Frau ganz sicher und fest zu halten hat, was allerdings verspielt und zärtlich auszusehen hat. Wow!
Natürlich brandet hier der Applaus stets besonders hoch!
Dabei ist aber bitte nicht ganz zu vergessen, dass der Vorläufer dieses rasanten Pas de deux bereits in der „Kinderversion“ im zweiten Bild stattfand. Jennifer Janice Tränkler und Leo Luca Occhipinti zeigten da tapfer ihre Interpretation der hoheitsvollen Schritte, ohne die eigene Jugend allzu sehr in die Waagschale zu werfen.
Wer seine Jugend allerdings ebenfalls nicht verbergen kann, ohne damit negativ aufzufallen – im Gegenteil: dieser junge Mann wirkt besonders frisch, wach und adrett – ist Václav Lamparter als Titelheld. Dieser Dresdner „Nussknacker“ ist erst 19 Jahre alt und somit noch ein Teenager! Seine Geschmeidigkeit und Ausdrucksstärke lassen allerdings vermuten, dass er dennoch nicht erst gestern mit dem Profi-Ballett begann, und womöglich ist Václav da ja auch genetisch „vorbelastet“ sprich schlicht und einfach hoch begabt.
Er gab sein Debüt als „Nussknacker“, als ich ihn im Dezember 2015 sah – und dass er in New York in der Studio Company des American Ballet Theatre sowie in Brno in Tschechien, seiner Geburtsstadt, tänzerisch erzogen wurde, spricht bereits für seine Bandbreite und Belastbarkeit.
Er gewann bereits mehr als ein halbes Dutzend internationaler Preise, ist aber erst seit 2014 im Engagement. Das Corps de ballet des Semperoper Balletts ist nun ein hervorragendes und ganz sicher kein schlechter Ort, um eine Tänzerkarriere zu starten. Wichtig ist hier ja auch die Betreuung durch die Ballettmeister, und an deren Kapazität und Kompetenz liegt dann auch oftmals das Vermögen eines jungen Tänzers, sich voll zu entfalten. Auch in dieser Hinsicht hat Václav Lamparter Glück – und umgekehrt kann man auf ihn auch stolz sein, das hat er als frisch gebackener „Nussknacker“ bewiesen.
Seine Partnerin Chantelle Kerr hingegen verfügt bereits über deutlich mehr Bühnenerfahrung, wenn man ihr das altersmäßig auch überhaupt nicht ansieht – und zwar lobenswerterweise ohne, dass sie stark gebotoxt oder bis zum Anschlag geliftet wirken würde, was heutzutage ja nicht wenige im Showgeschäft bereits als Twen ausprobieren, um dann wie aus dem Wachsfigurenkabinett auszuschauen. Chantelle Kerr hat derlei nicht nötig und verströmt eine natürliche, graziöse Jugendlichkeit, die sowohl mit älteren als eben auch mit jüngeren Partnern wunderbar harmoniert.
Sie stammt aus Queensland in Australien und tanzte nach der Ausbildung dort und in Melbourne erst einmal im Ballett in Queensland, dann in Neuseeland. Dort erhielt sie 2006 den Titel „Most Outstanding Female Ballet Dancer“, wurde also als bemerkenswerteste Ballerina ihrer Sphäre geehrt. Man kann sich das gut vorstellen, denn sie vereint einen besonders weiblichen Charme mit akkuraten, edlen Posen. Eine sehr feine Tänzerin!
Fast verwundert es einen, dass sie Halbsolistin, nicht Solistin ist. Aber Dresden hat nun mal viele superbe Tanztalente, und logischerweise können nicht Dreiviertel oder Vierfünftel der Truppe die höchsten Ränge belegen.
Im klassischen Ballett spielt die Unterscheidung zwischen Solisten und Nicht-Solisten in den Stücken zwar eine große Rolle, aber im praktischen Alltag zählt sowieso das Arbeiten an sich, und da können allenfalls Erste Solisten sozusagen „Extra-Wurst-Ansprüche“ anmelden, etwa was Pausenregelungen angeht. Sofern sie entsprechende Verträge haben. An sich aber müssen alle, jeder und jede für sich, ihr Bestes geben, das ist unabdingbar, und auch jene Tänzerinnen und Tänzer, die nicht zu den ganz oben in der Hierarchie stehenden Stars gehören, sind wichtig und haben ihre Aufgaben gut zu erfüllen.
Seit 2007 tanzt Chantelle Kerr beim Semperoper Ballett, und man darf auf ihre Interpretationen weiterer tragenden Rollen gespannt sein, zumal sie als „Hauptkurtisane“ in „Manon“ unvergesslich angenehm auffiel.
Im „Nussknacker“ hat sie als erwachsene Marie in der Traumwelt der kindlichen Marie mit dem schönen Nussknacker-Prinzen zu tanzen, sich mit ihm aber auch um die ultrabösen Mäuse zu bekümmern, sich dann von ihm in den verschneiten Zauberwald entführen zu lassen, ihn dort zu küssen – und schließlich mit ihm im Land der Süßigkeiten eine vollendete Glückseligkeit durchzumachen. Eigentlich ein tolle Rolle, oder?
Und die Pas de deux mit dem Prinzen, also dem zum Traummann gewordenen Nussknacker, dem Sohn der Zuckerfee, sie sind so entzückend! Da wird auf jede Note Tschaikowsky’scher Gefühlswelt entsprechend reagiert, mit Walzerdrehungen und „Fleckerl“, mit hohen Sprüngen und tänzerischen Paarungen, wie sie in einer verliebt-seligen Atmosphäre nun mal sein müssen.
Aber genau wie die Zuckerfee und ihr Gemahl haben auch Marie und ihr Nussknacker dem Publikum schon im zweiten Bild eine Vorahnung von dem, was kommen wird, gegeben.
Da tanzen nämlich die Kinder Jannes Körner und Cilian Berthold den Nussknacker und seinen Widersacher, den Mausekönig, als mechanische Puppen: mit Degenkampf und allem Drum und Dran! Nur die Erotik, die fehlt hier im zweiten Bild, im Kinderland noch – erst im Reich der Zuckerfee bzw. schon auf der Reise dorthin kommt sie massiv ins Spiel. Vorher aber müssen Gefahren überwunden werden!
Darum also trägt der Nussknacker, dieser charmante Junge, eine Uniform: weil er ein richtiger Kämpfer ist! Marie spürt davon im fünften Bild, beim Freudenfest im Land der Süßigkeiten, nicht so viel. Aber unterm Weihnachtsbaum, da spielt diese soldatische Note durchaus eine Rolle. Und zwar gleich zwei Mal: erstens im Tanz der Puppen, den Drosselmeier herauf beschwört hat und den er auch gut kontrollieren kann.
Dann aber gibt es später, bei Nacht, den großen Kampf der Mäuse gegen den Nussknacker und seine Spielzeug-Gefährten. Und würde Marie da nicht helfend eingreifen – wer weiß…
Die Spielzeugsymbolik erinnert dabei an einige romantische Novellen ebenso wie an die steten Bemühungen der Erwachsenen in aller Welt, sich ihre kindlichen, also unschuldigen und nicht korrumpierbaren Träume der ersten Jugendzeit zu bewahren.
Marie erfährt in dieser Inszenierung ein Widerspiel der Kinder- und der Erwachsenenwelt, indem sie zunächst nachts glaubt, alles um sie herum würde sich vergrößern: die Standuhr, die Vitrine, das rote Sofa, auf dem sie liegt.
Dann aber stellt sie fest, dass auch sie selbst größer, nämlich erwachsen wurde: Aus dem Kind wurde im Traum eine junge Frau, die mit ihrem Dreamboy, dem Nussknacker, noch ganz anders spielen kann als nur wie mit Puppen.
Man ist versucht, hier freudianisch zu deuten und im Nussknacker einen phallischen Helfershelfer zu erkennen.
Dass Marie nach solcherart freudvoll erlebter tänzerischer „Weltreise“ mit Darbietungen verschiedenster Kulturen zurück in ihre deutsche Stube muss, zurück auch in ihre eigene Kindergestalt, müsste eigentlich traurig stimmen.
Aber sie hat die Krone des besiegten Mausekönigs dort bei sich, und damit kann sie zuversichtlich sein, dass nicht jeder Traum immer nur Traum bleibt…
Gisela Sonnenburg
Mehr über den Dresdner „Nussknacker“ bitte auch hier:
www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-watkin-portrait/
www.ballett-journal.de/diverse-compagnien-nussknacker-allover/
Termine: siehe „Spielplan“