Zwei plus Vier in Baden-Baden John Neumeier kuratiert das Festival „The World of John Neumeier” 2024 in Baden-Baden, während arte.tv online zwei Sendungen zu Neumeier anbietet

Nur kurz mal übern Sommer weg gewesen: John Neumeier ist auch mit 85 Jahren ungebrochen aktiv und kreativ – und ein Ausbund des guten Geschmacks. Foto: Kiran West

Er war und ist und bleibt ein Tausendsassa: Als Chef vom Hamburg Ballett ist er gerade geschieden, aber mit dem Festival „The World of John Neumeier“, das alljährlich in Baden-Badenhelfen soll, die Sommerpause zu überwinden und gut in den Herbst zu kommen, ist John Neumeier im deutschen Südwesten präsenter denn je. Ab dem 26. September 2024 tobt in der Kurstadt mit dem berühmten Festspielhaus die diesjährige Ausgabe, bis zum 13. Oktober 24. Los geht es mit einer „Ballett-Werkstatt“ nach bewährtem Muster mit dem Meister höchstselbst nebst praktischen Beispielen, und die entsprechenden Höhepunkte sind dann zwei Stücke von Neumeier: Die „Endstation Sehnsucht“ und „Die Glasmenagerie“, beide nach Dramen von Tennessee Williams.

Zuvor aber zeigt The Joffrey Ballet aus Chicago als diesjährige Gastcompany in Baden-Baden seine aktuellen Schätze, nämlich drei zeitgenössische Stücke: Erstens die Sinfonie „Under the Trees‘ Voices“ („Die Stimmen unter den Bäumen“) von Ezio Bosso als Ballett, aber nicht vom  Kultchoreografen David Dawson choreografiert (wie just beim Stuttgarter Ballett), sondern von Nicolas Blanc, der vor allem in Chicago arbeitet. Er nennt sein Bosso-Stück „Golden Hour“ („Goldene Stunde“) und nimmt auf den starken Naturgedanken in der Musik Bezug. Zweitens kommt ein Stück von Cathy Marston, dem erklärten weiblichen Neumeier-Liebling, aus Chicago, und zwar die tänzerische Literarumsetzung von John Steinbecks „Of Mice and Men“ („Von Mäusen und Menschen“). Man darf gespannt sein, zumal die Musik als Auftragswerk an einen James-Bond-Film-Komponisten ging. Drittens hinterließ der früh durch eigene Entscheidung aus dem Leben gegangene Liam Scarlett der Nachwelt sein Stück „Hummingbird“ („Kolibri“): nach Musik von Philip Glass, und schon das San Francisco Ballet begeisterte mit diesem dynamisch-leichtfüßigen Tanz.

Cranko

John Cranko, seinerzeit der erste Chef in Deutschland von John Neumeier, ist ab dem 3. Oktober 24 im Kino zu erleben: im Film von Joachim A. Lang. Bundesweit zu sehen! Hier geht’s zum Trailer. Bild: Philip Sichler_Zeitsprung Pictures_SWR_Port au Prince Pictures / ANZEIGE

Die Auswahl dieser Stücke zeigt, dass in diesem Jahr der Schwerpunkt auf US-amerikanischer Literatur im Tanz liegt. Und es gibt Live-Musik zum Gastspiel der Künstler aus Chicago, gespielt von der Deutschen Radio Philharmonie.

Wer sich einstimmen will, dem sei die Lyrik von Tennessee Williams als Lektüre empfohlen: Die Melancholie, die bis zur Schwermut reicht, aber auch die Pfiffigkeit, der Pointenreichtum und die Schärfe, aber auch die Simplizität, die zur US-amerikanischen Literatur gehören, finden sich in diesen Gedichten auf den Punkt gebracht.

Versteckte Existenzängste, das Gefühl, am Abgrund zu leben, aber auch himmelhochjauchzende Fantasien prägen das Fluidum dieser Dichtung.

Getanzt findet man diese Vorgänge dann exquisit in den Neumeier-Arbeiten.

Ab dem 4. Oktober 24 reist das Hamburg Ballett mit den erwähnten Highlights im Gepäck in Baden-Baden an.

John Neumeier hat sich mit Tennessee Williams immer wieder auseinander gesetzt, und seine beiden abendfüllenden Stücke nach Dramen des zu seiner Zeit provozierenden Autoren könnten verschiedener nicht sein.

Die „Endstation Sehnsucht“ als Ballett Von John Neumeier  Blanche (Anna Laudere) kämpft um ihre Würde – aber sie verliert viele Kämpfe. Foto vom Hamburg Ballett: Silvano Ballone

Die „Endstation Sehnsucht“ von 1983 fängt sensibel das schwül-romantische, aber auch aggressiv-erotische Flair der Südstaaten ein. Große Sommerhüte bei den Damen und Boxen als Lieblingssport der Herren zeigen schon bei den Kostümen, die auch von Neumeier stammen, wohin hier die Reise geht. Für die Hauptperson Blanche ist das Leben eine Irrfahrt mit einem Endpunkt in der Psychiatrie – aber ihr Schicksal ist so würdevoll und ästhetisch, so vielschichtig und empathisch nachvollziehbar gezeigt, dass jeder und jede sich mit ihr identifizieren kann.

Auch „Die Glasmenagerie“ hat eine vom Leben stark getroffene Heldin. Alina Cojocaru glänzt seit der Uraufführung 2019 in der Hauptrolle: mit einem Gehbehindertenschuh am linken Fuß, der ihre tänzerische Sprache hier mit prägt. Träume und Illusionen sind alles, was das Mädchen Laura Rose (nach dem Vorbild von Williams‘ Schwester) hat. Die Live-Musiken unter anderem von Charles Ives und Philip Glass kommt hier von der Philharmonie Baden-Baden.

Übrigens kann die mal dunkel-mysteriös, mal glamourös-fetzig schimmernde Neumeier’sche „Glasmenagerie“ derzeit auch noch auf arte.tv online bewundert werden (siehe Link unten).

Homosexualität bzw. Bisexualität spielen in beiden Stücken eine große Rolle – und anders als der 1983 verstorbene Tennessee Williams (der zeitlebens unter der Prüderie und der Diskriminierung von Homosexuellen in den USA litt) kann John Neumeier es sich erlauben, diese deutlich sichtbar auf die Bühne zu bringen.

The World of John Neumeier

Alina Cojocaru als Laura Rose in „Die Glasmenagerie“ von John Neumeier: Träume sind alles, was ihr bleibt. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Auch in den schon angeratenen Gedichten von Williams blinken die typischen Konflikte eines Homosexuellen seiner Zeit – er lebte von 1911 bis 1983 – auf, allerdings symbolisch verpackt und verklausuliert. Und das sogar in femininer Gestalt.

Etwa so: „Evening is her name. / She is waiting for you at the breathless height of the stairs, and to admit you she draws the door soundlessly open before you’ve had time to remove the doorkey from your pocket.”

Da wartet also eine Frau namens Abend an der atemlosen Anhöhe einer Treppe… Ein Schelm, wer jetzt an den französischen Tod in Gestalt einer Femme fatale zu denken wagt.

Aber diese Vielschichtigkeit schwingt bei Tennessee Williams immer mit, auch wenn er – wie auch in den Balletten von John Neumeier zu sehen – ebenso begabt darin ist, bezaubernd intime Situationen zu kreieren.

Wer sich auf Menschen und aufs Menschliche einlassen will, ist dieses Jahr in Baden-Baden also genau richtig.

Hinzu kommen Vorstellungen vom weiterhin von John Neumeier geleiteten  Bundesjugendballettsowie von der Ballettschule vom Hamburg Ballett, die selbst erstellte Choreografien zeigt.

Erstmals dauert das „World“-Festival Neumeiers ja drei Wochen. Da ist viel Zeit, sich auch der Jugend im Tanz mal ausgiebig zu widmen.

Das Bundesjugendballett (BJB) zeigt mit zwei sehr verschiedenen Programmen seine Bandbreite.

Like a Dog with a Bone“ („Wie ein Hund mit einem Knochen”) heißt die neue Choreografie von Edvin Revazov. Zu erwarten sind raffinierte Hebungen und wechselseitig aufmüpfige Paarbeziehungen.

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Und mit den „Sybil Dances“, einer Hommage an Sybil Shearer, wird eine der prägenden Tanzlehrerinnen von John Neumeier geehrt. Zwei Jahre tanzte er in ihrer kleinen Truppe in den USA, neben dem Studium und in Vorbereitung auf das Leben als Tänzer und später Choreograf vor allem in Europa.

Die Verbindung der beiden Kontinente Amerika und Europa wird somit erneut hier bekräftigt.

Absprung IV“ heißt hingegen das Programm der Choreografen von morgen mit den Schülerinnen und Schülern der Ballettschule vom Hamburg Ballett, welches übrigens jetzt erstmals ohne den Namenszusatz von John Neumeier firmiert.

Ob das wohl eine so glückliche Entscheidung war? Wie eng das Hamburg Ballett mit seinem Gründer verbunden ist, zeigt sich ja gerade jenseits der Tanzheimat an der Alster.

Jedenfalls sind es bisher fünf Programme, die zu sehen sind, und als sechstes gibt es mit dem lebendigen „Tanzatelier“ am 28. September 24 um High Noon (12 Uhr mittags) vor der so genannten Kurmuschel in Baden-Baden ein fröhliches, unvoreingenommenes Miteinander mit Tanz. Auch hier hat das Bundesjugendballett die segensreichen Finger mit drin, leitet an, hilft, macht Mut und gute Laune.

The World of John Neumeier

Das Joffrey Ballet Chicago tanzt 2024 in Baden-Baden: Hier die „Golden Hour“ von Nicolas Blanc. Foto: Cheryl Mann

Zwei plus vier Erlebnisse – die beiden Meisterwerke von Neumeier nach Tennessee-Williams-Arbeiten sowie die weiteren Programme – werden dann noch ergänzt von einem „Salongespräch“ zwischen John Neumeier und Ashley Wheater, dem künstlerischen Chef vom Joffrey Ballet.

Und als Nachklang in der industriellen Reproduktion gibt es dann noch zwei Kino-Events: Zum Einen am 6. Oktoner 24 das wirklich mitreißende Portrait „John Neumeier – ein Leben für den Tanz“ von Andreas Morell, welches – wie auch das Ballett „Die Glasmenagerie“ – derzeit noch online auf arte.tv steht (siehe unten).

Der extendierte Schlusspunkt der Auseinandersetzung mit Tennessees Amerikakritik mag zudem der Genuss der Verfilmung der „Endstation Sehnsucht“ mit Marlon Brando in seiner unsterblichen Glanzrolle sein. Das ist schon deshalb interessant, um die Unterschiede zur Vertanzung des Themas zu sehen. So nur am 4. Oktober in Baden-Baden.

Außerdem gibt es eine Signierstunde mit John Neumeier vor Ort. Wo und wann ist die Preisfrage. Wer es herausfindet, darf sich mit geeigneter Schreibunterlage beim Meister einfinden. Viel Glück!
Gisela Sonnenburg

https://www.festspielhaus.de/festivals/the-world-of-john-neumeier/

https://www.arte.tv/de/videos/119448-000-A/die-glasmenagerie/

https://www.arte.tv/de/videos/110289-000-A/john-neumeier-ein-leben-fuer-den-tanz/

(auf arte.tv verfügbar bis 28.09.24)

 

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