Der Erfolg einer Gala bemisst sich sowohl an den einzelnen Auftritten als auch an der Gesamtwirkung. Kumiko Noshiro, Geschäftsführerin der Munich International Ballet School, hat nun schon im dritten Jahr in Folge etwas geschafft, für das nicht nur das bayerische Publikum die Ohren und Augen weit offen hat: eine sowohl glanzvolle als auch ergreifende Gala auf die Ballerinenfüße zu stellen. Im Carl-Orff-Saal im Gasteig in München schmolzen am vergangenen Freitag beim Programm der „3. Internationalen Ballettgala – Die Welt zu Gast in München“ die Herzen der Fans dahin: als Stars vom Bayerischen Staatsballett, vom Hamburg Ballett sowie aus der internationalen Gala-Szene mit hochkarätigen Pas de deux auftraten.
Der Anfang gehörte allerdings der Jugend.
Die Schülerschaft der Munich International Ballet School (IBS) bot unter dem Titelmotto „Live Laugh Play“ eine schwungvolle Choreografie von Pedro Dias, die es ihr erlaubte, sowohl freche als auch brave, getragene wie auch mitreißende Facetten ihres Könnens zu zeigen. Die Teenager hielten dabei zusammen, überzeugten als Gruppe wie auch in Einzeltänzen. Hier ging es, wie der Titel („Lebe, lache, spiele“) schon vermuten lässt, um Tanz als Antidepressivum, um Ballett als überzeitliche, spielerische, begeisternde Kunst.
Sarah Dadonova vom Tanzkonservatorium Prag, die einen Tag zuvor den Tanzwettbewerb in München gewonnen hatte, zeigte dann ein kurzes Solo: technische Virtuosität, Vielseitigkeit, Charme, gepaart mit einer starker Ausdruckskraft, versprechen viel für die Zukunft der jungen Dame.
Mit „Bacchanalia“ von Alexander Gorski tanzten dann zwei einstige Publikumslieblinge vom Bayerischen Staatsballett, die kindhaft zierliche Katherina Markowskaja und der stark und groß gebaute Maxim Chashchegorov, ein selten dargebotenes Stück, dem man nicht ansieht, dass es bereits rund hundert Jahre alt ist. Das rauschhafte, tänzerische Mann-Frau-Spiel voller Hin und Her und Neckereien, aber auch voller Hingabe aneinander liegt beiden Interpreten im Blut. Ein Pas de deux aus der Wiege der russischen Moderne – voilà!
Ganz anders dagegen der „Dying Swan“ von Mario Radacovsky, einem 46-jährigen Choreografen, der hier nicht die Musik von Saint-Saens verwendet, sondern an den durch Peter I. Tschaikowsky gestifteten Schwanen-Mythos anknüpft. Der Bösewicht Rotbart aus dem klassischen „Schwanensee“ darf sich hier mal als edler Schwan vorstellen – ein Konzept, das wohl zu Moral bekehren möchte, dieses aber nicht unbedingt zu schaffen vermag. Ein sehr begabter Solist aus Brno – Thoriso Magongwa – verkörperte diese bemühte Fantasie, die jedoch eher experimentell als ausgereift erscheint. Vielleicht überarbeitet der Choreograf sein Konzept nochmal.
Der „Last Touch“ von der South Bohemian Company aus Tschechien (Choreografie: Zedenk Mladek) bestach hingegen mit Laszivität durch und durch. In schwarzen Hosenkostümen tauchte das tanzende Paar ab in die Sphäre der Verführung – langsam, schlicht und eindringlich auf das Erotische konzentriert. Übrigens ist Lukas Slavicky, früher langjähriger Primoballerino vom Bayerischen Staatsballett, der Chef dieses außergewöhnlichen Ensembles.
Mit „Love Fear Loss“ („Liebe, Furcht, Verlust“) kam dann vom Royal Ballet of Flanders ein neoklassischer Ansatz, der haushoch überzeugte! Fließende, geschmeidige Bewegungen illustrierten die Festigung einer Paarbeziehung durch gemeinsam bewältigte Verlustangst. Warum nicht? Besser so, als wenn eine Beziehung langsam zerbröselt, weil man nicht miteinander redet.
Aber mitunter ist ja auch der Seitensprung das Salz in der Suppe der Lebensliebe. „Anna Karenina“ erfreut sich derzeit unerhörter Beliebtheit, als Thema, was wohl damit zusammen hängt, dass die Frauen auf den überfüllten Arbeitsmärkten weltweit wieder zunehmend von den Männern finanziell abhängig und in die Rolle der Ehefrau und Mutter gedrängt werden. Wodurch ihr Ehebruch viel dramatischer erscheint, als wenn Anna Karenina eine emanzipierte, finanziell unabhängige Frau wäre. Dann könnte man sicher über alles reden – männliche Seitensprünge führen ja auch nicht immer zwangsläufig in irgendeine Katastrophe.
Im Gasteig war nun ein wunderschöner Auszug zur Musik von Rodion Shchedrin zu sehen, der einst für seine Gattin Maja Plisetzkaja diese aufreibende Partitur schrieb. Die Choreo von Tomasz Kajdanski wurde von Daria Sukhorukova – der ehemaligen Münchner Primaballerina – und Mateusz Sierant aus Posen getanzt. Es ist jene Szene, in der Anna sich mit Wronski auf ein Verhältnis einlässt, das ihr Leben komplett verändern wird und das sie in sexueller Hinsicht sozusagen erweckt. Gänsehauttreibend!
Das Moderatorenduo Erich Payer und Armin Frauenschuh hatte denn auch gut zu tun, so tolle Glanzstücke des Balletts anzukündigen!
Die Junior Company vom Bayerischen Staatsballett, die sich mittlerweile auch gern Bayerisches Jugendballett München nennt, bot dann in einem Stück von Maged Mohamed etwas Sinnliches zu sakraler Musik. Der mit Verlaub leicht beknackte und auch nicht aufzulösende Titel „Stimmenstrahl Trio“, der auf zwei Tänzer und eine Tänzerin hinwies, wurde inhaltlich nicht besser durch die Choreografie, aber die begabten Nachwuchstänzer machten das Beste draus und dadurch neugierig.
Ein Wort noch zur Finanzierung dieser kleinen Truppe: Irène Lejeune, millionenschwere Unternehmerin, machte ja 2016 wehklagend auf sich aufmerksam, weil ihr – und nicht nur ihr – die damalige Politik des jetzigen Ballettdirektors Igor Zelensky nicht passte und sie deshalb ihre Gelder als so genannte „Botschafterin“ des Balletts (naja, wer Geld hat, hat noch lange keine Kultur oder Botschaft) vom Bayerischen Staatsballett (BS) abzog.
Später kam dann heraus, dass sie ihre Knete einfach nur dem an die Heinz-Bosl-Stiftung gewechselten Altdirektor vom BS hinterhertrug. Leider hat so ein Verhalten ein übles Geschmäckle. Lejeune hätte besser gleich gesagt, dass sie ihre Spenden an die Person von Ivan Liska knüpft. Das hätte ehrlich ausgeschaut. So aber wirkt die Sache rückblickend wie ein abgekartetes Spiel.
Geht es bei dieser Art von Mäzenatentum wie bei der Münchner Junior Company eigentlich noch um Ballett – oder um eine alte Kumpanei, gar um die Erneuerung einer wie auch immer gearteten Liebschaft? Und macht Liebe in diesem Fall blind?
Dass Igor Zelensky seinen Kurs änderte und mittlerweile sehr fein das typische Münchner Compagnie-Profil beim BS erstrahlen lässt, würde ihn außerdem zu einem Kandidaten für das Geld von Lejeune machen. Aber diese ist wohl auf den schönen Ivan festgelegt…
Dieser wiederum hat unzweifelhaft große Verdienste, als Ballerino ebenso wie als Ballettdirektor. Dennoch macht er heute mit seiner Lejeune eine vor allem peinliche Figur. Die Homepage der Stiftung bestätigt diesen Eindruck ungewollt – fett prangt da Lejeunes Name an prädestinierter Stelle, als sei sie eine Art Impresario, Kreativdirektorin oder künstlerische Macherin. Hahaha! Das nennt man: Buckeln vor dem Geld. Pfui, Herr Liska!
Zum Glück kamen dann auf der Gala im Gasteig noch andere Künstlerinnen und Künstler, ohne Skandalgeld an den Hacken, zum Zuge:
Die exzellente und doch warmherzige Ivy Amista und der stetig souveräner werdende Erik Murzagaliyev vom Bayerischen Staatsballett versetzten einen mit dem „Adagio of Spartacus“, also mit dem großen Pas de deux der Liebenden in der originalen „Spartacus“-Choreografie von Yuri Grigorovich, in den siebenten Balletthimmel!
Welche Anmut, welche modern gefasste Positur, welche Kraft und welcher Ausdruck! Hier gehen die Liebe und die Freiheit Hand in Hand, und wenn der Erik die Ivy in die bekannten ultraschönen Lifts hebt, dann laufen vielen Ballettomanen die Tränen der Rührung über die Wangen. Toll!
Das ist nun kaum noch zu steigern, aber es gibt ein Paar, das ebenfalls zum beglückten Weinen bringt und womöglich noch mehr Schmelz auffährt:
Natasha Kusch (freie Starsolistin, früher beim Wiener Staatsballett und eine unverwechselbar elegante Geschmeidigkeitsballerina) mit Alexandr Trusch (Primoballerino beim Hamburg Ballett und sicher einer der weltbesten Tänzer überhaupt).
Mit dem klassisch-romantischen Pas de deux aus dem zweiten Akt von „Giselle“ in der Originalchoreografie bringen sie zum Schluchzen, zum Hoffen und Bangen, schließlich zu unbändiger Freude.
Wenn Kusch als Erinnerung an den ersten Akt ein imaginäres Blümchen zupft („er liebt mich, er liebt mich nicht“) und wenn Trusch seine überirdisch schönen Sprünge vollführt, dabei hinreißend verträumt im Ausdruck, dann wäre man sofort bereit, in den Wili-Hain einzutreten, um das noch öfter und aus größter Nähe zu sehen. Ah! Oh! Uh!
Nach der Pause dann kam etwas zur Besänftigung. Die „Spring Waters“ von Asaf Messerer knüpfen zugleich an die Geschichte der Moderne im Ballett an.
Ivy Amista und Erik Murzagaliyev tanzen dieses becircende Stück mit frühlingshafter Leichtigkeit und müheloser Verliebtheit.
Beide in Hellblau gewandet, verleihen sie dem festlich-aufwühlenden Flair des Stücks die richtige bereits neoklassische Anmutung.
Die pompöse, trompetenreiche Musik von Sergej Rachmaninow unterstreicht das abwechselnd dynamische und lyrische Pathos dieses „Quellwassers“. Rasant und klar sind die Hebungen, die die Schönheit und Majestät der Frau feiern, und leidenschaftlich sind die Umarmungen, in die sich diese Königin freiwillig bodennah hineinwirft.
Und dann kam noch ein Pas de deux der Extraklasse: Rosa Pierro aus Budapest und Rinaldo Venuti aus Warschau bringen in der Originalchoreo von Marius Petipa den fetzigen Pas de deux aus „Esmeralda“. Das ist Klassik satt, mit allen Finessen, die hier vorgesehen sind, etwa mit dem Tambourin, das in höchster Schwierigkeitsstufe eingesetzt wird.
Rosa Pierro weiß dieses mit allen möglichen Körperteilen zu bedienen, und Rinaldo Venuti platzt schier vor Lebensfreude und Tanzlust an ihrer Seite. Ein Jauchzen für die Ewigkeit ist dieser Paartanz, ganz aus dem Moment heraus und insofern irgendwie auch modern. Danke, Petipa, für all deine Dauerbrenner, ohne die unser Ballett heute unmöglich wäre!
Es folgt das jahreszeitliche Gegenstück, nämlich ein elegisch-zeitgenössisches Pas de deux mit dem Titel „Fall“ („Herbst“). Aki Saito und Wim Vanlessen aus Flandern zelebrieren das reife Stück von Sidi Larbi Cherkaoui zur Musik von Arvo Pärt.
In rotbraunen Kostümen geht es hier um den Abschied vom Sommer, von der Sorglosigkeit, der die menschliche Wärme der Liebenden entgegen gesetzt wird. Schön, allerdings nicht so nachhaltig, dass man von Unvergesslichkeit sprechen könnte.
Das Konzept sieht dann erneut Kontraste vor. Ganz strikt klassisch kommt darum Daria Sukhorukova mit dem „Schwanensee“ einher, mit Mateusz Sierant tanzt sie den Pas de deux aus dem zweiten Akt.
Klare Linien, keimende Liebe; Ängste, Wünsche, entstehende Bande der Vertrautheit – sehr gefühlvoll in den gestrengen Iwanow-Linien wirkt das Bühnenpaar und zudem sicher in dem, was es erhofft.
Doch dann rauscht noch einmal die ganz große Weltkunst herein! Natasha Kusch und Alejandro Vireilles – auch ein schönes Paar – tanzen den „Schlafzimmer-Paartanz“ aus der Grotte aus „Le Corsaire“. Die historische Inszenierung von Konstantin Sergejev sieht hier viel gegenseitige Dankbarkeit vor, was den beiden Stars sehr gut gelingt.
Sie ihm Flattergewand, er im Piraten-Outfit: Es ist ein Stück wie aus Hollywood, das die Szenerie belebt. Die Frau als gerettete Beute des schönen Mannes, der sie auf Händen trägt… ach, soviel Mut zur Kitschnähe muss man erstmal haben, um sich ein solches Libretto bzw. eine solche zugrunde liegende Dichtung (wie „The Corsair“ von Lord Byron) auszudenken. Na, Marius Petipa, der die Uraufführung besorgte, hatte den Schneid.
Kontrast, Kontrast! „Ralph and Roses“ ist eine etwas merkwürdige Selbstdarstellershow mit reichlich Requisite, von Rollschuhen bis zu Konfetti, ohne, dass klar wird, was das Zucken und Zappeln zum angeschrägten Disco-Sound überhaupt soll. Nikita Korotkov tanzte und inszenierte sich – nun ja. Vielleicht ist das nur eine Frage des Geschmacks?
Dafür brillieren dann noch Spitzentänzer dieses Ballettwelt, von denen man wahrscheinlich überhaupt nie genug bekommen kann:
Maria Eichwald, einst Stuttgarter Primaballerina, und Alexandr Trusch, der schon erwähnte Hamburger Stern, zeigen den 1975 von John Neumeier für Natalia Makarova und Erik Bruhn in New York (unter dem Titel „Epilogue“) kreierten Duotanz „Adagietto“.
Das Publikum der jüngsten Ballett-Werkstatt beim Hamburg Ballett hatte übrigens ebenfalls der große Vergnügen, diesen Paartanz in dieser Besetzung zu bestaunen – weltbewegend, dass so etwas auch bei einer Matinee stattfinden kann. Sehr fortschrittlich, liebe Hamburger!
Die Musik aus der 5. Sinfonie von Gustav Mahler vereinnahmt bereits und versetzt ins Gefühlige, aber die Choreografie nimmt einen dann mit auf eine Reise in eine Beziehungsseligkeit, die keineswegs ungebrochen oder simpel ist.
Fast wie ein Kampftanz in Zeitlupe muten manche Passagen an, aber auch die Innigkeit und die Spiritualität der Momente, wenn zwei Menschen zueinander finden, sind hier auf den Punkt gebracht.
Es beginnt mit einem Solo des Mannes, der sich mit der Musik unter zahlreichen Sprüngen und Posen auseinandersetzt und dabei seine eigene Balance findet.
Erst dann läuft sie – bis dahin in die Kulissen schauend – auf ihn zu, und ein Synchrontanz entspinnt sich, der rasch in vollkommene Harmonie übergeht.
Schließlich ehrt er sie, indem er vor ihr liegt – und sie erzählt ihm von einer Zukunft, die sie hätten, voller Sternenglanz und Mühsal, diesen zu erreichen.
Er nimmt an – und gemeinsam tragen sie das Los des Lebens, wie nur Paare es angehen können.
Wie gut, dass das Hamburg Ballett in der kommenden Spielzeit die 1989 von Neumeier komplettierte „Fünfte Sinfonie von Gustav Mahler“, von der dieses Pas de deux ein antizipierter Teil ist, unter dem Titel „All our Yesterdays“ ganz zeigt!
Am Ende liegt die Frau in diesem kleinen Adagio mit erotisch durchgebogenem Rücken auf den Knien des am Boden sitzenden Mannes, während sein Arm erneut den Sternenbogen beschreibt.
Tosender Applaus. Man hat ein neues Traumpaar der Ballettgeschichte gesehen!
Da passt es nur zu gut, dass Lucia Lacarra und Marlon Dino, berühmt als Gala-Superstar-Paar, ihr bewährtes Pas de deux „Spiral Twist“ von Russell Maliphant zur Musik von Max Richter tanzen.
Hier fasziniert die kontinuierliche Spannung im Adagio-Tempo, mit der der kräftige Marlon die zierliche Lucia empor hebt und in die verschiedensten Diagonal-Posen bringt.
Die Spirale ist hier als ästhetische und inhaltliche Metapher zu verstehen: Mann und Frau tanzen der Unendlichkeit entgegen, sich in Kreisen verstehend, dabei aber immer weiter vorschreitend, in die Tiefen des Seins.
Niemand zählte die verzückten Lobpreisungen, die sich über dieses Jahrhundertpaar des Balletts aus dem Publikum danach ergossen – aber gefühlt waren es Tausende.
Wenn nun völliger Rausch in Ästhetik und Gefühl der Sinn und der Zweck einer Ballett-Gala ist, dann hat Kumiko Noshiro das Ziel mal wieder erreicht.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg