Bonjour, Tristesse, adieu – et au revoir! Aufs Wesentliche reduziert: „Romeo und Julia“ in der Choreografie von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin

"Romeo und Julia" von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin - mal was anderes

Polina Semionova nach der Premiere von „Romeo und Julia“ in der Inszenierung von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin: glücklich und gefasst. Foto: Gisela Sonnenburg

Neues vom Staatsballett Berlin (SBB): Berlins scheidender Ballettintendant Nacho Duato lässt seine 1998 in Madrid uraufgeführte „Romeo und Julia“-Version nun vom SBB in der Staatsoper Unter den Linden tanzen. Mit der superben Gastballerina Polina Semionova als Julia – sie tanzte diese Duato-Partie bereits am Sankt Petersburger Mikhailovsky-Theater – und mit dem burschenhaften Ivan Zaytsev als Gast aus Russland – wurde diese Berliner Premiere ein voller Erfolg. Zwei weitere Besetzungen mit Elisa Carrillo Cabrera und dem Newcomer Cameron Hunter bzw. mit Ksenia Ovsyanick und Dinu Tamazlacaru (alle vier vom SBB) versprechen ebenfalls große tänzerische Brillanz. Allerdings: Wer sagt denn, dass es leicht ist, das schon seit langem schier zu Tode inszenierte Stück „Romeo und Julia“ neu zu machen und dabei glaubhaft und plausibel zu sein?

William Shakespeares berühmtestes Liebespaar (1595), das himmelhochjauchzend glücklich liebt, aber abgrundtief traurig stirbt, ist als Sprechtheaterstück das Standardstück für jedes Stadtheater. Und im Ballett gibt es von keinem anderen Stoff so viele verschiedene eigenständige Inszenierungen.

"Romeo und Julia" von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin - mal was anderes

Nacho Duato (vierter von links vorn) und das Staatsballett Berlin, mit Polina Semionova und Ivan Zaytsev vorn, beim Schlussapplaus der Premiere am 29. April 2018 in der Staatsoper UdL. Foto: Gisela Sonnenburg

Was auch daran liegt, dass Marius Petipa – der für viele andere Ballettgeschichten einen Maßstab setzte und mit „Ein Sommernachtstraum1877 sogar ein heute leider vergessenes ShakespearePetipa-Ballett schuf – eben keinen „Romeo“ gemacht hat.

Auch sonst gibt es im Fall Romeo keine allgemein verbindliche „klassische“ Ballettversion, die allen nachfolgenden als solide Grundlage dienen könnte.

So kreieren und experimentieren alle interessierten Choreografen selbst ganz neu – oder versuchen es mehr oder weniger.

Das geht mitunter bis ins Extreme: Stijn Celis machte in jüngster Zeit ein modern-flippiges Tanztheater draus, Mauro Bigonzetti nahezu ein Nacktballett.

Kenneth MacMillan kreierte hingegen 1964 im damals swingenden London den bis heute gültigen britischen, vornehm, aber sexy in Flattergewändern dargebotenen „Romeo“. Wie die meisten Choreografen nutzte er dafür die 1933/36 in der Sowjetunion uraufgeführte, programmatisch-sinnliche Ballettpartitur von Sergej Prokofjew.

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Ein Dreamteam für „Romeo und Julia“ in der Inszenierung von John Neumeier beim Hamburg Ballett: Florencia Chinellato und Alexandr Trusch. Foto: Holger Badekow (Leider nicht in dieser noch in der kommenden Saison zu sehen)

Außerdem gibt es Dutzende weitere, mal mehr, mal weniger bedeutende Varianten: von der herausragend stimmigen, auch detailreichen, dramaturgisch wie psychologisch voll durchgearbeiteten und beim Publikum nicht nur in Hamburg zurecht absolut beliebten Fassung von John Neumeier (1971/1981) über die weltpolitisierende und in der Zweitversion sogar den Mauerfall aufgreifende Sowjet-Version von Yuri Grigorovich (1979/90) bishin zur kindlich-verniedlichenden Interpretation zur Musik von Hector Berlioz von 1839 durch Sasha Waltz (2007), die damit in Paris eines ihrer gelungeneren Werke schuf.

In Berlin hatte indes schon Tatjana Gsovsky an der „Lindenoper“ 1948 den Anfang mit einem – durchaus modern-expressiven – „Romeo“ gemacht.

Und seit 1962, seit John Cranko seinen furios-pompösen „Romeo“ in Stuttgart uraufführen ließ, gibt es in Deutschland sogar so etwas wie eine Romeo-Richtschnur, die auch das Staatsballett Berlin (SBB) seit 2011 sehr erfolgreich im Repertoire hatte.

Die Staatsoper Unter den Linden kann sich heute derweil wundern: So leer wie mit Nacho Duatos „Romeo“ war ihre Bühne während eines zweieinhalbstündigen Handlungsballetts lange nicht.

Das liegt am Bühnenbild. Jaffar Chalabi, der sich in seinen Entwürfen nach Carles Puyol und Paul Renda richtete, schuf nämlich eine Art Raumschiffdesign, das vor allem aus rautenseligen Wänden und aus wenigen, lichtschachtähnlichen Toren und Fenstern besteht.

Dieses Bühnenbild ist der Hinkefuß der Inszenierung – die Proportionen wirken auf der großen Staatsopernbühne missraten statt ästhetisch, und die große Leere, die an sich puristisch wirken und das Augenmerk auf den Tanz lenken soll, drängt sich immer wieder als Störfeld auf.

Die sorgsam von der Renaissance inspirierten, modisch hoch eleganten Kostüme von Angelina Atlagic können das nur teilweise ausgleichen. Zu sehr wirkt das Bühnengefilde wie eine einzige Tristesse, futuristisch, aber eben wie eine Ödnis.

Obwohl sich das durchaus interpretieren lässt – Romeo und Julia leben hier eben nicht im bunten, lebensfreudigen, touristenfreundlichen Italien, sondern in einer unterdrückerischen, auch grausamen und fantasielosen Gesellschaft – ist eine solche Langeweile ästhetisch schwer auszuhalten.

Auch das Licht von Brad Fields überzeugt darin nur wenig, ist es doch meistens zu dunkel (sagen wir mal, wie es ist: schummrig) und farblich zudem außerordentlich einfallslos. Nicht mal Mondschein in der Balkonszene gibt es!

Aber der Tanz!

Aber die Spielfreude der Protagonisten und das hoch motivierte, in kleinen Soli wie in mittelgroßen Gruppenszenen – Massenszenen gibt es hier gar nicht – absolut hingebungsvolle Ensemble!

Also: Diese tollen Tänzerinnen und Tänzer!

Sie reißen alles raus, machen alles wett. Sie begeistern, sie machen den Abend sehenswert und lassen Kleinigkeiten wie große Dinge aussehen.

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Bravo für die Protagonisten und den Corps vom Staatsballett Berlin! Nach der Premiere von „Romeo und Julia“ von Nacho Duato in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Gisela Sonnenburg

Sie machen klar, in was für einer Gesellschaft dieser „Romeo“ spielt – in einer einzigen Tristesse, die unterschwellig bedrohlich wirkt – und warum diese herzzerreißende Liebesgeschichte so tragisch enden muss: weil Menschen unter solchen Verhältnissen besser zerstören als aufbauen können.

Damit hat es sich dann allerdings auch schon mit Tiefsinn.

Nacho Duato verzichtet darauf, den Krieg der Clans in „Romeo“ politisch zu unterfüttern oder en detail darzustellen.

Es bleibt bei Wutbürgern, die gern aufeinander losgehen, wobei insbesondere der heißblütige Tybalt, Julias Cousin – grandios getanzt und gespielt von Federico Spalitta – ein regelrechter Stänkerer ist.

Er ist hier der eigentliche Aggressor, der bei jeder Gelegenheit einen Streit anzettelt. Und dann immer willige Gegenwehr, willige Mitkämpfer findet…

Der Marktplatz von Verona schwelgt hier in beigebrauner, gräulicher Farbigkeit. Außer den stilisierten Requisiten – Körben und Heugabeln – gibt es nichts, das an das Treiben auf einem italienischen Marktplatz erinnern könnte. Der vorab versprochene Orangen- und Jasminduft der Inszenierung bleibt aus (es sei denn, man hat sich selbst ausreichend parfümiert).

Dafür wirken diese reduzierten Utensilien umso stärker. Man bemerkt: Diese Gesellschaft ist eigentlich arm, und nur die Familie der Capulets, also Julias Sippe, ist reich und mächtig. Julias Verwandte tragen denn auch kostbaren Samt, mit Goldbändern geädert.

Ballerinen wie Sarah Mestrovic wissen das Kostüm mit Bedacht und Anmut zu tragen und darin erhaben zu tanzen. Einige sehr schöne Arabesken und Pas-de-deux-Drehungen sind so zu erleben – in den tänzerischen Details liegt ohnehin der große Wert dieser Inszenierung.

Romeo Montague ist hier keineswegs – wie im Shakespeare’schen Original – bereits mit einem Mädchen liiert. Vielmehr wird er von einer jungen Dame namens Rosaline im Vorbeigehen abgewiesen, und zwar knallhart. Tja, da ist nichts mehr zu machen! Diese Eine will nicht…

Ivan Zaytsev tanzt und spielt den agilen Romeo als abenteuerlustigen, fast liebestollen Bengel, der arglos in seinem für männlich gehaltenen Stürmer-und-Dränger-Sein aufgeht. Es ist nun kein Wunder, dass er bei den Damen damit nicht so sehr gut ankommt, bei seinen Jungs und Kumpels aber sehr beliebt ist.

Zaytsev macht diesen Charakter deutlich und büßt doch nichts an Charme und Finesse ein. Er ist ein Romeo zum Verlieben, wenn man zwei Mal hinschaut – und wenn man sich auf seine erotisch-exzessive Körpersprache einzulassen vermag.

Polina Semionova wiederum beherrscht die Kunst des Tanzens und Spielens mit dem Körper mittlerweile in einem Ausmaß, das über Kritik wirklich erhaben ist. Es ist selten, dass eine ohnehin superbegabte und auch weltweit erfolgreiche Primaballerina sich von Jahr zu Jahr noch so stark weiter entwickelt, bis sie in jedem Fingerzeig und jedem Kopfnicken auf der Bühne so authentisch ist.

"Romeo und Julia" von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin - mal was anderes

Sie ist Julia, und sie ist eine der größten, weil menschlichsten Ballerinen unserer Zeit: Polina Semionova. Bravo! Foto vom Schlussapplaus nach der Premiere: Gisela Sonnenburg

Kein Zweifel: Polina ist Julia, sie verschmilzt mit der Rolle der neugierigen, offenherzigen, vor Gier auf Leben und Liebe nur so Funken sprühenden jungen Lady ganz und gar.

Dass sie hier das ganze Stück scheinbar barfuß bzw. ohne Spitzenschuhe tanzt, scheint ihr nichts auszumachen – ausgerechnet La Semionova, von der man sonst den Eindruck hat, dass sie bereits in Spitzenschuhen zur Welt gekommen ist (wobei man natürlich ahnt, dass dieses Ergebnis nur mit sehr harter Arbeit erzielt wurde), tänzelt und flutscht mit einer Lockerheit und Bodenverbundenheit barfuß über die Bühne, als sie diese eine grünende, taufrische Wiese.

Ganz in Weiß steht sie in jeder Szene für die Besonderheit einer Madonna.

Von Romeo und seinen Freunden kommt allerdings eine ganz andere Energie:

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Arshak Ghalumyan – hier sein Presseportrait vom Staatsballett Berlin – tanzt und spielt mit Verve den Mercutio in Nacho Duatos „Romeo und Julia“. Foto: SBB

Vor allem Mercutio – ganz hervorragend von Arshak Ghalumyan getanzt und mit köstlich clownesker Note gespielt – drängen auf Taten, die die Welt verändern. Ihnen genügt es nicht, irgend etwas brav mitzumachen. Sie mögen Remmidemmi – und Ghalumyan hat etliche Soli, in denen er mit Schalk und Sprüngen wie dem in den Herrenspagat aus dem Stand heraus zum glänzenden Alleinunterhalter wird.

Auch Nikolay Korypaev tobt solchermaßen über die Bühne, auch er verströmt Jungmanncharme und Spaß an Kumpanei, sodass man sich diesen Boys am liebsten anschließen möchte.

Das Trio hat sich hier indes verdoppelt, denn Nacho Duato führte – vielleicht von John Crankos furioser Narrenshow in der Maskenballszene angeregt – drei Harlekine ein, die wie Dominos im schwarz-weiß-gewürfelten Wams über die Bühne tollen.

Vladislav Marinov, Wei Wang und Dominic Whitbrook tanzen diese drei Geschöpfe ganz vorzüglich: mit Schmelz!

Sie präsentieren Romeo außerdem in einer geheimnisvollen Schatzkiste ein gewürfeltes Wams – damit sowie mit einer Maske ist er dann für den heimlichen Besuch eines Balls bei den Capulets gerüstet.

Die Capulets werden vor allem von dem schon erwähnten Tybalt sowie von den Eltern Julias gekennzeichnet.

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Aurora Dickie ist als Lady Capulet keine in der Etikette gefangene Frau, sondern eine lebendige Person in ihren besten Jahren. Foto: Fernando Marcos

Aurora Dickie ist eine energische, liebevolle, gar nicht steife, sondern sogar gern in folkloristisch angehauchten Posen tanzende Lady Capulet. Sie wird plastisch deutlich als Frau der Gesellschaft, die für ihre Familie stets das Beste will.

Vor allem aber ist sie von großer Lebendigkeit – sie ist eine viel beschäftigte Dame, die ein großes Haus führt, die aber keineswegs in irgendeiner Etikette zu erstarren droht.

Die Pas de deux mit ihrem sehr aktiven Mann, Lord Capulet, der mit Alexej Orlenco faszinierend präsent ist, sind Kleinode der Ballettgeschichte, die man nicht verpassen sollte.

Diese beiden Figuren sind keine altertümlichen Relikte aus angestaubten Märchenszenerien, sondern sie sind nachgerade moderne Menschen in ihren besten Jahren, denen man die Liebe zueinander ebenso abnimmt wie die Bemühung um Festigung ihrer gesellschaftlichen Position.

Aber da gibt es noch jemanden in Julias Leben: Graf Paris (sehr anständig, charmant, fast zurückhaltend, dennoch sympathisch: Olaf Kollmannsperger). Er hielt um ihre Hand an, die Eltern möchten, dass Julia ihn ehelicht.

Ja, und an sich ist er ihr auch ganz recht… würde da nicht mit Romeo die ganz große erotische Liebe in ihr Leben platzen.

Es ist sicher dieser Aspekt der Geschichte, warum Petipa und andere Ballettleute nicht vor Prokofjews Musik Romeo-und-Julia-Ballette schufen. Zu eindeutig sexuell war ihnen wohl die Bedeutung der ersten starken Liebeserfahrung. Zumal sich ein solches Gefühl für ein minderjähriges Mädchen im 19. Jahrhundert eher gar nicht ziemte.

Erst im Zuge der sexuellen Enttabuisierungen seit den 60er Jahren trauten sich Choreografen, das Stück als das zu inszenieren, was es ist: eine Demonstration der erotischen Kraft von Teenagern, die den Aggressionen der Erwachsenenwelt krass entgegen steht.

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Körperliche Liebe: „Romeo und Julia“ in ihrer heimlichen Hochzeitsnacht, getanzt von Ivan Zaytsev und Polina Semionova. Foto: Fernando Marcos

Ballett als Körperkunst muss natürlich ungleich deutlicher sein als etwas Sprechtheater. Im Theater himmeln sich Romeo und Julia mit wortreichen Liebeselogen an. Das hat zumindest optisch nichts Obszönes. Aber im Ballett muss man Bein zeigen. Verschlungene Körper. Wenn man so will: körperliche Erotik.

Eine so unverfälschte sexuelle Anziehungskraft, wie Shakespeare sie schildert, die zudem bei so jungen Leuten ausgelöst wird und einen blutigen Gesellschaftskonflikt herauf beschwört, muss ohne humoristische Verbrämung (wie etwa in „Ein Sommernachtstraum“) im Ballett nahezu pornografisch wirken.

Das dachten sich zumindest die Patrone der Tanzkunst vor dem zweiten Weltkrieg.

Eine Ausnahme gibt es: die Ballets Russes von Serge Diaghilev.

Diesem kongenialen Impresario konnte es gar nicht heiß genug zugehen auf der Bühne, der Entdecker von Talenten wie Vaslav Nijinsky und Tamara Karsavina ließ 1926 in London ein Kurzballett, also ein nicht abendfüllendes Stück namens „Romeo and Juliet“ mit Karsavina als Julia und Serge Lifar als Romeo uraufführen. Die Choreografie kam von Bronislava Nijinska, der Schwester von Nijinsky. Der Tenor der Inszenierung war auf Diaghilevs Wunsch hin surrealistisch-grotesk, an Max Ernst und Joan Miró orientiert. Und hier finden wir auch schon die karnevalistischen Domino-Kostüme, die später John Cranko und Nacho Duato inspirieren sollten. Man sieht mal wieder, wie fortschrittlich Diaghilevs Truppe und seine Ideen waren – sogar dann, wenn sie mal keinen Supererfolg damit hatten.

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Ein Moment, auf den es ankommt: Romeo überreicht Julia eine Rose… später wird er sie sich zurückholen. Ivan Zaytsev vom Mikhailovsky Theater in Sankt Petersburg als Romeo und Polina Semionova als Julia in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Fernando Marcos

Wenn bei Duato endlich das Liebespaar aufeinander trifft, sind wir mit der restriktiven mediterranen, eher altspanischen als altitalienischen Gesellschaft, in der die Liebesgeschichte aller Liebesgeschichten hier spielt, bereits bestens vertraut.

Man tanzt, es soll ein großer Ball sein – dafür stehen allerdings ein paar Tänzerinnen und Tänzer zu vereinzelt auf der riesengroßen, leeren Bühne – und plötzlich schenkt Romeo Julia eine rote Rose, die aus der Schatztruhe der eine Darbietung zeigenden Dominos kommt. Oh!

Was für ein Moment! Sie ist sowohl entsetzt als auch begeistert, sehr passend ist das – denn Julia ahnt sofort, dass dieses Gefühl, das sie beim Anblick des stürmischen, noch maskierten Romeo befällt, nicht nur Gutes für sie bringt.

Romeo ist hier denn auch kein Kavalier, wie man sie aus kitschigen Filmen kennt, sondern er tollt gern am Boden herum und benimmt sich überhaupt noch recht kindlich. Seine Körpersprache ist stark sexualisiert, nicht im Sinne von Anmache, sondern im Sinne von Verlangen nach einem Partner oder einer Partnerin.

Ach, da lagert er sich am Boden, als würde er auf einem Bett liegen und zu wem auch immer rufen: „Nimm mich!“

Diesen Ausdruck hat Julia schon bemerkt, als er ihr mit der Rose kommt.

Und sie sofort damit erobert.

Zu einigen kurzen Pas de deux schaffen sie es auch noch gleich auf dem Fest, allerdings ist Tybalt ein eifersüchtiger Bewacher der Jungfräulichkeit seiner Schwester.

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In einer Kapelle feiern „Romeo und Julia“ ihre heimliche Hochzeit – in der Inszenierung von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin symbolisiert ein Lichtschatten ihr erhofftes Glück. Foto: Fernando Marcos

Es folgt die berühmte Balkonszene. Hier ist ein knallblau (?!) ausgeleuchtetes Fenster Julias Balkon, und als sie unten im Graufeld der Schatten ihren Romeo erkennt, kommt sie durch einen schmalen Lichtschacht – der wie eine Seitentür anmutet – aus dem Haus.

Der seidene Umhang Romeos wird jetzt zum Baldachin, zum Schutz, den sich beide Liebenden erhoffen, wenn sie Hand in Hand über die Bühne laufen, mit den Außenarmen überm Kopf das flatternde Textil wie ein Dach über sich hochhaltend. Wunderschön sieht das aus!

Der Paartanz ist innig und verliebt, aber eben auch durchsetzt von dunklen Gefühlen. Vor allem Julia wird den Eindruck wohl nicht los, dass dieser Junge hier ihr Leben nicht nur total verändert, sondern möglicherweise auch beenden wird.

Der Tod, der in so vielen Romeo-und-Julia-Inszenierungen fast zufällig erst am Schluss ins Spiel der beiden Liebenden kommt, ist hier von Beginn an fast greifbar.

Man hätte sich nicht gewundert, wenn ein dritter Akteur, ein dritter Tänzer mitmischen und solchermaßen den Tod verkörpern würde.

Denn eine solche Liebe, wie Romeo und Julia sie füreinander empfinden, hat keine Chance.

Wahrscheinlich in keiner Gesellschaft. Denn so totalitär, wie die beiden einander besitzen wollen, muss das Gefühl füreinander tödlich sein. So oder so. Es lässt keine Kraft, um zu überleben, um sich über das fürs Überleben Notwendige zu kümmern.

Ludwig Tieck hat diese allen wahrhaft Liebenden bekannte Problematik übrigens in der Novelle „Des Lebens Überfluss“ karikiert – auf seine sanfte, romantische, ironische Art und Weise.

Bei Shakespeare aber gibt es in diesem Punkt kein humoristisches Pardon.

Wer liebt, muss auf sich und den oder die Geliebten aufpassen – sonst droht Todesgefahr!

Im Fall von Romeo ist es zudem noch so, dass die beiden Familien, denen die Liebenden angehören, verfeindet sind.

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Tommaso Renda machte am Ende des ersten Bildes als Herzog von Verona diese Feindschaft der Clans fast noch deutlicher als die streitlustigen Tänze von Tybalt und den von ihm aufgebrachten Gefolgsleuten.

Mit machtvoller Pantomime ermahnte er da die Veroneser zur Ruhe, gebot den Capulets und Montagues, ihre Fehde zu beenden.

Wir wissen, mit welchem Erfolg: Die Ermahnung zum Frieden manifestierte den Streit nur noch mehr.

Es ist ja tatsächlich Hass, was Menschen füreinander empfinden, wenn sie sich solchermaßen bekämpfen wollen. Dagegen kommen fromme Worte im Allgemeinen nicht an, auch nicht im Gewand der rechtsprechenden Autorität.

Nacho Duato zeigt das sehr gut, indem er die Szene des Herzogs hinter einem Gazevorhang spielen und insgesamt fast weltentrückt wirken lässt.

Was nützt schon ein kluger Fürst, wenn er sich nicht durchsetzen kann gegen den Mob und das Mobbing gerade auch der Reichen?

Die Liebe von Romeo und Julia will all das nicht wahrhaben. Beide träumen von einer gemeinsamen Zukunft. Und sie treffen sich in der Kapelle von Pater Lorenzo (ebenfalls von Tommaso Renda dargestellt, der hier aber zurückhaltend und lediglich hilfreich, nicht autoritär, agiert).

Nun punktet das Bühnenbild mit einem originellen Einfall: Ein hohes Kreuz ist keine Skulptur, sondern ein Ausschnitt in der Wand, hinter dem das Licht quillt. So wirft das Kreuz hier einen gleißend hellen Lichtschatten in Kreuzform auf den Boden, und auf diesem Exilgebiet des Reinen und Guten tanzen Romeo und Julia ihren Hochzeits-Paartanz. Ein Flattertuch hält wieder als Baldachin her, wie schon in der Balkonszene. Rührend.

Pater Lorenzo schaut nur kurz vorbei – schon ist das Paar gesegnet. Mehr biblische Worte brauchen sie nämlich nicht für ihr Glück, denn das ist von rein sinnlicher Kraft, die nicht nur aus dem Herzen, sondern auch aus dem Unterleib kommt.

Nach der Pause bricht das erwartete Unglück über die Liebenden.

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Federico Spallitta – hier auf dem Pressefoto vom SBB – agiert in Nacho Duatos „Romeo und Julia“ als wandelndes Zentrum der Aggression – sehr toll gruselig!

Auf dem Marktplatz, der wieder gar nicht danach aussieht, einer zu sein, entspinnt sich dank Tybalts Aggressivität wieder Streit. Dieses Mal sucht Federico Spallitta als Tybalt mit gezücktem Degen tanzend nach einem Gegner. Aber niemand außer ihm hat Lust auf ernsthaft gefährliche Kämpfe. Niemand außer Tybalt ist hier bewaffnet.

Mit Mercutio gibt es aber eine Rangelei, und der Übermütige denkt nicht daran, den zänkischen Tybalt zu meiden.

Als Tybalt zusätzlich zum Degen mit der anderen Hand einen Dolch zückt, rennt Mercutio in dieses tödliche Messer.

Wie üblich, ist sein Sterben auch in dieser Inszenierung ein makaber-schauriges, komisch-tragisches Moment, indem Mercutio zunächst vorspielt, er sei schwer verwundet, obwohl er es doch wirklich ist.

Arshak Ghalumyan hat hier Möglichkeiten zu brillieren, die er gänsehauttreibend nutzt!

Mercutios Tod kommt dann umso umbegreiflicher vor.

Romeo springt daher sofort auf den Plan, er vergisst, dass Tybalt durch seine heimliche Eheschließung schon sein Verwandter ist.

Er stürzt sich auf den Aggressor, mit einem Degen, und der blitzende Zweikampf der beiden ist ein Höhepunkt.

Als Tybalt am Boden liegt, hat Romeo keine Skrupel, zuzustechen.

Er ist halt kein Heiliger, dieser verliebte Junge!

Aber wer rachlüstern ist, kann nicht auch noch der Liebe gerecht werden.

Romeo muss fliehen. Es gibt zwei Leichen, und er hat den Degen in der Hand. Man würde ihn verurteilen.

Seine erste Anlaufstelle ist der Mönch. Aber dann findet er sich bei Julia ein, verbringt mit ihr die Hochzeitsnacht. Als sie morgens erwacht, überfallen sie Ängste und Zweifel im Wechsel mit Wellen der Verliebtheit.

Sie tanzen ihren letzten Pas de deux, mit verzweifelter Hoffnung und beseligter Liebe zueinander.

In Notzeiten hält man halt zusammen – und dieses Pärchen ist zweifelsohne in sehr großer Not.

Die Amme (leider unauffällig: Beatrice Knop) findet Julia weinend vor. Und Lord Capulet rastet aus, als er erfährt, dass seine Tochter den Grafen Paris nicht heiraten will. Er rast, tänzerisch, sehr kunstvoll – und fast schlägt er sein Mädchen. Würde nicht die Amme dazwischen gehen.

Julia sucht Rat beim Mönch, der ihr ein Gift mitgibt, das sie in einen todesähnlichen Zustand versetzen soll.

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Polina Semionova zwingt sich als Julia, das Gift zu nehmen – und es ist, als ahne sie, dass mit dem Scheintotsein eine Menge schief gehen wird… Foto: Fernando Marcos

Tapfer willigt Julia am Abend ein, Paris zu heiraten – und sie nimmt das Gift.

Aus dieser Szene hat John Neumeier eine herzergreifende Alptraumszene gemacht, in der das junge Mädchen Julia mit der Wirkung des Giftes kämpft. Bauchkrämpfe, Halluzinationen, Drehschwindel, Übelkeit – und unsägliche Todesangst findet man da getanzt.

Es ist nahezu ein tänzerisches Abraten von Drogen, das Neumeier da gelang.

Nacho Duato ließ sich etwas anderes einfallen, um die Giftwirkung zu illustrieren: Er stellt zwei männliche Tänzer, die den Harlekinen ähneln und die eine ähnlich sinnliche Körpersprache wie Romeo haben, auf die Bühne.

Alexander Shpak und Dominic Whitbrook schleichen sich hier an, um Julia zu erschrecken – und sie bedrängen sie mit einer Macht, die fast an Vergewaltiger erinnert.

Die Amme stößt am nächsten Morgen einen schrillen Schrei aus, als sie Julia leblos findet.

Die Familiengruft ist dann ein großes schwarzes Podest.

Vater Capulet trägt seine scheintote Tochter auf den Armen wie ein Kind herein. So etwas macht man mit Leichen eigentlich nicht – aber hier ist es ein plausibles Kunstmittel, um die Trauer des zuvor doch strengen Vaters zu verdeutlichen.

Große schwarze Trauerfahnen werden von starken Männern geschwenkt, mit diesen Fahnen wird auch getanzt. Ein origineller Ausdruck für die Trauerarbeit in der Gruppe.

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Sie töten sich aus nichtigem Grund – die heißblütigen Jungs der Capulets und der Montagues machen der Liebe einen Strich durch die Rechnung. Hier das Staatsballett Berlin in „Romeo und Julia“ von Nacho Duato. Foto: Fernando Marcos

Nach der Zeremonie erreicht Romeo die Gruft. Ohne Umschweife bringt er Paris um, der hier als Einziger voll Trauer verblieben war.

Es ist ganz gut, mal die Verrohung Romeos so krass zu beobachten: Paris ist hier ja ein ganz Sanftmütiger, ein vernünftiger Mensch, der keine direkte Bedrohung für seinen Liebesrivalen war. Dennoch tötet Romeo, wie er auch Tybalt wie im Blutrausch abgestochen hat.

Als er Julia findet, bricht er über ihrem Gesicht zusammen. Er versucht, ihren Geist aus ihren Zügen abzulesen, abzunehmen – umsonst.

Er küsst ihre Hand, legt eine Giftampulle in diese und schluckt. Dann bricht er sterbend zusammen, fällt auf den Boden – genau in dem Moment erwacht Julia.

Ihre Hand bleibt in der Luft, als Romeo sie loslässt – und Julia streckt den Arm und die Hand weit vor. Doch kein Romeo kann sie mehr ergreifen.

Als sie aufsteht, will sie zunächst von diesem dunklen Ort flüchten. Doch die Türen sind verschlossen (Romeo kannte wohl einen Geheimweg in die Gruft).

Dann stolpert Julia über die Leiche von Paris. Sie erschreckt sich, läuft weiter – und findet den toten Romeo.

Welch ein Schrecken, welch ein Jammer. Sie versucht, von seinen Lippen und aus seiner Ampulle Giftreste aufzunehmen.

Dann findet sie einen Dolch. Den gibt sie Romeo in die Hand, legt sich auf ihn – und ersticht sich mit ihrem eigenen Körpergewicht.

So realistisch und grausam wirkt das, dass der Suizid aus Liebe hier nicht nur romantisch oder gar als Erlösung dargestellt wird. Sondern es wirkt auch abschreckend, so zu handeln – das ist eine durchaus ethische Inszenierung!

Merke: Liebe ohne Kopf und Verstand hat in dieser bösen Welt gar keine Chance.

Romeo und Julia hätten gemeinsam fliehen oder ein heimliches Verhältnis anfangen können, sie hätten ihrer Liebe auch rein platonisch und nur schmachtend frönen können – aber wild um sich zu schlagen und sich dann totzustellen, ist eher keine Lösung.

Schon gar nicht, wenn man dabei auf den Informationsfluss irgendwelcher Mitmenschen angewiesen ist. Denn hätte Romeo gewusst, dass Julia nicht tot war, hätte ihre Liebe vielleicht noch eine Möglichkeit zur Flucht erhalten. Ob sie in der Fremde überlebt hätten – bleibt zu spekulieren. Aber da niemand Romeo rechtzeitig sagte, was Sache war (bei Shakespeare ist ein von Pater Lorenzo geschickter reitender Bote, der trödelt und darum versagt), kam es zur Tragödie.

Die wiederum in dieser Inszenierung unausweichlich wirkt – und in der Stärke des erotischen Verlangens durchaus als solches begründet ist.

Wer jetzt noch Georges Batailles liest (etwa die „Tränen des Eros“) kann sich entspannt auf die Zweit- und Drittbesetzung freuen. Und dabei gern ein paar Tränen vergießen…

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Polina Semionova und Ivan Zaytsev beim Schlussapplaus nach „Romeo und Julia“ mit dem Staatsballett Berlin. Verdienter Beifall! Foto: Gisela Sonnenburg

Paul Connelly dirigiert außerdem die Staatskapelle Berlin sehr zart, weist solchermaßen bereits von den ersten Noten der Ouvertüre an aufs Feingefühl der Verliebten hin.

Nur bei den hoch dramatischen Passagen – wie beim „Tanz der Ritter“ – lässt er voll aufdrehen, sprengt mit lauthals klagenden Bässen das ansonsten impressionistische Format der akustischen Performance.

Zu der Traurigkeit dieser Liebesgeschichte passt das vorzüglich. Bis bald, geliebte Tristesse!

P.S. Diese Premiere war übrigens nicht die letzte beim Staatsballett Berlin mit Nacho Duato, auch wenn das diverse Medien so behaupten. Am 17. Mai erfolgt eine Gala, ausgerichtet von Polina Semionova, und am 24. Mai premiert mit „Doda / Goecke / Duato“ ein Dreiteiler mit  der Duato-Arbeit „Por vos Muero“.

P.S.S. Für alle, die den munteren Tanz mit den weißen Taschentüchern in Duatos „Romeo und Julia“ nicht verstehen: In mittelalterlichen Zeiten und bis ins 19. Jahrhundert hinein benutzte man das Taschentuch statt Kondom zur Schwangerschaftsverhütung. Nicht sehr bequem, auch nicht ganz safe – aber besser als nichts. Der übermütige, spaßige Tanz hier – der ganz und gar nicht unfreiwillig komisch, sondern sehr bewusst grotesk ist – ist also anzüglich gemeint. Oh ja, auch solche Operettenelemente gibt es bei Duato – ganz im Sinne von Shakespeare, der bekanntlich in seinen Stücken auch den einen oder anderen deftigen Witz abließ.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.staatsballett-berlin.de

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