Wenn er tanzt, dann sammelt die Natur ihre Kräfte für ihn. Rainer Krenstetter, vormals Erster Solist beim Staatsballett Berlin und heute Principal Dancer beim Miami City Ballet, hat dieses ganz gewisse Etwas, das nur wenige Tänzer so stark haben. Es muss mit seiner eigenen Natur zu tun haben, seiner magischen Natur: Anmut und Würde, Sexiness und Ästhetik, Hingabe und Leidenschaft verschmelzen in seiner Körperkunst zu einer hinreißenden Aura der Ausdrucksmöglichkeiten. Er ist ein Ballerino mit Personality, mit einer Persönlichkeit, die es ihm erlaubt, die gestischen Sprachen des Tanzes mit Individualität ebenso zu füllen wie mit Perfektion. Alexei Ratmansky und Maurice Béjart wussten das schon zu schätzen und genossen die Arbeit mit diesem Spitzenballerino. Ratmansky hat mehrfach für Krenstetter kreiert, in den USA und auch in Berlin: mit der männlichen Hauptrolle in „Namouna“. Und Béjart studierte mit ihm zu seinen Lebzeiten die tragende Partie des Loge für den „Ring um den Ring“ ein – Rainer Krenstetter erinnert sich an die Zusammenarbeit, als hätte sie gestern stattgefunden, so eindringlich und prägend war sie. Er hat außerdem mit Choreografen wie Christopher Wheeldon gearbeitet und mit William Forsythe, mit Boris Eifman und mit Twyla Tharp. Und er hat viel George Balanchine getanzt, auch Roland Petit und Jerome Robbins. Die Klassiker wie „Schwanensee“ und „Giselle“ sowieso, in verschiedenen Versionen. Den Prix de Lausanne hat er derweil schon 1999 gewonnen. Und seither den Erdball mit Tanzen oftmals umrundet. Für Galas, Gastauftritte, Kreationen, Engagements, für Jury-Mitgliedschaften und auch fürs Unterrichten. Was für ein umtriebiger Weltstar! Und er liebt noch immer Experimente, Neues, Provokantes – Stücke und Möglichkeiten, mit denen er sich immer noch weiter entwickeln kann. Im Kino Babylon in Berlin-Mitte wird Rainer Krenstetter darum in der Nacht vom 31. Juli 21 auf den 1. August 21 vor dem dann gezeigten Stummfilm ein neues, speziell für ihn maßgeschneidertes Solo um 23.59 Uhr als Mitternachtstanz – übrigens bei freiem Eintritt – uraufführen: „Satyrisches Erwachen“ heißt das Stück und vereint in außergewöhnlichen elf Minuten vor allem zwei Seiten des facettenreichen Künstlers.
Hier gleich mal der Link zur Reservierung – dort bitte auf das Datum klicken und den Anweisungen folgen! Und bitte beeilen, die besten Plätze sind schnell weg! Es ist die Natur des Menschen, sich rasch das Beste zu sichern…
Mit der Natur hat das Stück gleich in mehrfacher Hinsicht zu tun. Da weckt der Klang der Musik einen schönen jungen Schläfer – also den Ballerino – der daraufhin die Welt neu erforscht.
Ein Naturbursche, vielleicht auch ein zünftiger Städter mit einem Hang zum Freizeitleben im Grünen, verwandelt sich unter dem Eindruck der Nacht – und der zu ihm sprechenden Natur – in ein fantastisches Wesen: in einen Satyr, der als animalisch und doch auch als lyrisch zu bezeichnen ist.
Es geht um die Akzeptanz seiner selbst, auch der verborgenen Seiten, der mehr naturhaften, auch lieblichen Eigenschaften, die im Menschen schlummern: trotz Zivilisation und trotz der Vereinheitlichung von Individualität durch die Arbeitswelt.
Es ist ein Erwachen im doppelten Sinn.
Darum heißt das Stück so: „Satyrisches Erwachen“.
Satyre sind Mischwesen zwischen Menschen, Tieren und Göttern. Sie sind männliche Nymphen, die wie Dämonen oder Naturgeister die Gefilde besiedeln.
Manche haben Geschichten hinter sich, die in der griechischen Mythologie verewigt sind: Der Satyr Krotos soll als Bogen- und Taktgeber beim Gesang der Musen gearbeitet haben, bevor er als Sternbild des Schützen an den Himmel versetzt wurde.
Und Silenos, eine Anführernatur, leitete die Chöre der Satyre bei Festivitäten im Reigen; er erzog außerdem den Gott des Weines und des Rausches namens Dionysos.
Satyre werden oft mit zotteligem Fell und Bocksfüßen dargestellt, manchmal auch mit kleinen Hörnern, was ihnen die Anmutung von Vorläufern der christlichen Teufel verleiht.
Andere Satyre haben eine mehr weiche, weibliche Natur und sind als Liebhaber durchaus begehrt. Auf jeden Fall ist allen Satyren ein hoher Erotikfaktor zueigen!
Zu diesen Gesellen zu zählen, erlaubt einem Wesen, seine zweite Natur zu aktivieren.
Die innere Natur des Menschen wird so belebt, treibt an, bildet eine Verbindung zur Außenwelt. Die Sterne, aber auch dionysische Geister erscheinen als Partner der Kommunikation.
Die alten Römer nannten die Satyre im übrigen Faune. Der berühmteste Faun der Kunstgeschichte ist der Barberinische Faun in der Glyptothek in München. Ihn habe ich im März diesen Jahres fürs Ballett-Journal portraitiert und dabei durchaus auch an „L’Après-midi d’un faune“ gedacht, dieses elegisch-erotische Ballett zur Musik von Maurice Ravel, das erst Vaslav Nijinsky und später Jerome Robbins geschichtsträchtig choreografierten.
Und der Barberinische Faun, der schlafend und träumend dargestellt ist, stand mit Pate für die Idee, ein Ballettsolo über einen Satyr zu kreieren.
Rainer Krenstetter hatte auf so eine Idee von mir nur gewartet! Schon seit längerem planten wir, ein Projekt zusammen zu gestalten. Schließlich zähle ich zu seinen Bewunderinnen von seinem ersten Jahr beim Staatsballett Berlin an.
Ich muss sagen: Hätte ich gewusst, wie beflügelnd und geschmeidig, wie ausdrucksvoll und elegant er sich choreografieren lässt, ich hätte schon früher darauf gedrängt, die Pläne in die Tat umzusetzen.
Andererseits hat jedes Ding seine eigene Zeit – das ist etwas, das wir eigentlich aus den Corona-Lockdowns lernen sollten: Mit Hektik und Druck pur kommt man selten dorthin, wo alle göttlichen Kräfte gemeinsam walten können, auch die der Ruhe und der Sanftheit.
Dabei verlaufen unsere Proben durchaus zügig. Man muss eben die richtige Balance finden zwischen schnellem Tempo und Bedachtsamkeit.
Wie das Solo „Satyrisches Erwachen“ ausgeht, wird hier nun nicht verraten – aber die Spannung wird auch von der Musik bis zum Schluss gesteigert.
Die Musik kommt von der Orgel, wird live von der am Moskauer Konservatorium ausgebildeten Kino-Organistin Anna Vavilkina gespielt. Das Leitmotiv mag bekannt vorkommen: Es ist die Reprise aus dem ersten Satz der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler.
Transkribiert für Orgel, klingt diese Musik ungleich mächtiger als in der Orchesterpartitur, fast wuchtig. Aber auch exotisch und aufregend wirkt sie, unheimlich und mitreißend, romantisch, alarmierend und knallhart – genau richtig für eine klangliche, nonverbale Kunstsprache, die der Natur ein Äquivalent verleihen soll.
Ohne gleich an Katastrophen zu denken, geht es hier um die Schubkraft der Natur: Die Natur vermag Kräfte zu wecken, quasi magische Mächte, die Befähigungen und Freiheiten mit sich bringen.
Tanz ist sehr nah an diesen spirituellen Ebenen von Kunst.
Das Sinnliche und das Übersinnliche – im Ballett sind diese Aspekte keine Gegensätze, sondern ergänzen sich.
Rainer Krenstetter ist wie gemacht dafür, um das zu demonstrieren, um mit seiner Tanzkunst zu beweisen, wie sehr der Mensch, die Musik, die Schönheit und die Natur miteinander zu tun haben.
Er ist gebürtiger Wiener, und seine Karriere begann früh. Nach der Ausbildung an der Ballett-Akademie in Wien gewann er den Prix de Lausanne und absolvierte mit einem Stipendium noch ein Jahr in London an der Royal Ballet School. Sein erstes Engagement hatte er beim Wiener Staatsballett, dann wechselte er zum Staatsballett Berlin und avancierte unter Vladimir Malakhov zum Ersten Solisten.
Seit 2014 bekleidet er die gleiche Position beim Miami City Ballet in den USA. Die Truppe, von Lourdes Lopez geleitet, ist auf die Choreografien von George Balanchine spezialisiert und tanzt sie mindestens so vollendet wie das New York City Ballet.
Der exquisite neoklassische Stil Balanchines, der zugleich modern und traditionell anmutet, hat Rainer Krenstetter zu einem fabelhaft-eleganten, famos-zuverlässigen, faszinierend-virtuosen Tänzer gemacht.
Ergänzend zu den Erfahrungen mit Maurice Béjart und Alexei Ratmansky, mit Vladimir Malakhov und Christopher Wheeldon sowie mit all der Klassik und Romantik hat Rainer Krenstetter ein Profil gewonnen, das so flexibel und doch so prägnant ist, dass er seine tänzerische Persönlichkeit weiter entfalten und zugleich vertiefen kann.
Er hat viel früher als andere Tänzer einen Punkt erreicht, an dem Jugend und Reife zur schönsten Menschlichkeit zusammenkommen.
Wenn er den Arm hebt, ist das nicht irgendein Port de bras.
Wenn er sein Bein streckt, lockt das die Engel und die Geister hervor.
Und wenn er den Kopf hebt oder senkt, neigt oder aufrichtet, dann verstummt jedweder Zweifel darüber, dass Tanz etwas ganz anderes als nur eine Technik ist.
Trotzdem spielt auch die technische Vervollkommnung eine Rolle im Leben eines Balletttänzers – wie könnte es anders sein!
Rainer Krenstetter gibt indes das, was er beherrscht und kennt, weiter an die Jüngeren. Er unterrichtet, in analogen Workshops wie auch online, für Gruppen wie im Einzelunterricht.
Sein Alltag ist dabei so vielfältig, dass einem schwindlig werden kann!
Internationale Gastauftritte und viele weitere Tätigkeiten – so die Künstlerische Leitung der Margot Fonteyn Academy of Ballet und auch das regelmäßige Trainieren von Ballettstudent:innen für das japanische Label Unblanche – ergeben einen prall gefüllten Stundenplan.
An manchen Tagen, in manchen Nächten wechselt er die Arbeiten mehrfach – und bleibt doch immer er selbst, Rainer Krenstetter, der dem Ideal der Tanzkunst so inbrünstig dient.
Wenn jemand einen Ehren-Professoren-Titel einer Universität oder Kunsthochschule verdient hat, dann er!
Es ist nun eine unglaubliche Ehre für mich, für diesen Ausnahme-Ballerino kreieren zu dürfen. Mit möglichst viel Vorbereitung, Elan, Ideenreichtum. Wir proben via Zoom, und manchmal trennen uns dabei neun Stunden Zeitunterschied.
Aber: Wo ein Wille ist, da ist ein Tanz!
Sich das Ergebnis dieser ungewöhnlichen Zusammenarbeit nicht anzuschauen, ist vielleicht verzeihlich. Aber wäre es schlau?
Zumal der dem Mitternachtstanz nachfolgende Stummfilm „Le fantôme du Moulin-Rouge“, den der Regisseur René Clair 1924 gedreht und 1925 fertig gestellt hat, das Thema der Magie auf skurril-komödiantische Weise aufgreift.
Es handelt sich um einen der ersten bekannten Fantasy Filme, basierend auf einem Roman des jüdischen Drehbuchautors Walter Schlee, der im vor allem niederländischen Exil in den 30er- und 40er-Jahren auch für Max Ophüls schrieb.
Es spielen Georges Vaultier und Sandra Milovanoff in den Hauptrollen.
Die Handlung ist deutlich erfunden, entbehrt aber nicht der literarisch-psychologischen Tiefe: Ein junger Pariser Mann – Julien – ist mit der hübschen Yvonne verlobt, aber deren Vater, ein Diplomat, ist gegen diese Verbindung.
Der korrpute Zeitungsverleger Gauthier erpresst Victor Vincent, den Diplomaten: Er habe belastende Unterlagen gegen ihn und werde diese veröffentlichen, wenn Yvonne ihn nicht heiraten werde.
Yvonne, unter Druck gesetzt, willigt ein.
Julien tröstet sich im berühmten Nachtlokal Moulin-Rouge mit seinen mitreißenden, berauschenden Tänzen, wo er auf den seltsamen Dr. Window trifft.
Der frustrierte junge Mann lässt es zu, dass der Fremde mit hypnotischen Kräften an ihm experimentiert. Daraufhin trennt sich Juliens Geist von seinem Körper und unternimmt einen satirischen Amoklauf durch Paris… einen „satirischen“, was hier nicht nur sprachlich schon sehr nah an einem „satyrischen“ ist.
Auch dieses filmische Werk wird von der feinfühligen Anna Vavilkina an der Orgel souverän begleitet: mit der ihr eigenen, fulminant entwickelten Kunst der Improvisation, die sich stets anfühlt, als werde eine neue Partitur uraufgeführt.
Wir wünschen für diese Nacht ein Maximum an Vergnügen!
Gisela Sonnenburg
https://babylonberlin.eu/film/3861-stummfilm-um-mitternacht-le-fant-me-du-moulin-rou