Beim Film sagt der Regisseur, wenn die Schauspieler loslegen sollen: „Wir haben Licht – bitte!“ Licht gab es drinnen und draußen zur Genüge, als die neue Saison gestern für eine Nacht in die Hamburgische Staatsoper einzog. Für die Tänzerinnen und Tänzer vom Hamburg Ballett aber war es fast noch ungewohnt, wieder die bekannten Schritte und Körperverbiegungen zu absolvieren. Es war nämlich erst ihr fünfter Arbeitstag nach den Sommerferien, so ihr Chef John Neumeier: Das Hamburg Ballett hatte keine Zeit für eine langsame Wiedereingewöhnung. Aber die „Hamburger Theaternacht 2015“ bot dennoch Ballett vom Feinsten: von einem großzügigen Ausschnitt aus John Neumeiers „A Cinderella Story“ über bezaubernde Darbietungen der Ballettschule Hamburg (die Neumeiers Namen trägt) bis hin zu aufregenden Kreationen von „Jungen Choreografen“ sprich gegenwärtigen Neumeier-Tänzern.
Die Hamburgische Staatsoper mutierte – auch unter reger Beteiligung des Opernbetriebs und seinen Fans – für eine Nacht zum In- und Outdoor-Parcours; wer in den Zuschauersaal nicht reinkam oder sowieso lieber draußen ein Schwätzchen halten wollte, konnte das Geschehen auf der Hauptbühne als technisch voll befriedigende Live-Übertragung genießen. Einzig das Wetter minderte das Vergnügen: herbstliche Tenperaturen, sturmreifes Windtempo und diverse Regengüsse ließen den Sommer restlos vergessen.
Höhepunkt der wilden Nacht, an der sich rund 40 Hamburger Theater beteiligten, war für Ballettfans eindeutig der Auftritt des „Hamburger Ballettwunder“-Machers John Neumeier. Um 21 Uhr betrat der rüstige Meisterchoreograf in geschmackvollem lichtblauen Jackett die Bühne – und begrüßte die Zuschauer. Die ihn wiederum frenetisch empfingen.
„Ich habe das Gefühl, dass das hier eine Ballett-Werkstatt ist“, sagte der vielmals Verehrte, der in seinem Leben schon ungezählte Male das Wort an die Öffentlichkeit richtete. Einen Hauch „Nijinsky-Gala“ verspürte er sogar bei der Wiederholung seines Auftritts eine gute Stunde später. Denn: Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg war (und zwar beide Male) mit dabei, um Sergej Prokofjews gefühlsgeladene Musik zum Ballett „Cinderella“ unter der Leitung von Simon Hewett zu spielen: präzise und mit fein nuanciertem Schwung.
Für eine öffentliche Probe – und als solche will Neumeier die Vorführung seiner Tänzer in der Hamburger Theaternacht verstanden wissen – ist das hochkarätige Orchester wirklich ein Luxus! Aber auch die Tänzerinnen und Tänzer gaben alles – und sahen nach den Ferien gut erholt aus. Frauliche Formen stehen auch einer brillanten Primaballerina wie Hélène Bouchet absolut fantastisch, und auch ein Erster Solist muss keinen „Nur-Haut-und-Muskeln-Hintern“ haben.
Der Partner von La Bouchet – als ihr Prinz in „A Cinderella Story“ war in der Theaternacht der superbegabte Alexandr Trusch. Beide sind so auch für die Wiederaufnahme-Premiere am 20. September vorgesehen.
Auftritt „A Cinderella Story“, zweiter Akt – die Ballszene. Wir haben Licht – und bitte!
Der König (endlich sieht man den vielseitigen Thomas Stuhrmann mal in einer richtigen Rolle!) liest hierin lieber ein gutes Buch, passenderweise mit etwas hochnäsigem Blick, als dass er seine Gäste begrüßt und für sie den Tanzsaal frei gibt.
Es ist schon merkwürdig: Drei Minister turnen und tänzeln durchs Hofgefüge, als seien sie eigentlich eher Clowns und sozusagen nur zufällig in hohen Ämtern und Ehrenpositionen gelandet. Irgendwie kommt einem das aber gar nicht unrealistisch vor…
Das Ensemble ergeht sich derweil in wunderschönen, schnell wechselnden Posen, vom trauten Zweisamkeitsglück bis zum Paartanzexperiment. Ab und an kommt auch der Prinz dazu, tanzt eine Runde mit – an sich aber versteht er sich als bildender Künstler, und er interessiert sich mehr für seine Zeichnung des Tages als für seine Untertanen.
Trusch tanzt diesen sympathisch neben der Kappe liegenden Prinzen mit der schwärmerischen Wucht des Romeos und mit der Hingabe des träumenden Joseph. Beide Neumeier-Titelrollen (aus „Romeo und Julia“ und „Josephs Legende“) hat er ja bereits getanzt – und in „A Cinderella Story“ kann er das Triebhaft-Liebende mit dem Visionär-Abenteuerlichen verbinden. Welcher Trusch-Fan will das nicht unbedingt gern sehen?
Aber die Choreografie hat es auch sonst in sich. Da (er)zählt nicht nur die Liebe.
Da kommen, und zwar auch unter heftigem, erwünschten Schmunzeln, auch gewichtige Fragen auf. Etwa so: Was ist das nur für eine skurril-morbide Gesellschaft, die hier auf der Bühne ununterbrochen sich selbst befeiert und das altbekannte Märchen vom „Aschenputtel“ – das in angloamerikanischer Version „Cinderella“ heißt – solchermaßen ganz und gar auf den Kopf zu stellen vermag? Auch ohne Kostüme und ohne Bühnenbild machen die Solisten und das Corps de ballet nur mit ihrem Tanz klipp und klar: Da vertändelt eine ziellose Gesellschaft ihre Zeit und ist eigentlich nur damit beschäftigt, eben das zu vertuschen. Die Suche nach Sinn steht darum natürlich vordergründig hoch im Kurs, im Dauerkurs sozusagen – allerdings wird sie wohl so schnell leider keine Ergebnisse zeitigen können. Denn dann wäre das schöne, schnöde Spiel ja rasch vorbei. Und wer gern ewig und drei Tage feiert, fürchtet nichts so sehr wie das Ende des schönen Scheins.
Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Eben. Neumeier entwirft in seiner „Cinderella“-Version keine rückwärtsgewandte Märchen-Nostalgie, sondern einen Abriss der zeitgenössischen Dekadenz der verwöhnten Oberschichtler; das hat grotesk-satirische Züge, aber auch die einer liebenswerten Karikatur.
Als der Prinz inmitten dieser überdrehten Fashion Fantasy World unverhofft auf Cinderella trifft, steigert sich die Choreografie zu einer herzergreifenden Intensität – obwohl die Leichtigkeit und das Mondäne nicht einfach dahin gehen. Es kommt aber eine große Ernsthaftigkeit, ja eine Bereitschaft, sein Leben vollständig zu ändern, hinzu. Man stellt sich wieder eine bedeutende Frage: Sind die zwei Liebenden hier wirklich die junge, naive, unerfahrene Generation im Stück? Oder ist die Jugend hier nicht sogar viel erwachsener als all die infantilen, durchgeknallten Höflinge?
Der große Paartanz der beiden Liebesleute erinnert denn auch weder zufällig noch absichtslos an Neumeiers „Romeo und Julia“. Spontaneität und Schicksalhaftigkeit fallen darin beide Male in eins zusammen.
Und sie sind ja auch ein märchenhaft-fantastisches Paar, La belle Bouchet und Le beau Trusch!
Sie ist so sanft und dennoch aufgeweckt, dass sie als Sinnbild allen Positiven des Begriffs „Mädchenhaftigkeit“ gelten muss. Er hingegen verkörpert auf den Punkt die jungmännliche Rastlosigkeit, das starke Streben in eine einzige Richtung. Und so steht sich das Paar manchmal wie Adam und Eva gegenüber – und scheint sich einfach nur anzusehen und zu bestaunen.
Hélène Bouchet, die mit ihrer Figur nach den Ferien noch weiblicher als sonst wirkt (ein paar Pfund mehr sehen bei Ballerinen eben manchmal supergut aus), erfüllte somit alle Anforderungen an ein Aschenputtel, das der Schönheit und der weiblichen Optik nach wirklich eine Prinzessin des Herzens darstellt. Die Fotos belegen, dass Hélènes Figur mit nicht ganz magerer Linie einfach noch viel schöner und erotischer ist als sonst!
Auch wenn der Tiefsinn der Liebe in ihrer Einfachheit liegt: Natürlich tanzen die beiden frisch Verliebten, die exemplarisch aus unterschiedlichen Sphären stammen, wie außer Rand und Band – und zwar zur ebenfalls durchaus theatralischen, mitunter sogar exaltierten Musik von Prokofjew.
Die Titelfigur, die Hélène Bouchet mit charmant-aufmerksamer, auch echt verknallter Mimik gestaltet, ist eine Abenteurerin auf ihre Art. Im ersten Akt von „A Cinderella Story“ muss sie sich der Trauer um ihre verstorbene Mutter stellen. Sie bewältigt diese Krise im Verlauf des Stücks, und die Begegnung mit dem Prinzen gibt ihr die Kraft und den Mut, sich auf neue Verhältnisse einzulassen.
Neumeiers Cinderella ist kein Heimchen am Herd, das einen reichen Macker für den sozialen Aufstieg qua Eheschließung sucht. Sie ist, im Gegenteil, von einer inneren Unabhängigkeit beseelt, die ihr die Anmutung eines starken Mädchens, einer ausgesprochen selbständigen Person, verleiht. Das Buch „Der Cinderella-Komplex“ wurde ganz sicher nicht über eine solche Persönlichkeit verfasst!
Als die tänzelnd-tändelnde Hofgesellschaft sich alsbald spielerisch an Apfelsinen labt, die ein Höfling mit werbefilmträchtiger Manier ausgibt, kommt zudem ein Symbol in die Choreografie, das zwar sinnfällig, aber gar nicht mal einfach zu deuten ist.
Die Orangenfrucht – wofür mag sie hier stehen? Für die Süße, die Sinnlichkeit, die Sonnenkraft? Oder für die Vergänglichkeit?
Jedenfalls für die Essenz allen Lebendigen, insofern es erfreulich, nährend, stärkend, erfrischend ist. Statt Apfel oder Tomate ist hier die Orange die Paradeisesfrucht.
Kein Wunder also, dass auch unser Liebespaar von dieser Frucht naschen möchte.
Sein großer Pas de deux enthält denn auch eine Passage, in der Hélène Bouchet die Apfelsine stets in den Händen hält, egal, ob die Tänzerin von ihrem Partner gerade gehoben, gedreht oder geführt wird. Wie ein Krönlein erscheint die Orange da manchmal, aber auch wie eine zerbrechliche Kugel, mit der man gern wild spielen würde, wäre sie nicht gar so kostbar. Entfernt kommt einem auch der Froschprinz in den Sinn, denn was wäre dieser Märchenheld ohne seine besonders feine goldene Kugel… (die feine Kugel des Froschprinzen mag für seine Prostata stehen, aber das hat nun wirklich nichts mehr mit „A Cinderella Story“ zu tun.)
Sieht man die Sache Freudianisch, und das hat in der Literatur, vor allem bei Märchen, ja eine gute Tradition, so könnte die Liebesfrucht als Symbol für die weibliche Klitoris stehen: Dieses Lustorgan, das in eine ballförmige kleine Spitze mündet, wollen der Prinz und Cinderella ganz sicher zusammen näher erforschen.
Unser Prinz betet das Objekt in den Händen seiner Geliebten denn auch regelrecht an! Ist das etwa nicht bereits die ganz große wahre Liebe, wenn man sich sagen kann: Nur du und ich und dieses kleine Stück Obst – und schon ist alles in Ordnung! Oder?
Liebende sind ja so egoistisch! Die Selbstironie der Liebe wird indes selten so delikat in ein Ballett eingebunden wie eben hier. Eine Apfelsine als Sinnbild der Liebe – das hat schon etwas Aufmüpfig-Freches, das revoltiert gegen die aufgedonnerte Metaphorik vom eisernen Herzensschrein und ewig unvergänglicher Edelmetallik.
Neumeier sagt uns hier mit seinem Tanz: Nein, die Liebe ist nicht immer beständig wie Platin und glänzend wie Gold. Sie ist gerade darum so kostbar, weil sie nicht unvergänglich oder unverbrüchlich wäre. Da ist nur logisch, dass Cinderella und ihr Prinz die Apfelsine wie ein Porzellanstück handhaben, so vorsichtig und zartfühlend.
Und weil der Prinz, der Künstler, seine Schöne auch schon eigenhändig mit ebenso zartem Strich gezeichnet hat (und zwar bevor sie auf dem Ball erschien), passen die Symboliken von süßer Sinnlichkeit und prall sich anbietender Lebenskraft nur allzu gut zu diesem Pärchen. Es hat auch was von Picnic-Flair, von Naturhaftigkeit, bei aller Raffinesse ihrer Tänze, mit so einer einfachen Orangenfrucht zu spielen.
Am Ende aber träumt der Prinz, der bis dahin viele imponierende Cabrioles und Grands Jetés (Spagatsprünge) zu absolvieren hat – um seinen hoch fliegenden Plänen genügend Ausdruck zu verleihen – nur noch von seiner Herzensdame. Da ist dann die Orange abgemeldet, kein Symbol kann noch interessant sein, denn die Liebe fordert Wahrhaftigkeit und einen realitären Sinn.
Cinderella hingegen bewahrt sich vorerst ein Geheimnis, das Geheimnis ihrer Identität, und zwar mit so großer Contenance, dass man es fast erschreckend finden würde, wenn sie es ganz banal einfach lüften wollte, als pelle man einer Orange die Haut ab. (Nein, an Orangenhaut dachte der Choreograf ganz sicher nicht, diesem Kalauer sollte man vorbeugen.)
Die Grundsituation der Liebe des Prinzen zu Cinderella besteht aus kontemplativer Komplikation, wenn man so will: Ihr Pas de deux verbrämt und unterstützt die Beziehung der beiden Verliebten gleichermaßen. Ein in wirklich jeder Hinsicht geltendes Traumpaar!
Nun wurden hier bisher nur die beiden großen Hauptrollen mit Tänzern benannt, dabei gibt es noch so viele andere vom Hamburg Ballett zu erwähnen. Lobend zu erwähnen!
Damit die Neugierde aber anhält, wird das auf die Premierenrezension der Wiederaufnahme in zwei Wochen verschoben – zwei Damen seien indes beispielhaft schon jetzt genannt: Silvia Azzoni, die in Hamburg lange als eine optimale Cinderella galt, tanzt in der aktuellen Besetzung mit raffinierter Hinterfotzigkeit die Stiefmutter, und Leslie Heylmann, die man sich auch gut als Cinderella vorstellen kann, gibt erstmals eine köstlich-kokette Stiefschwester der Titelfigur ab. Die tragende Rolle des Vaters wiederum übernimmt Lloyd Riggins – er wächst langsam, aber sicher ins Fach der Nichtvirtuosen hinein, die (was das unerhört Schwierige und auch Pikante daran ist) ohne technische Virtuosität eine inhaltliche Virtuosität herstellen müssen. Riggins hat zweifelsohne das Zeug dazu!
Das Ensemble hat zudem viel, viel, viel zu tanzen in dieser Ballszene, die eigentlich eine Nichtballszene ist – und die verschiedenen, organisch ins Hauptgeschehen eingeflochtenen Mini-Divertimenti sind an sich allein schon mindestens einen Besuch dieser Choreografie wert. Na, und wie die gelangweilten höfischen Gesellschaftsmitglieder dann den Prinzen angaffen, als der ihnen nach tausendundeinem hohen Sprung mit seligem Gemüt einfach auf und davon rennt!
Weil ihn ja die Liebe ruft, in seinem Innern!
Der Paartanz mit seiner Cinderella ist dabei so sehr geprägt von Verzückung und Liebesrausch, dass er im Grunde auch ein Traum oder eine Wunschvorstellung sein könnte. Fast – wären da nicht handfeste Hinweise auf das Austarieren des Verständnisses zwischen den Liebenden. Solche Balanceakte kommen in Träumen und Werbefilmen niemals vor. Sie sind ein Indiz für eine wirklich bestehende Beziehung…
Als der Prinz schließlich voll Lust auf noch mehr Liebeslust seine Hand weit ausstreckt, ist klar, dass es hier keinesfalls um ein simples Klischeemärchen geht. Dieser Märchenprinz denkt nicht an Stammhalter für seine Regierungsnachwelt – er denkt an sinnliche Welten, die ihn wiederum zu großartigen Kunstwerken auf Papier beflügeln könnten.
Doch, man will mehr sehen von diesem Prinzen und dieser Cinderella, unbedingt. Den Auftrag, dem Publikum einen Einblick zu verschaffen und zugleich den dann vermutlich unstillbaren Appetit auf das ganze Stück „A Cinderella Story“ zu wecken, haben die Mitglieder vom Hamburg Ballett voll und ganz erfüllt – an diesem nichtsommerlichen, dennoch traumhaften Abend der Theaternacht.
Zuvor jedoch gab es noch einen ganz anderen Genuss tänzerischer Art: Die beiden Theaterklassen 7 und 8 der Ballettschule Hamburg – John Neumeier präsentierten sich, fein wie aus dem Ei gepellt, in den für ihre Klassen vorgesehenen Farben Weiß und Bordeauxrot: mit Anschauungsstücken aus ihrem Trainings- und Probenprogramm.
Christian Schön, Lehrer der Jungs, brachte die etwa zwei Dutzend große Gruppe zunächst mit einem Training an der Barre, der Ballettstange, in Form. Welche Poesie! Welcher Fleiß. Welche Schönheit! Und auch: welcher Ausdruck!
Es ist immer wieder überraschend, wie viele verschiedene Nuancen die traditionellen Exercise-Übungen haben, je nachdem, welche Tänzerin, welcher Tänzer sie ausübt. Das sieht man auch schon bei so jungen StudentInnen.
Gigi Hyatt, einst ein Neumeier-Star und heute die Direktorin der Ballettschule Hamburg, begrüßte danach das zahlreich erschienene Publikum. Schade nur, dass die Probebühne, in der die Veranstaltung stattfand, geschätzt nicht mal dreihundert Leute fassen konnte. Aber Gigis formvollendete, freundliche Rede rührte – und stimmte ein auf eine abwechslungsreiche, aber auch leistungsbewusste, zudem wunderbar leicht komponierte Schau.
Da zeigten Jungen und Mädchen abwechselnd kleine und größere Sprünge, die Mädchen akkurat und selbstbewusst, die Jungs mit Drang zu Höherem im Wortsinn. Saubere Cabrioles, Tours en l’air sowie mehrfache Pirouettenkombinationen siegten über das Vorurteil, junge Leute sollten gefälligst nicht so angeben. Es wäre ja schrecklich, wenn sie das ab und an nicht täten!
Die 16- bis 19-Jährigen aus insgesamt 16 Nationen (die von ihren Lehrern die Ordinationen auf Englisch erhalten) zeigten zudem auch im Paartanz, was sie drauf haben. Zwei ausgeklügelte Choreos gaben ihnen dazu die Gelegenheit, Stimmung und Aktion in ihren Tanz zu legen.
Ein Jungstrio begann mit John Neumeiers weltberühmter Jugendchoreografie „Yondering“, respektive einem Teilstück daraus: „Jeanie with the light brown Hair“ zum gleichnamigen Song von Stephen Foster schildert die erste Erfahrung von Liebe und Verlust bei einem jungen Menschen, der so auch erstmals die Erfahrung von unerfüllter Liebe machen muss.
Auch wenn schon Generationen von Tänzern in ihrer Teenagerzeit „Yondering“ getanzt haben: Es ist ganz sicher schwer, diese vielschichtige Kombination aus meditativem Stehen, hohen Arabesken und quick aufeinander folgenden Zwischenschritten zu absolvieren.
Aber das ließen sich die Neumeier-Schüler mitnichten anmerken! Ihre winkend-wedelnden Hände über den Köpfen, die, wie andere Schritte hier auch, eine typische Neumeier-Ästhetik bewirken, ließen sogar vermuten, dass ihnen ohnehin der Ausdruck vor allem anderen beigebracht wurde – entsprechend anregend und ergreifend war ihr tänzerischer Vortrag. Er erhielt jubelnden Beifall!
Die Mädchen mit erhabenen Pirouetten en attitude und superben Schleif- und Sprungkombinationen müssen aber unbedingt auch noch einmal erwähnt werden, zumal hier sichtlich bereits die eine oder andere Solistin heran gewachsen ist. Da gibt es Körperprofile und weibliche Geschmeidigkeit zu bewundern, und manche eine hat schon eine Ausstrahlung wie eine kommende Primaballerina.
Wie anmutig die gelungenen „Rosen-Adagio“-Drehungen der Damen durch die Herren aussehen, demonstrierten die Studentinnen und Studenten in „Wir danken“, einem Stück des ehemaligen Neumeier-Tänzers Kevin Haigen, der in Hamburg Lehrer und auch Erster Ballettmeister beim Hamburg Ballett ist. Vornehme Attitüden zeigten die Mädels da in ihren blendend weißen Spitzenschuhen, und mit zuverlässiger Stärke gaben die Kavaliere ihnen den nötigen Halt. Was da so hervorragend geleistet wurde, hat einen hohen Schwierigkeitsgrad – es ist beruhigend zu sehen, mit welcher Freude und welchem Können der Nachwuchs sich diesen für den hochkarätigen Profi-Tanz grundlegenden Dingen widmet.
Zuvor aber trippelten die acht Paare so „überirdisch“ auf die Bühne, als handle es sich dabei um ein ätherisches Paralleluniversum. Hand in Hand konnten sie sich verbiegen und beugen, sich drehen und strecken: in einer Welt, die durch Liebe erst lebendig wird.
Auch ihre Hebungen und Pirouetten entzückten – und dass synchron getanzt wurde, konnte man sowohl sehen als auch hören! Wer für optische Musikalität, die es so nur im Ballett gibt, empfänglich ist, der konnte hier sanft eintauchen und sich voll und ganz erfreuen lassen.
George-Balanchine-Zitate in einzelnen Posen setzten zudem Kontrapunkte, bildeten ein Adagio im Adagio. Da kam ein Energiefluss in Wallung – wunderbar!
Im Ballett wird ja oft aus einem einzigen Gedanken ein ganzes, reichhaltiges Solo. Oder ein umwerfend intensiver Pas de deux. Ober eben, wie hier, eine mitreißend-berauschende, nachhaltig wirksame Ensemble-Szenerie. Das Jugendballett „Wir danken“ bringt denn auch das Gefühl der Dankbarkeit auf den Punkt körperlichen Ausdrucks. Meines Wissens ist so etwas noch nie in der Tanzgeschichte gemacht worden. Eine Novität! Es ist ein ruhiges, feines Gefühl, keine überschäumende, geblendete Dankbarkeit, die gemeint ist, sondern das lang anhaltende, bleibende Gefühl.
Belohnt wurde das fast barock, nämlich mit einer „Frozen Reference“ der Paare zueinander endende Werk mit auffallend lang anhaltendem, aber nicht aufbrausendem Applaus. Damit spiegelte das Publikum die intensive, aber nicht dramatische Stimmung dieses Adagios, eine schön zu beobachtende „stille“ Kommunikation.
Geprägt ist der Choreograf Haigen sichtlich von John Neumeier – und es wäre traurig, wenn diese Tradition nicht weiter ginge.
Choreografen Neumeier’scher Prägung gab es aber auch spät am Abend, ebenfalls auf der Probebühne, zu sehen: „Junge Choreografen“ zeigten ihre Arbeiten, die erst im März 2015 uraufgeführt worden waren.
Der Tänzer Braulio Álvarez erklärte uns kurz das Prinzip: Tänzerinnen und Tänzer vom Hamburg Ballett zeigen alljährlich eigene Kreationen. Manchmal machen die Stücke dann sogar international Karriere; auch von den sechs folgenden Piecen wurden bereits zwei im Ausland gefeiert.
Von Miljana Vracaric kam der erste Beitrag: Dessen Titel „Mizaru – Kikazaru – Iwazaru“ zitiert die drei Affen aus der asiatischen Mythologie, die nichts hören, nichts sehen, nichts sagen wollen. Das stoische Aneinandervorbeileben und das ebenso geartete (Nicht-)Lieben vollzieht Miljana anhand eines vielleicht als Verwandtschaft zu deutenden Personendreiecks. Eine Frau im gelben Gewand, vorn halb offen, tanzt da langsam ein Lamento, bis ihr ein Mann begegnet. Er geht auf sie zu, bedrängt sie fast, aber die Energie zwischen beiden wandelt sie zu einem geschmeidig und eng tanzenden Paar.
Als eine zweite Frau auftaucht, steht sie solistisch mit offenbar einigem Kummer da. Es gibt keine direkte Beziehung zwischen den drei Figuren, dennoch eine sublime gegenseitige Beeinflussung. Und eine starke Anziehungskraft – unvorstellbar, dass einer der drei hier je freiwillig geht. Obwohl vieles vage bleibt, trifft Vracaric hier genau den Nerv einer Generation, die es sich im vorgeblichen Miteinander zwar bequem gemacht hat, die aber dennoch die Unverbindlichkeit mit Freiheit verwechselt. Eine sehr eindringliche Arbeit. Toll!
SUBTILE BEZIEHUNGSSTRUKTUREN AUCH IN DEN ARBEITEN DER JUNGEN CHOREOGRAFEN
Ebenfalls von einer Dreiecksbeziehung geht „Speechless“ („Sprachlos“) von Lizhong Wang aus. Das ist jene Arbeit, die mir spontan am besten von den sechs hier vorgestellten Neuentwürfen gefallen hat. Die Dreierkiste hier entpuppt sich schließlich nur als Vorspiel, dem eine Art Versuchsanordnung folgt. Die so entstandenen zwei Paare, von denen die beiden Frauen in mehrlagigen schwarzen Röcken eine geschwisterlich-düstere Nähe zeigen, haben ganz unterschiedliche Entwicklungen. Die eine Liebe stirbt, die andere erblüht. Das eine Paar trennt sich, das andere geht enger als je zuvor gemeinsam durchs Leben. Ähnliche Befindlichkeitsstrukturen verbinden alle vier Teilnehmer dieser „Beziehungslotterie“, die natürlich kein Glücksspiel, wohl aber Schicksal im Sinne von Triebschicksal ist.
Außer von John Neumeier scheint Lizhong Wang auch von Nacho Duato beeinflusst – manche Griffe der Herren, manche Rücken- und Schulterarbeiten der Damen und auch manche Hebungen und Bodenfiguren legen das nahe. Eine erquickende, wirklich wunderschöne, zudem sensible Arbeit. Vielmals: Bravo!
„Ouraboros“ bezeichnet die Schlange, die ihren eigenen Schwanz verzehrt. Hier hat Yuka Oishi, die soeben das Hamburg Ballett zugunsten ihrer Karriere als Choreografin verlassen hat, das uralte Symbol zum Kennzeichen einer menschlichen Beziehung gemacht. Die Stars Silvia Azzoni und Alexandre Riabko tanzen zunächst in Puppenmanier wie aus Coppelius’ Zauberschrank in einem Lichtkreis, sie sind quasi lebendige Automatenmenschen, bis sie ihre Ballmasken ablegen und dann frei und ungezwungen ihrer Liebe leben – also tanzen – können. Ein Kuss beginnt hier am Boden und hört nach dem Aufstehen noch lange nicht auf… Das Wechselspiel – mit Maske ein Automat zu sein, ohne ein Mensch – beginnt noch einmal in Anklängen, aber die beiden Liebhaber entscheiden sich für das Richtige. Und lassen die Maske, also den gesellschaftlichen Zwang, weg. Bravourös getanzt und deutlich in der Message, war das ein Highlight der Hamburger Theaternacht! Danke, Yuka!
EIFERSUCHT IST EIN WICHTIGES THEMA FÜR JEDEN, DER LIEBT – ODER GELIEBT WIRD
„The Jealousy Theory“ von Eliot Worrell und Dale Rhodes kann nun von soviel handwerklicher Finesse und choreografischer Erfahrung sichtlich nur träumen. Zudem handelt es sich eigentlich um zwei verschiedene Stücke, die die Choreografen einfach nur nacheinander gesetzt haben. Aber die Talente der beiden, so verschieden sie auch sein mögen, sind dennoch deutlich zu erkennen. Worrell lässt den Ausnahmetänzer Sasha Riva stark und schwach zugleich erscheinen, wenn er einen Kampf mit sich selbst ausfechten muss. Erst ein ihm etwas ins Ohr zuflüsternder Freund weiß ihm zu helfen. Zuvor ging es um das Ablegen und Anziehen einer Jacke, um Selbstzweifel, die in bester, auch langsamer Contemporary Manier am Boden ausgewälzt wurden. Der Einsatz von Sprache statt von Gesang zu Musik war hier ein durchaus beeindruckender Ansatz.
Der zweite Teil dann, wahrscheinlich von Dale Rhodes stammend, setzte Synthi-Ästhetik ein und ließ das Personal die hektische Stimmung der Musik aufnehmen. Darin ist noch vieles unreif – aber eben auch entwicklungsfähig. Rhythmisch traten die Figuren mal in Beziehung, mal verneinten sie sich gegenseitig – sehr typisch für scheinbar modernes, im Grunde aber eben gestörtes soziales Verhalten, das es leider immer häufiger gibt. Umso wichtiger sind Stücke wie dieses, die darauf aufmerksam machen. Die „Eifersuchtstheorie“ aus dem Titel ist zudem insofern eine ironisch-beklemmende Hintergrundfolie, als fast jede Liebe mit Eifersuchtsgefühlen zu kämpfen hat. Und es ist gar nicht mal falsch, diese unabdingbare Kehrseite der Liebe tänzerisch zu erforschen. Auch wenn die Ergebnisse zwangsläufig weniger ästhetisch ergiebig sind als die polierte Vorderfront der Münze.
BEZIEHUNGSZWEITEILER
Der Pas de deux „Anima“ („Seele“) von Edvin Revazov radikalisierte dann in sehr konkreten Gesten. Es geht um die Symbiose zweier Seelen, um das Beieinanderbleiben und stete Miteinanderwachsen. Ganz eng umschlingt sich da ein Paar: Sie steht schon zu Beginn auf beiden Zehenspitzen, im Plié, er hält sie von hinten, eng an sie gepresst. Durch alle Höhen und Tiefen einer Beziehung scheinen sie dann zu gehen, und zwar stets mit hyperengem Körperkontakt. Ein bisschen erinnert dieser teils absurde, teils innige Paartanz an Drehungen und Wendungen von David Dawson – allerdings ohne dessen Leichtigkeit. Dafür ist die beklemmende Atmosphäre hier eine große, eigene Qualität. Anna Laudere und Dario Franconi tanzten zudem so bravourös, dass man es am liebsten gleich noch einmal gesehen hätte.
Dagegen hatte es das etwas seicht einher kommende „Poppy“ von Lennart Radtke schwer. Drei flippig swingende Damen, die im Revuestil ihre Rücken zeigen, ohne mit den Hüften zu swingen – nun ja, offen gesagt, das ist leider nicht mein Geschmack. Aber auch wenig tiefschürfende Tänze können prinzipiell ihre Berechtigung haben – dafür liefert jeder gut gemachte Folkloretanz genügend Beweiskraft.
Draußen, am Bühneneingang der Hamburgischen Staatsoper, wartete jedenfalls das ganz reale Kultureventlifestylevergnügen auf die Austretenden – und ließ einen noch lange nicht aus den herrlich bunt lackierten Klauen. Man kann darum kaum abwarten, bis es wieder soweit ist und die Hamburger Theaternacht erneut zum Durchmachen aufruft. Schade, dass es noch ein rundes Jahr dauern wird…
Gisela Sonnenburg
Die Fotos der Proben zu „A Cinderella Story“ sind Stills aus der Live-Übertragung!
Mehr zu „A Cinderella Story“ bitte hier:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-werkstatt-cinderella/
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-a-cinderella-story-wa/
Und lesen Sie bitte auch den Bericht der Bühnenbegehung von der Theaternacht 2014:
www.ballett-journal.de/hamburgische-staatsoper-buehne/