Sechzehn tolle Frauen, fünfzehn tolle biografische Aufsätze, die sie vorstellen und ihre beruflichen Lebenswege beschreiben: Das Buch „Tanzen und tanzen und nichts als tanzen – Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman“, herausgegeben von Amelie Soyka, ist nur wenige Jahre nach seinem Erscheinen bereits ein Klassiker auf seinem Gebiet. Es hat den Stellenwert eines Lexikons des freien Tanzes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (mit Vorgriffen ins 19.) – und es liest sich nicht larmoyant, sondern aufregend und sachlich zugleich. Sollte so ein Buch nicht genau so sein? Die vielen Inspirationen, die zudem die Ballettwelt den hier geschilderten Tänzerinnen verdankt, warten denn auch nur darauf, beim Lesen von den geneigten Kundigen jedes Mal, wenn sie eine Seite umblättern, neu entdeckt zu werden.
Kennen Sie den Namen Margarethe Wallmann? Höchste Zeit, dieses sehr erwachsene Gretchen des modernen Tanzens kennen zu lernen. Die Theaterwissenschaftlerin Katja Schneider hilft dabei: „Très chère Wallfrau“ („sehr geehrte Wallfrau“) intoniert sie das oftmals irgendwie quer verlaufende Schicksal der Tänzerin Wallmann leicht ironisch bereits im Titel ihres Essays.
Immerhin brachte Wallmann es als Choreografin gleich mehrerer Abende bis zu den Salzburger Festspielen, 1931 war das, und ihr dort uraufgeführtes „Bewegungsdrama“ namens „Das jüngste Gericht“ macht einen nachdenklich über die Frage, warum eigentlich nicht heute Tanz und Ballett einen festen Platz bei den Salzburgern im Sommer haben.
1930 jedenfalls hatte Margarethe Wallmann mit Ted Shawn in einem von ihr kreierten Stück namens „Orpheus Dionysos“ (welche großartigen Gegensätze werden da zusammen gezwungen!) getanzt. Und Wallmann hat mit modern-aufrechten Posen wortlos bereits damals einen Geschmack benannt, der uns noch heute prägt.
Als Schülerin von Mary Wigman leitete sie deren Berliner Schule, 1937 und 1954 reüssierte sie wieder bei den Salzburger Festspielen, sie war Ballettleiterin der Wiener Staatsoper und choreografierte 1937 am Teatro Colón in Buenos Aires.
Als die Nazis Österreich an Deutschland „anschlossen“, blieb sie mit ihrem Mann in Lateinamerika, das unversehens zum Exil wurde. Erst nach sechzehn Jahren kehrte sie nach Europa zurück; in Mailand ließ sie Margot Fonteyn und Robert Helpman tanzen. Mehr und mehr lockte sie zudem wegen eines sich verschlimmernden Hüftschadens, der sie am Vortanzen hinderte, die Oper. Auf sie konzentrierte sich Wallmann ab 1967 als Regisseurin – allerhand für eine Dame damals.
Hinterlassen hat Wallmann uns, außer ihren schönen Posen und ihrer interessanten Art, mit stofflicher Dynamik umzugehen, aber auch ein spezielles Ansinnen an theatrale Räume:
„Alle unsere Bewegungen vollziehen sich in einem realen oder ideellen Raum. Der Raum ist also der Gegenspieler der Bewegung, und nur wenn diese beiden miteinander verbunden sind, kann man von wahrhafter Vollendung der Tanzbewegung sprechen.“
Autorin Schneider schlussfolgert bezüglich Wallmanns Werke zudem klug: „Für ihre Stücke kombinierte Margarethe Wallmann Präzision und Ornamentik des klassischen mit den Formen und Ausprägungen des modernen Tanzes…“ Eine nahezu „wirklichkeitsferne Gebärdensprache“ habe der Tanzfrau vorgeschwebt, jenseits der bekannten Pantomimen.
Und viele Tanzende können sicher nachfühlen, was Wallmann – hier wird es in einer Fußnote offenbart – über sich selbst sagte: „Die vollkommene Freiheit des Ausdrucks habe ich nur im Tanz gefunden. Er dematerialisiert den Körper, indem er die Schwerkraft negiert, und eröffnete mir einen grenzenlosen Raum für meine Sprache: ich war glücklich.“
Als sie verunglückte und den Hüftschaden davon trug, in den 30ern war das, konstatierte sie: „Der Unfall hat alles geändert… Der Weg war lang und hart.“ Aber nicht umsonst!
So, und wenn man nun schon über eine Margarethe Wallmann so spannende Dinge erfährt, wie ist es dann erst mit Isadora Duncan und Loie Fuller, mit Mary Wigman und Josephine Baker, mit Anita Berber und Gret Palucca, mit Martha Graham und Doris Humphrey? Ja. Ganz toll ist es mit ihnen hier. Wirklich!
Und nur, dass man am Ende, zu Beginn des letzten geschriebenen Portraits, den schrecklichen Suizid von Dore Hoyer geistig mitansehen muss, schockt etwas sehr. Hätte man Hoyer nicht an weniger exponierter Stelle in die Reihe der großen modernen Tanzdamen einrücken können? Der Nachgeschmack eines Selbstmords aus Verbitterung ist nicht das, was dieses Buch verdient.
Dafür sind die Bibliographie, die Autorenvorstellung und das Namensregister dann wieder sehr professionell gemacht.
Und wenn man den Band ein weiteres Mal zur Hand nimmt und einfach irgendwo aufschlägt, findet man erbauliche Passagen wie diese (von wem sie wohl erzählt?):
„Bis dahin war das Schreiben und Reflektieren über Tanz eine ausgesprochen von Männern besetzte Domäne. Frauen, als nahezu ausschließlich ausführende Objekte im Tanz, dienten dazu, männliche Fantasien lebendig werden zu lassen.“
Aber jetzt: „Im Hinblick darauf lässt sich Duncans Schreiben als eine emanzipatorische Revolution innerhalb der Tanzgeschichtsschreibung lesen.“ Denn die Rede ist tatsächlich von Isadora Duncan, die wir als tanzende Revolutionärin des Bühnentanzes kennen – und von der die wenigsten wissen, dass sie auch eine bedeutende Tanzautorin war.
Also, schwingen Sie die Hufe und ergänzen Sie Ihre Bibliothek um dieses feine Buch, das Sie höchstwahrscheinlich Ihr ganzes restliches Leben lang nie im Stich lassen wird, sondern immer wieder Anregung spendiert!
Schlimm ist nur, dass die Verlegerin Britta Jürgs von AvivA es nötig hat, ihr Buch – das schon 2012 erschien und jetzt lediglich in zweiter Auflage gedruckt wurde – auf ihrer Verlagshomepage fälschlicherweise als Neuerscheinung anzupreisen. Eine mitteldeutsche Provinzzeitung fiel schon darauf rein und befand ebenfalls, der Band sei neu. Ein übler Fauxpas. Zumal die meisten Zeitungen und Zeitschriften NUR Neuerscheinungen rezensieren. Da wäre das Buch ohne Werbelüge schon gar nicht mehr drin.
Aber soll man lügen und betrügen, nur weil die Regeln, nach denen Medien Bücher aussuchen (Neuheit steht da als Kriterium ganz oben) völlig überkommen sind? Seit der Büchermarkt überquillt vor Neuerscheinungen, ist das Prädikat NEU zwar eigentlich gar nichts mehr wert. Aber man schafft es ja nicht dadurch ab, indem man lügt.
Zudem ist es unlauterer Wettbewerb, ein altes Buch als Neuerscheinung zu etikettieren. Damit kommt es nämlich zum Beispiel in die Sächsische Zeitung, an einen Platz, an dem sonst ein anderes, wirklich neues Buch rezensiert worden wäre.
Nur noch mal für alle zum Mitschreiben: Eine Zweitauflage oder eine leicht erweiterte Auflag, also eine normale Neuauflage, ist keine Neuerscheinung!
Das Problem aber geht tief, sehr tief, weit in die Eingeweide des von den kommerziellen Medien geprägten Wahrnehmungssystems hinein. Denn nur das Neue soll interessant sein: damit man das aktuelle Augenmerk der Menschen besser kontrollieren kann. Der nur vorgeblich freie Markt will auf diese Art gezielt und berechenbar verkaufen – und er hat sich eine absolut verbraucherfeindliche Hackordnung errichtet, nach der das Neue an sich viel mehr wert sein soll als das Produkt von gestern, ungeachtet der realen Qualitäten.
Können oder dürfen Menschen darum keine Bücher mehr zur Kenntnis nehmen, die nicht mehr ganz neu sind? Ist ein von Marktbedürfnissen unabhängiger Qualitätsanspruch so feindlich gegen die Verkaufsstrategien gerichtet, dass er unterdrückt werden muss?
Es scheint so. Und so verramscht und verschweigt man auch die jüngste historische Zeit, nur, um die Leute zu belügen – und ihnen das, was man aktuell verkaufen will, als angeblich neu anzudienen. Sonst würde es nämlich nach den veralteten Regeln der Kommerzmedien auf dem Müll des Vergessenen landen müssen. Also wird besten Gewissens gelogen. Ein historisches Bewusstsein gibt es da nun überhaupt nicht mehr. Trauriges Leseland Deutschland…
Vielleicht sollte man auf das Buch hier darum doch lieber verzichten. Obwohl es gut ist. Aber damit man solche betrügerischen Verkaufsmaschen nicht auch noch bedient. Ich werde demnächst hier gerne für Alternativvorschläge sorgen!
Gisela Sonnenburg
Erschienen im AvivA Verlag, Berlin, 2012 (Erstauflage), um eine Seite erweiterte Auflage: 2017, 287 S., diverse Schwarz-weiß-Abb., 14,90 Euro, ISBN 978-3-932338-54-0