Onegin kehrt Berlin den Rücken Fulminant und unvergesslich: Zum letzten Mal für ungewisse Zeit tanzte das Staatsballett Berlin das Kultstück „Onegin“ von John Cranko. Umjubelt: Elisa Carrillo Cabrera als Tatjana und Daniil Simkin als Lenski

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Wunderschön und anrührend: Elisa Carrillo Cabrera und Alexei Orlenco beim ersten Schlussapplaus nach „Onegin“ am 16. Mai 23 in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Der schöne Mann geht. Und seine Rückkehr nach Berlin ist ungewiss. Aber sein letzter Tanzabend, gestern in der Staatsoper Unter den Linden, hatte das Zeug zur Legendenbildung. „Onegin“ von John Cranko, eines der ganz großen Ballette nicht nur des 20. Jahrhunderts, bezauberte das ausverkaufte, allerdings nicht voll besetzte Haus. In den oberen Rängen blieben tatsächlich noch Plätze frei, vielleicht hat da die Anreise nicht geklappt. Welch ein Jammer für alle, die diese Vorstellung verpasst haben. Es triumphierten in den Hauptrollen: Alexei Orlenco in der Titelpartie, Elisa Carrillo Cabrera als Tatjana, Evelina Godunova als Olga und Daniil Simkin als Lenski. Dieses Staraufgebot erfüllte alle Erwartungen und mehr: Mit jedem Atemzug, mit jedem Bruchteil einer Sekunde ging die Vorstellung unter die Haut. Und in die Begeisterung mischt   sich Trauer. Was für eine hochkarätige Kunst wird Berlin verlieren, weil der künftige Ballettchef Christian Spuck auf solche Künstlerinnen und Künstler teilweise verzichtet und darüber hinaus „Onegin“ nicht mehr auf dem Spielplan hat. Seit 2003 wird der moderne Klassiker mit wenigen Unterbrechungen in Berlin getanzt, und zeitweise konnte man das Stück nirgendwo so gut getanzt und dargestellt erleben wie in Berlin. Manche nannten es ein Signaturstück des Staatsballetts Berlin, andere sprachen von einer getanzten Visitenkarte. Und jetzt, was ist jetzt? Ach, ade, Onegin! Lass uns hoffen, dass es in absehbarer Zeit ein Wiedersehen an der Spree gibt. Bis dahin müssen wir die Erinnerungen am Leben und in Ehren halten.

Onegin ist einfach toll

Erinnerung an Mikhail Kaniskin: ein „Onegin“ mit Kultstatus beim Staatsballett Berlin, dank sehr differenzierter Spielweise und hervorragendem Tanz. Foto: Enrico Nawrath

„Onegin“, dieses nach seinem (Anti-)Helden benannte Kultballett, ist ein Konglomerat aus literarischen Mythen und tänzerischer Vielfalt. Drei Liebeskonzepte werden darin vorgestellt – und zwei davon scheitern an menschlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Dennoch sind alle drei Konzeptionen utopisch angelegt und ausformuliert. Und auch die trotz Kinderlosigkeit mehrere Generationen umfassende Gesellschaft, wie sie vor allem in den ersten beiden Akten gezeigt wird, trägt utopische Züge.

Selten ist es einem Choreografen so intensiv gelungen, Charaktere einerseits und glückliches Miteinander andererseits harmonisch zusammen auf die Bühne zu bringen. John Cranko hat mit seinem „Onegin“, der nach einer eher unglücklichen ersten Uraufführung 1965 dann zwei Jahre später durch eine Überarbeitung zu seiner endgültigen – famos-erfolgreichen – Fassung fand, ein Meisterstück sondergleichen geschaffen.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Freude und großer Jubel beim Schlussapplaus nach „Onegin“ mit dem Staatsballett Berlin gestern Abend. Foto: Gisela Sonnenburg

Vielleicht passt das geniale Werk auch gerade deshalb so gut nach Berlin, weil es hier traditionell ein großes Verständnis für die russische Kultur gibt. Denn nicht nur der Ursprung dieser Musik, sondern auch die literarische Vorlage stammen aus Russland. „Eugen Onegin“, der Versroman von Alexander Puschkin, den in Russland jedes Kind kennt, wurde 1833 erstmals publiziert. Er vereint die Elemente starker Satire mit dem Vorstellen und auch Hinterfragen von menschlichen Idealen.

Peter I. Tschaikowsky schrieb eine viel gespielte Oper dazu, und entgegen den kursierenden Behauptungen finden sich in der Ballettmusik auch einzelne Elemente aus dieser. Vor allem aber sind Auszüge aus Tschaikowskys  „Jahreszeiten“, aus seiner Oper „Wakula der Schmied“, aus seiner sinfonischen Dichtung „Romeo und Julia“, aus „Francesca da Rimini“ sowie einzelne Tänze in der Partitur von Stolze verarbeitet.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Dirigent Jonathan Stockhammer: auch er wird nach „Onegin“ in der Staatsoper Unter den Linden gefeiert. Foto: Gisela Sonnenburg

Jonathan Stockhammer, gebürtig in Hollywood, dirigierte die Staatskapelle Berlin zügig und ohne pathetische Dramatisierung, aber pointiert und unter hervorragender Herausarbeitung der lieblichen Melodiebögen. Die cineastische Musik zu „Onegin“ stammt ja ursprünglich von Peter I. Tschaikowsky, findet sich aber in der Bearbeitung fürs Ballett von Kurt-Heinz Stolze auf nochmals verstärktem romantisch-tänzerischen Niveau.

Der erste Akt entführt uns zu leichthin-gefühliger Musik in die Welt des russischen Landadels im 19. Jahrhundert – und hier zunächst in die anmutig-verspielte Damenwelt.

Elisa Carrillo Cabrera, die so elegante wie ausdrucksstarke Berliner Primaballerina, die nicht umsonst den Prix Benois de la Danse erhielt – die höchste Auszeichnung weltweit im Ballett – liegt bäuchlings als Tatjana mit einem anscheinend durchaus spannenden Buch im Garten.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Bravos entgegen zu nehmen, gehört zum Beruf: Elisa Carrillo Cabrera und Alexei Orlenco nach „Onegin“ gestern Abend in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Ruhe und Kontemplation gehen von ihr aus, aber auch eine gewisse Sinnlichkeit prägt ihre Aura. John Cranko hatte in den 60er-Jahren ja zunächst Margot Fonteyn aus London als Tatjana im Sinn, musste dann aber beim Stuttgarter Ballett bleiben und nutzte die Power von Marcia Haydée für die Kreation der Tatjana. Elisa Carrillo Cabrera ist eine der würdigsten Nachfolgerinnen in dieser anspruchsvollen Rolle, und John Cranko hätte begeistert zugestimmt, sie zu besetzen. So viel Grazie, vereint mit so viel Geist! Carrillo Cabrera vereint die beiden Pole, die Tatjanas Charakter ausmachen, als sei sie für die Rolle geschaffen.

Der Rest der vaterlosen Familie, allen voran Tatjanas Schwester Olga – wunderbar lyrisch-dynamisch, akkurat und dennoch quicklebendig, wie eine Verkörperung des Frühlings in weiblicher Gestalt: Evelina Godunova – beschäftigt sich derweil mit den Finessen schöner Kleider, an denen noch liebevoll herumgezupft und herumgenäht wird.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Barbara Schroeder als Madame Larina nach „Onegin“. Foto: Gisela Sonnenburg

Barbara Schroeder ist die beste Frau Mama, also Madame Larina, die man sich nur denken kann: Mit Charme und Güte, Sinn für Humor und Achtsamkeit behütet sie ihre Töchter.

In diese feminine Sphäre kommt Lenski als Verlobter von Olga. Daniil Simkin tanzte diese Partie gestern abend so faszinierend durchdacht und dennoch spontan in den Emotionen, dass er wie eine Verlebendigung der Romanfigur wirkte. Wirklich superbe. Seine Soli und ebenso die Pas de deux mit Evelina Godunova waren ein Augenschmaus von A bis Z, und bis ins kleinste Detail lohnte sich die höchste Aufmerksamkeit. John Cranko wäre auch hier beglückt gewesen, diese Vorstellung zu sehen.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Fabelhaft: Evelina Godunova und Daniil Simkin als Olga und Lenski nach „Onegin“ gestern Abend in der „Lindenoper“ in Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Doch die Utopie dieser frohgemuten, glücklich-spritzigen, euphorisch-vitalen, aber eben nur selbstreferenziellen Liebe von Olga und Lenski muss scheitern. Ihnen ergeht es wie allen Positivisten: Sie machen Fehler, weil sie die negativen Seiten in der Realität nicht erkennen, schon gar nicht am eigenen Verhalten.

Zentral in diesem Versagen steht Eugen Onegin, der Dandy schlechthin im Ballett, der nach einer Erbschaft durch die Weltgeschichte reist, immer auf der Suche nach Zerstreuung und billig zu erhaltender Selbstbestätigung.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Elisa Carrillo Cabrera und Alexei Orlenco gestern Abend nach „Onegin“ beim rauschenden Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Alexei Orlenco ist zwar kein legendärer, in vielen Vorstellungen bewährter Onegin, wie es in Berlin Mikhail Kaniskin und Wieslaw Dudek waren. Beim Stuttgarter Ballett ist es derzeit Jason Reilly und für einige Fans auch Friedemann Vogel. Bei den beiden Uraufführungen war es übrigens Heinz Clauss, der der Partie zum Kultstatus verhalf.

Aber Orlenco steht seinen Mann, er kneift nicht, er liefert sich den wechselhaften Stimmungen seiner Figur aus und erfüllt die Rolle mit Männlichkeit, Schönheit, Virtuosität.

Cranko wollte das Stück ja zunächst als Brilliervorlage für Rudolf Nurejew, als Partner der Fonteyn in London, kreieren. Aber das scheiterte bei den Vorgesprächen an der mangelnden Bereitschaft von Margot Fonteyn, sich oftmals in spektakuläre Höhen heben zu lassen.

"Onegin" in Wien mit Jason Reilly und Hyo-Jung Kang

Hebungen mit Höhe und Poesie: Jason Reilly und Hyo-Jung Kang in „Onegin“ von John Cranko beim Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor

Die Hebungen von Onegin und Tatjana sind in der Tat sensationell, bis heute – und in den 60er-Jahren setzten sie Meilensteine im Ballett. Alexei Onegin wirbelt seine Tatjana Carrillo Cabrera mit Verve durch die Luft, hebt sie behutsam, federleicht und mit Anmut, und schon in ihrem ersten großen Pas de deux während eines Spaziergangs wird klar: Onegins Souveränität beeindruckt Tatjana zutiefst.

Während sie fasziniert um ihn herumtrippelt, gleichermaßen erstaunt und hingerissen von seinem Charme, öffnet er sich ihr ein Stück weit und gewährt Einblicke in sein Seelenleben: Der Weltschmerz plagt ihn. Die berühmte Geste der rechten Hand, deren Oberseite sich an die Stirn Onegins legt, drückt das plastisch aus.

Dennoch oder gerade deshalb macht sie sich Hoffnungen auf dein Leben mit diesem Mann. Sie übersieht dabei, dass er für eine Beziehung nicht bereit ist, dass er sich als ewigen Abenteurer sieht, der über den Dingen der Beständigkeit steht. Seinen Hochmut, seine Blasiertheit, sein Überdruss – sie in ihrer jugendlichen Naivität hält all das für geniale Coolness, für Smartheit, für Überlegenheit.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Gefeierte Stars beim Staatsballett Berlin: Elisa Carrillo Cabrera und Alexei Orlenco vorn, hinten rechts: Evelina Godunova und Daniil Simkin, dazu das hervorragende Corps de ballet nach „Onegin“ am 16.05.23  in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Gisela Sonnenburg

Es sei angemerkt: Tatjana hat nicht ganz Unrecht mit ihrer Milchmädchenrechnung. Onegin ist ledig und wie sie selbst schon längst fällig für eine Ehe, also im üblichen Alter für eine Verheiratung. Onegins bester Freund ist zudem Lenski, der Verlobte von Tatjanas Schwester. Offenkundig gefällt Tatjana ihm auch, er machte ihr sogleich seine Aufwartung, kaum, dass er sie sah. Und dennoch: Wo die Bereitschaft zu Respekt und Bindung fehlt, hat die Liebe ihr Recht verloren. Das übersieht Tatjana geflissentlich.

Und so steigert sie sich in einen zauberhaften Traum hinein. Die Musik spielt während des Bühnenumbaus weiter, was den filmischen Eindruck dieses Balletts verstärkt. Als der Vorhang wieder hochgeht, befinden wir uns in Tatjanas Schlafzimmer. Sie übergibt ihrer Amme – Martina Böckmann ist sehr schön in diese Partie hineingewachsen, sie wirkt liebenswert und würdevoll, aber nicht gestelzt, sondern eher bäuerlich einfach – einen Brief an den tollen Dandy Onegin.

Und dann träumt sie von ihm. Er scheint im Kerzenschein aus dem Spiegel zu treten und mit ihr zu tanzen. Und wie! Nie in ihrem Leben war Tatjana so glücklich, so scheint es: Er hebt sie in schier unendliche Höhen, erhebt sie gleichermaßen zur Königin seines Herzens. Ach, es ist so schön!

"Onegin" verabschiedet sich

Im Traum ist er der perfekte Mann für sie: Tatjana (wunderschön: Elisa Carrillo Cabrera) und Onegin (stark und faszinierend: Mikhail Kaniskin) mit dem Staatsballett Berlin in Cranko „Onegin“. Foto: Carlos Quezada

Kaum ist dieser Traum-Paartanz vorbei, wünscht man sich, ihn nochmal und nochmal und noch einmal zu sehen…

Und Tatjana stellt sich poetisch mit verträumt-erhobenem Arm an die Rampe, einen Fuß rückwärts ins Tendu gestellt – starke Zuversicht, Vertrauen in das eigene Gefühl der Liebe, auch die verblendete Siegesgewissheit eines total verliebten Menschen drückt sich hier aus.

Man geht in die erste Pause und ist erfasst von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Menschen, die man auf der Bühne dargestellt sah.

Musik, Bühnenbild und Kostüme (die Ausstattung von Elisabeth Dalton orientiert sich am Original von Jürgen Rose) sowie auch das Lichtdesign von Steen Bjarke unterstützen die Tänzer in ihrer Kunst, und durch die Kraft der Musik sind wir alle, Künstler und Zuschauer, mysteriöserweise verbunden wie eine eingeschworene Gemeinschaft.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Ehrerbietung und Beifall: beim Applaus nach „Onegin“ mit dem Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Der zweite Akt zeitigt die Katastrophen: Tatjana freut sich auf Onegin und wird schwer von ihm enttäuscht. Ihren Brief zerreißt er in die Hände der Schluchzenden hinein – immerhin hat er den Mut, ihr zu sagen, wo er steht, wenn auch auf eine rücksichtslose, nachgerade sadistische Weise.

Um sie noch mehr zu demütigen, flirtet er die verlobte Olga an und treibt das absurde, grotesk gewalzerte Techtelmechtel mit ihr auf die Spitze.

Daniil Simkin spielt absolut fantastisch den verletzten, aufgeregten Lenski. Er erkennt seine Verlobte, aber auch seinen Freund Onegin kaum noch wieder – und er handelt. Er streitet, empört sich und wirft Onegin letztlich als Zeichen der Forderung zum Duell den Handschuh hin.

Alle sind entsetzt. Jeder weiß: Diese Eskalation ist eine auf Leben und Tod.

Von "Onegin" bekommen echte Fans niemals genug!

„Onegin“ wurde auch beim Bayerischen Staatsballett in München schon gefeiert. Die Duellsituation bringt im Bild Tatjana (Lucia Lacarra) und Onegin (Marlon Dino) auseinander. Foto: Charles Tandy

Duelle waren eine Art Pest im Verhalten der vorgeblich zivilisierten Menschheit, und sie forderten sogar nach ihrem Verbot noch viele Opfer. Gekränkte Eitelkeiten und übersteigerte, falsche Ehrgefühle, vermischt mit bis dahin unterdrückten Aggressionen rotteten einen Gutteil der begabten männlichen Teilnehmer einer Gesellschaft aus.

Unter den ebenfalls darunter Leidenden: die Hinterbliebenen, allen voran die Frauen, also die Verlobten und Gattinnen, dann Witwen.

Die Versuche im Balanchine-Stil von Tatjana und Olga, Lenski vom Duellvorhaben mit Sprüngen bei gestreckten Beinen abzubringen, scheitern.

Auch vor dem Duell erwehrt er sich ihrer Bemühungen, wirft seine Olga sogar wie mit einem Hurenvorwurf zu Boden.

Tatjana erzittert. Sie scheint die volle Tragweite des kommenden Duells bereits zu erfassen, klug und umsichtig, wie sie ist.

Malakhov als Lenski

Beim Staatsballett Berlin tanzte einst Vladimir Malakhov, hier mit der zarten Corinne Verdeil als Olga, den Lenski: lyrisch, verliebt, emotional. Foto: Monika Rittershaus

Aber Lenski tanzt noch ein letztes Solo, bevor er stirbt, und Daniil Simkin tanzt es, wie es vielleicht noch nie in Berlin getanzt wurde. Er verzichtet auf alle Manierismen bei der Interpretation dieses melancholischen, ahnungsvollen Adagios bei Mondenschein, er konzentriert sich auf die pure körperliche Aktion und die starke emotionale Lage der Figur. Angst und Hoffnung vermischen sich darin, es geht weniger um Todessehnsucht als vielmehr um den Wunsch zu leben. Wunderbar!

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Handkuss nach der Vorstellung: Evelina Godunova (Olga) und Daniil Simkin (Lenski) in der „Lindenoper“. Foto: Gisela Sonnenburg

Wer hier nicht gerührt ist, hat kein Herz. Es ist große Weltkunst, die Simkin da abliefert, und bei seinen besten Vorgängern in Berlin in der Partie – Vladimir Malakhov und Dinu Tamazlacaru sind vielen noch im Gedächtnis – steht er keineswegs hintenan.

Beim Stuttgarter Ballett, das sei hier vermerkt, hat man die Rolle des Lenski wohl schon lange nicht mehr so hervorragend getanzt gesehen. Obwohl „Onegin“ zum Urbestand der Stuttgarter gehört, verlässt man sich dort gern mit nicht immer ganz passenden Routinebesetzungen auf den Erfolg, den das Stück sowieso dank seiner starken Ausstrahlung hat.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Evelina Godunova und Daniil Simkin vom Staatsballett Berlin als Olga und Lenski in „Onegin“: Sie stehen für die unbedachte, frohgemute Liebe, die zwangsläufig scheitern muss. Foto: Carlos Quezada

In München, Wien, Hamburg und Moskau, wo „Onegin“ mit viel Elan auch schon aufgeführt wurde (oder wird), legt man stets auf die Kontrastierung von Lenski als lyrisch-dramatischem Charakter und Onegin als düster-pathetischem Naturell großen Wert. Und das ist auch genau richtig so – hier könnte Stuttgart von den anderen, auf den letzten Drücker auch von den Berlinern, noch etwas lernen, das dort wohl vergessen wurde.

Auch die beiden Damenrollen der ungleichen Schwestern leben vom Kontrast: Elisa Carrillo Cabrera ist vorzüglich als zartfühlende, intelligente junge Dame Tatjana zu sehen, die nicht bereit ist, sich nur von den Konventionen leiten zu lassen. Ihr Gegenstück Olga wird von Evelina Godunova als rückhaltlos vitale Mitmacherin gezeigt, die nur zu gern auf jeden fahrenden Zug aufspringt. Ein ganz köstliches Damenduo!

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Nach dem Tod von Lenski bricht diese in sich noch ausgeglichene Gesellschaft zusammen. Alexei Orlenco hat als Onegin das letzte Wort, die letzte Geste: Kummervoll hält er sich den Kopf, nachdem er Lenski erschießen musste, bevor dieser ihn erschossen hätte.

Die zweite Pause verstärkt den Wunsch, das ganze Stück am liebsten nochmal von vorn zu sehen, und man hasst die Zeit, weil sie unaufhaltsam vergeht. Aber das ist nun mal Teil der Faszination einer Live-Vorstellung: Das Programm rollt ab, wie ein schicksalhafter Plan.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Elisa Carrillo Cabrera und Yevgeniy Khissamutdinov im „Roten Pas de deux“ in „Onegin“ von John Cranko. Wahre Liebe, die hält und hält und hält – ohne ein Übermaß an Passion. Foto: Carlos Quezada

Akt drei beginnt wieder mit einem Ball. Akkurat bebildert das Corps de ballet die Szenerie, dieses Mal im Hochadel in Sankt Petersburg angesiedelt. Fürst Gremin, der sich tatsächlich schon früh um Tatjana bemühte, ohne allerdings ihr Herz zu erobern, hat sie nach dem Tod Lenskis endlich heiraten dürfen. Und Tatjana hat ihre Chance genutzt: Sie ist zu einer glücklichen Gattin geworden, deren Ehemann ihr weniger Abenteuer, dafür aber Verlässlichkeit und Freundschaft, Ehrerbietung und alle Unterstützung gewährt.

Der „Rote Pas de deux“, im roten Ballkleid von Tatjana mit Gremin in Uniform getanzt, ist ein Kernstück dieses Balletts, schildert er doch das, was eine gute Beziehung in der Tat ausmacht. Yevgeniy Khissamutdinov tanzt den Gremin etwas behäbig, schwer väterlich, was ein wenig den Reiz der Sache mindert.

Aber zusammen mit Elisa Carrillo Cabrera berückt auch er in diesem Pas de deux, und man gönnt es der von Onegin so arg verschmähten Tatjana so sehr, dass sie endlich ihr Glück gefunden hat.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Elisa Carrillo Cabrera (Tatjana) und Yevgeniy Khissamutdinov (Fürst Gremin) mit dem Corps de ballet vom Staatsballett Berlin beim Applaus nach „Onegin“. Foto: Gisela Sonnenburg

Bis der ob ihres Glücks eifersüchtig gewordene Onegin sich für einen Besuch bei ihr anmeldet. Sie ist entsetzt, verstört, bittet ihren Mann um Beistand. Der wiederum kennt die ganze Geschichte ihres Herzens nicht und will sie wohl auch nicht wissen. Oder er vertraut ihr schlicht maßlos, auf die Stabilität ihrer Ehe setzend.

Und so stürmt Onegin, zunächst von Zaudern begleitet, in das Gemach der Tatjana. Die Funken sprühen, dieser Schluss-Pas-de-deux mag in gewisser Hinsicht den Ruhm des ganzen Balletts schon allein begründet haben.

Die Klarinette als Solo-Instrument zeigt hier das Lied der Liebe an, und später bilden die anschwellend emotional werdenden Streicher, wohin der Liebeswahn führten könnte. Es ist so unglaublich anrührend…

Onegin offenbart sich rückhaltlos als spät Verliebter, als bereuender Macho, der jetzt in Tatjana die einzig liebenswerte Beute seines Lebens erkannt hat.

"Onegin" verabschiedet sich

Elisa Carrillo Cabrera vom Staatsballett Berlin im finalen Pas de deux von „Onegin“. Foto: Carlos Quezada

Was soll sie dazu sagen? „Du liebst mich doch, ich weiß es doch“, dröhnt ihr der Unterton des begehrenden Dandys entgegen. Und stimmt es nicht? Hat er nicht den Bonus der ersten großen Liebe in ihrem Herzen? Und blieb er nicht all die Jahre – laut Vorlage sind gut zehn Jahre vergangen – darin?

Tatjana ist hin- und hergerissen. Endlich scheint ihr Traum von damals wahr zu werden, mehr noch: Die Hebungen werden sogar übertroffen.

Immer wieder schleicht sich Onegin an Tatjana heran, es gelingt ihm, sie mal zur Berührung der Köpfe, mal zum Sitzen am Boden, mal zur umschlingenden Umarmung zu bewegen.

"Onegin" verabschiedet sich

Der „Hexensprung“ ist ein zweifacher Höhepunkt in „Onegin“ – hier Elisa Carrillo Cabrera, gelenkt und gehalten von Mikhail Kaniskin. Foto: Carlos Quezada

Jetzt oder nie. Jetzt oder nie? Nach den beiden „Hexensprüngen“, die der hingebungsvollen Tatjana überirdische Kraft zu verleihen scheinen, ist der Zenit überschritten. Und sie besinnt sich. Sie kommt zu sich!

Sie rennt zum Tisch, holt seinen Brief, mit dem er das Treffen einleitete. Sie ereifert sich. Sie zerreißt seine Liebesschwüre, drückt ihm die Papierschnitze in die Hand, ganz so, wie er es vor zehn Jahren mit ihrem Liebesbrief in ihre Hände tat.

Onegin kann es nicht fassen. Er hatte schon frohlockt. Er verbeugt sich erneut vor ihr, umfasst ihren Unterleib mit seinen Armen, will sie einfangen und in Besitz nehmen. Und sie – weist ihm die Tür.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Ein ehrenvoller Handkuss nach der Vorstellung: Elisa Carrillo Cabrera und Alexei Orlenco nach „Onegin“ in der „Lindenoper“. Foto: Gisela Sonnenburg

Wie traumatisiert stürmt er hinaus. Und auch sie verkraftet diese Trennung nur schwer, ist verstört, sehnsuchtsvoll, mit sich selbst um Kraft ringend. Langsam senkt sie die Unterarme mit den zu Fäusten geballten Händen. Sie gewinnt, sie, Tatjana, über eine aussichtslose, destruktive Begierde, die man auch Liebe nennt. Es ist so großartig.

Der Applaus tobte, die echten, unverstellten, positiven Gefühle erfüllten das große Opernhaus.

Für drei der Stars heute abend war es die letzte Vorstellung im Berliner Engagement: für Evelina Godunova, Daniil Simkin und Yevgeniy Khissamutdinov. Schlimm, schlimm, solche Talente einfach gehen zu sehen, weil der kommende Ballettintendant keinen ganz guten Geschmack hat.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Applaus und Dank an alle: Schlussbild vom Staatsballett Berlin nach „Onegin“. Foto: Gisela Sonnenburg

Beim Verbeugen wird aber nicht nur den fantastischen Solisten gedankt. Sondern auch dem Corps de ballet, das vor allem in den Pas-de-deux-Szenen vollauf begeisterte. Es gab wohl nie eine „Onegin“-Vorstellung in Berlin ohne reichlich Szenenbeifall auch für das tanzende Ensemble, so bei den beiden gekreuzten Spagatsprung-Reihen im Garten, welche die Damen an den Händen ihrer Kavaliere absolvieren, aber auch bei den präzise, dennoch herrlich leichtfüßig dargebotenen Festtanzszenen.

Ein Fest war auch die gesamte Vorstellung, vor deren Protagonisten wir uns hiermit verneigen. Danke, danke, dankeschön vielmals! Ihr bleibt bei uns, in Gedanken, und wir halten Eure Ehre hoch!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Gruppenbild mit Damen (von links): Barbara Schroeder, Evelina Godunova, Yevgeniy Khissamutdinov, Daniil Simkin, Alexei Orlenco, Elisa Carrillo Cabrera und Ballettmeister Tomas Karlborg backstage. Foto: Facebook

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