Dieses aufregende Ballett aus dem 21. Jahrhundert ist ein wilder Traum in expressiven Farben, abgemischt mit großen tänzerischen Gesten und akrobatisch spektakulären Gefühlsausbrüchen. Was für ein Werk, und was für eine Werksgeschichte! Als John Neumeier, der große Magier vom Hamburg Ballett, 2017 seine Version von Leo Tolstois „Anna Karenina“ als Ballett schuf, ahnte er noch nicht, dass die Kooperationen zu dieser Uraufführung sowohl mit dem Kanadischen Nationalballett aus Toronto als auch mit dem Bolschoi-Ballett aus Moskau bald legendär und in der Weltgeschichte des Balletts einzigartig sein würden. Die hochkarätigen staatlichen Kunstbetriebe aus den drei Staaten vereinten sich ost-west-übergreifend, um Neumeiers Pläne zu diesem Mammutwerk künstlerischer Kreativität in die Tat umzusetzen. In Moskau tanzte – außer Olga Smirnova – Svetlana Zakharova, die Jahrhundertballerina der Millenniumswende, die Titelrolle. Sie hatte mit ihrem geäußerten Wunsch, mit Neumeier eine Uraufführung zu erarbeiten, das Tanzdrama sogar angeregt. Weltliteratur, in diesem Fall, wie schon bei „Tatjana“, mal wieder aus Russland kommend, zur Vorlage zu nehmen, war nun für Neumeier kein Problem. Zumal der zentral im Stück stehende Konflikt auch in Zeiten der angesagten Diversität stetig aktuell sein dürfte: Es ist der Ehebruch, um ihn kreist das ganze Werk. Immerhin: Es ist keine kleine schmutzige Affäre, um die es geht, sondern ein Ehebruch de luxe. Titelheldin Anna ist bei Neumeier denn auch eine Frau von heute, die mit einem Sankt Petersburger Politiker verheiratet ist. Dessen Wahlkampf könnte der szenischen Umsetzung nach aber auch in Deutschland oder Kanada stattfinden: Neumeier zeigt eine einheitlich globalisierte, nicht eine Krieg führende Welt. 2017, bei der Uraufführung, war das die Realität – heute entspricht dieses Weltbild schon wieder einer Utopie.
Die Musiken von Peter I. Tschaikowsky, Alfred Schnittke und Cat Stevens (Yusuf) illustrieren die Entwicklungen der gefühlvollen, aber auch etlichen gesellschaftlichen Handlungszwängen unterliegenden handelnden Personen.
Die getanzte Rede von Karenin, Annas Gatten, vor seinen Parteifreunden zu Beginn macht deutlich, dass diesem Mann die Ehe mit der als Model und Mannequin gezeichneten Anna nicht mehr als pure Repräsentation bedeutet. Emotional sind er und Anna am Ende.
Anna Laudere tanzt, wie schon bei der Hamburger Uraufführung, auch auf der jetzt bei c major erschienenen DVD (oder BluRay) mit akkurater Eleganz und überzeugendem Leidensdruck die Karenina, und Ivan Urban ist glaubhaft ihr erfolgsheischender Gatte.
Hervorzuheben sind im Stück die Pas de deux, aber auch die Verzweiflungssoli, welche außer Annas Tragödie auch die Schicksale mit Männern von zwei weiteren Frauen behandeln.
Hier schuf John Neumeier Novitäten, die es vorher so im Ballett nicht zu sehen gab: mit exaltierten Hebungen, die dank vorzüglicher Probenarbeit ganz organisch wirken, und mit sehr modernen, den Körper rundum erfassenden neuartigen Solo-Bewegungen.
Entscheidend sind aber die Menschen, die solchermaßen dargestellt werden:
Da ist – außer der Hauptperson und ihren Partnern – Annas Schwägerin Dolly (Patrizia Friza), deren Ehemann Stiva (Florian Pohl) chronisch fremd geht. Kein Kindermädchen, keine junge Frau in seiner Nähe ist vor ihm sicher… leider sind solche Schürzenjäger auch im 21. Jahrhundert noch immer nicht selten geworden.
Hier im Stück quält sich Dolly mit der solchermaßen in ihren Augen missratenen Ehe, die sie nur noch der Kinder wegen aufrecht erhält.
Während sie Anna am Handy davon berichtet, stößt diese im Bahnhofsgebäude mit ihrer künftigen großen Liebe zusammen. Oh!
Im Hintergrund agiert dazu der so genannte Mushkin, getanzt von Karen Azatyan, der wie eine Symbolfigur für die Stabilität der Gesellschaft im Bahnarbeiter-Anzug erscheint und stirbt – und als Geist ein unverzichtbarer Wiedergänger im Stück wird. Neumeiers Kunstgriff, eine spirituelle Ebene anhand des geisterhaften Mushkins zu schaffen, ist so bühnen- wie filmgerecht.
Anna trifft die Liebe derweil wie ein Schlag, und auch Alexei Vronski kann der schönen Anna nicht widerstehen. Edvin Revazov tanzt die Partie hervorragend und ist zudem als Bühnenpartner der langbeinig-großen Laudere bestens geübt.
Während eines Festes begegnen sich die beiden dann sozusagen backstage, und er entzündet nicht nur ihre Zigarette, sondern auch ihre Leidenschaft – die Triebkraft der Liebe entfaltet sich vollends. Annas schwarzes Abendkleid, kreiert von Albert Kriemler (vom Modelabel AKRIS), hat eine kleine, aber stolperfähige Schleppe – und es ist ein aufregender Event, hier zu sehen, wie sich die Ballerina trotz des Hindernisses gewandt und tanzfertig zeigen muss.
Mit der gesellschaftlichen Ächtung nach der Trennung von Karenin, der sich derweil mit seiner Assistentin (lieblich und dienstbar: Xue Lin) tröstet, hat Anna indes nicht gerechnet. Auch das von Vronski empfangene, in Anwesenheit beider Männer geborene Kind erhält nicht die Liebe, die es von seiner Mutter braucht. Annas älterer Sohn Seryosha (lässig, doch einsam: Marià Huguet) wird hingegen heimlich von ihr besucht, als sie schon mit Vronski lebt.
Als Anna glaubt, Vronski ginge fremd und sei ihrer überdrüssig, verfällt die Schöne endgültig in eine Depression. Leider hat Neumeier das Libretto nicht dem 20. / 21. Jahrhundert angepasst, er lässt Anna also nicht als emanzipierte Frau trotz Trennung auch vom Liebhaber überleben, sondern er stürzt sie – wie weiland Tolstoi in seinem Roman – erst in große Traurigkeit und dann in den Freitod des einfahrenden Zuges. Als Mahnzeichen rattert schon vorab eine Spielzeugeisenbahn über die Bühne.
Dabei gibt es heute wirklich viele Frauen gerade in den oberen Gesellschaftsschichten, die als Geschiedene gut versorgt und glücklich leben. Tolstoi hätte sich derlei allerdings nicht vorstellen können.
Moderner in unserem Sinn ist dagegen eine andere Frauengestalt in „Anna Karenina“: Kitty, fabelhaft getanzt und gespielt von Emilie Mazon, liebt ebenfalls Vronski, welcher aber eben der verheirateten Anna Karenina nachsteigt.
Kitty leidet zunächst stark darunter. Trost findet sie, nach heftigem Liebeskummer und einem exzellent getanzten Nervenzusammenbruch, bei einem anderen Mann: in der tiefen, von Freundschaft geprägten Gefühlswelt des jungen Gutsherren Levin (hervorragend: Alexei Martínez). Auf dem Trecker fährt sie auf die Bühne, ganz aufgehend in ihrer neuen Position als tätige Gutsherrin.
Drei Frauen, drei Liebesschicksale: Anna, die tragische, trennt sich für geilen Sex vom Ehemann, wird gesellschaftlich geächtet und letztlich irre bis zum Suizid. Im Patriarchat soll das wohl die gerechte Strafe für die Eigenwilligkeit der Heldin sein. Dolly hingegen verkörpert die Duldsame, die alles erleidet, ohne aufzubegehren – zur Belohnung darf sie am Leben bleiben und sich an ihren Kindern erfreuen. Kitty schließlich verzichtet auf die große Liebe – notgedrungen – und ergibt sich einer handfesten, objektiv glücklich zu nennenden Beziehung. Selbständig sind alle drei Frauen nicht, dafür entsprangen sie ja auch der Fantasie eines Mannes im 19. Jahrhundert. Man kann ihre Lebenswege aber als Mahnung sehen, Motto: So, liebes Publikum, soll es ja nicht sein, oder?
Die Modernisierung des Plots in Neumeiers Ballett passt sich äußerlich der Mode, der Politik und dem technischen Fortschritt (mit Handys, Lacrosse-Spiel und Trecker) an, die avisierte Tragödie aber rollt wie im 19. Jahrhundert als unvermeidbare menschliche Katastrophe ab.
Und es bleibt die Frage: Ist der konsequente Ehebruch, hier auf hohem Niveau und fast wie eine zweite Ehe angesiedelt, nur als Vertrauensbruch zu sehen oder auch als eine emotionale Notwehrhandlung?
Darin liegt die eigentliche Modernität dieses Balletts, das optisch und akustisch mit wirklich überwältigend schönen, in jeder Hinsicht farbstarken Bildern begeistert.
Heinrich Tröger assistierte Neumeier beim Bühnenbild mit schicken Plexiglas-Stühlen und einer hellen, vermeintlichen Einbauschrankwand, wie sie heute jedes Luxusappartement ziert, im Stück aber als eine Wand mit Türen zum Durchgehen fungiert.
Die Bildregie von Myriam Hoyer entzückt mit ihrem Wechsel der Perspektiven.
Nathan Brock dirigiert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit viel Fingerspitzengefühl und auch Mut zum Pathos. Genau richtig!
Zudem ist es außerordentlich lobenswert, dass im Booklet, also in der gedruckten Beilage der DVD / BluRay, die einzelnen verwendeten Musiken zu den Szenen aufgelistet werden.
Die Video-Aufzeichnung stammt von 2022 aus der Hamburgischen Staatsoper und nicht, wie früher mal vorgesehen, von 2018 aus Baden-Baden.
Die Moral von der Geschicht‘ indes bleibt: Frauen oder Menschen überhaupt, die nichts lieben außer den jeweiligen Partner, sind alsbald verlorene Seelen… Insofern ist Neumeiers „Anna Karenina“ ein bildgewaltiges Plädoyer, in der Gesellschaft, in der man lebt, tätig zu sein.
Also auf zum nächsten Tierschutzverein, zum Kinderhilfswerk oder schlicht zur Nachbarschaftshilfe. Und auch das Ballett-Journal kann Ihr Engagement, liebe Leserinnen und Leser, immer gut gebrauchen. Ahoi!
Gisela Sonnenburg
P.S. Am 07.07.23 wird diese DVD übrigens auch im Kino Metropolis in Hamburg gezeigt, und zwar einmalig um 15 Uhr!