Bumm. Bummbumm. Bummmmmmmmm. Mit einem noch lange nachklingenden Hammerschlag aus den unendlichen Weiten der Synthi-Sphären endet die Ära Watkin beim Semperoper Ballett. Seit 2006 stärkte und polierte, glamourierte und erhob Aaron Sean Watkin das Ballett in Dresden: zu einem Traum aus charmant getanzter zuckersüßer Klassik einerseits und glasklarer, zackig-witziger Avantgarde andererseits. Ein Höhepunkt war seine Version vom „Nussknacker“, mit viel Originalflair von Marius Petipa darin, aber auch mit dramaturgisch schlüssigem Dresdner Lokalkolorit, dank auf der Bühne aufgebauten Striezelmarkt-Buden. Ein anderer Höhepunkt waren die großen Abende mit Stücken von William Forsythe, die das Semperoper Ballett zeitweise wohl besser als jede andere Company auf der Welt tanzte. Das Publikum liebte, was sonst, die Klassik deutlich mehr als die Avantgarde. Aber was wird es erst sagen, wenn mit Kinsun Chan ein Vertreter der zeitgenössischen Moderne als Nachfolger von Watkin kommt, der sehr viel weniger ästhetische Kompetenz und Stilempfinden hat als Forsythe oder Watkin?! Warten wir es ab. Die letzte Premiere unter Watkins Ägide – am kommenden 3. Juni 23 – stimmt jedenfalls in jeder Hinsicht nachdenklich: „White Darkness“ vereint drei Stücke, die jedes für sich erfolgserprobt und doch nicht wirklich zueinander passend sind. Immerhin soll wohl der Glanz der Choreografen-Namen für Zulauf sorgen: William Forsythe, Sharon Eyal und Nacho Duato sind die Tanzschöpfer der Gegenwart, deren Eigenarten oft polarisieren und deren Stärken im neuen Programm regelrecht ausgestellt werden.
Den Beginn macht „the second detail“ („das zweite detail“), das sich im Original zwar genau so, nämlich konsequent klein schreibt, das man aber auch, wie in Dresden, an den Substantiven im Titel mit Versalien schreiben kann.
So oder so: Das Stück stammt von dem damals vor allem in Deutschland wirkenden US-Amerikaner William Forsythe, der es 1991 kreierte – und es wirkt heute so frisch, ästhetisch und humoristisch wie eh und je.
Zur bekannten Forsythe-Sound-Maschine von Thom Willems, die flutschende Töne zu melodieartigen Bögen setzt, wird mit hochakrobatischer Präzision ein doppelbödiges Weltbild entworfen.
In hellen Kostümen wird im fast leeren Raum getanzt, aber vorn an der Rampe steht ein Schild mit dem schönen Wörtchen „THE“. Der, die oder das – wie auch immer man das übersetzt, die Einsamkeit des Artikels ohne folgendes Substantiv bleibt stets offenbar.
Es ist also ein Geheimnis um das letzte Detail, aus dem Titel, das auf dem Schild nicht mal näher bezeichnet wird. Ob es im Laufe des Stücks gelüftet wird?
Paare finden sich, kleine Gruppen probieren das Leben im Clan aus – ein wenig scheinen alle zueinander im Wettbewerb zu stehen, ganz so, wie es im Ballettsaal auch ist. Aber die oft blitzschnellen, hier auch blitzhell ausgeleuchteten Bewegungen sind so virtuos wie modern. Forsythe arbeitet zwar mit der russischen Klassik nach Vaganova, aber er hat sie in seinem Sinne weiter entwickelt. Spring-und-Dreh-Bewegungen, Hebungen, Sprünge, sehr hoch gehaltene Beine – all das beeindruckt und amüsiert, aber man wird den Eindruck nicht los, dass hinter der munter hüpfenden Oberfläche noch etwas lauern muss.
Tatsächlich hat eine Tänzerin ein besonderes Los gezogen. Duosi Zhu verkörpert diese Rolle der wilden Außenseiterin, die eine Art Toga-Kleid in Weiß trägt, und deren ausgelassener Tanz absichtlich unkontrolliert und hemmungslos wirkt.
Am Ende, ja, so ergeht es den weiblichen Erotikbolzen im männlichen Blick, liegt sie aber mausetot am Boden, und triumphierend umtanzen einige Vertreter der Männlichkeit den reglosen Körper. Schluss, Aus, Ende. Das Geheimnis war ein offenes: Die tolle moderne Fitnessgesellschaft bringt Tote, Opfer, hervor.
Der eigentliche Schrecken kommt erst, wenn man darüber nachsinnt, was Forsythe hiermit eigentlich sagen will. Denn offenbar ist das ganze Stück eine Satire auf den schönen Anschein, der letztlich vorn und hinten eben nicht stimmt – und keine heile Welt ist es im Innern, die gezeigt wird, sondern eine monströs herzlose und frauenfeindliche Sphäre.
Eine fast makabre Düsternis, die als knallhelle Lustigkeit getarnt einher kommt und zu alledem noch kreuzfidel funkelt – das ist William Forsythe mit seinem bekannten hintergründigen Sarkasmus. Unbedingt sehenswert!
Vom mittleren Stück mag ich das nicht sagen. „Half Life“ („Halbes Leben“) von Sharon Eyal (unter der Assistenz von Gai Behar) punktet mit überzogener Monotonie. Es ist ratsam, das Denken einzustellen, wenn das Stück beginnt, falls man das nicht ohnehin von selbst macht, unter dem Eindruck der wummernden Techno-Synthi-Musik, die von Ori Lichtik stammt.
Die redundante Wiederholung einer Bewegung, die das Auf-der-Stelle-Laufen zum Credo der arbeitenden Bevölkerung erhebt, lässt keinen Zweifel: Die Choreografin Sharon Eyal bringt zeitgenössische Gymnastik ins Raster der Zappelphilosophie, wie sie auch Marco Goecke und Ohad Naharin vertreten. Das ist manchmal ganz nett, aber wenn die Einfälle zu dürftig sind, stellt sich doch arg Langeweile ein.
Es geht dann eigentlich nur noch ums Austesten, was Körper (und Publikum) so alles aushalten können – und die Darstellungen menschlicher Beziehungen werden auf ein Minimum reduziert.
Allenfalls im Pulk bewegt sich hier was auf der Bühne, und wenn die Truppe im scheinnackten Outfit wie eine klebrige sandgelbe Wolke durch die Dunkelheit pulsiert, kann man schon daran denken, dass so eine Nichtbelebung der Sinne typisch für unsere Gesellschaft ist.
Auf ein solches Bild möchte man allerdings keine halbe Stunde warten müssen.
Und muss man die innere Leblosigkeit von dem Geld hinterher hechelnden Zombies stückfüllend Eins zu Eins auf die Bühne bringen? Muss die Bühne gar ohne Anlass ein Feld der Düsternis sein und bleiben?
Muss man den Minimalismus nochmals minimalisieren?
Es gibt Menschen, die diese Fantasien von Untoten begeistern. Ich rate vor allem zu Ohrstöpseln oder anderem Gehörschutz, denn zumeist ist das Gewummere in diesem Stück derart laut, dass es als Schmerz oder zumindest als Störung empfunden werden kann.
Schmerzhaft ist das Stück auch für die eine oder andere Tänzerin. Die Hauptperson in „Half Life“ muss fast das ganze Stück lang ein und dieselbe Bewegung – eben jenes dem Sport entlehntes Auf-der-Stelle-Gehen – exerzieren. Aua!
Dass hier das „halbe Leben“ gezeigt wird, ist wohl eine Übertreibung. Eher ist es ein Bruchteil des Lebens, den wir hier bis zum bitteren Ende vorgeführt bekommen.
Diese beiden ersten Stücke werden übrigens von jeweils dreizehn TänzerInnen (ja, nicht Tänzer:innen, sondern schön altmodisch feministisch: TänzerInnen) dargeboten.
Das dritte Stück ist das eigentliche Herzstück dieses Programms, dem es auch den Titel gibt: „White Darkness“, die „weiße Dunkelheit“, ersann der spanische Starchoreograf Nacho Duato 2001 unter dem Eindruck des traurigen Drogentodes einer seiner Schwestern.
Weißes Pulver in rauen Mengen symbolisiert die Droge hier, die elektrisierend und forcierend wirkt, sodass man unwillkürlich an Kokain denkt. Vom Choreografen wird sie allerdings nicht näher benannt. Aber sie ist das dunkle Geheimnis, um das es hier geht.
Die weibliche Hauptperson ist dem Zeug jedenfalls verfallen, und das belastet auch ihre Beziehung zu ihrem Mann. Beide ringen und kämpfen um die Freiheit des Mädchens von der Sucht – umsonst. Auch vier weitere Paare scheinen affiziert, unentschieden, anfällig für den Drogenkonsum zu sein. Die Gesellschaft bietet nun mal wenig Halt, wenn Menschen in diese Richtung auf dem Absturzflug sind.
Drogen sind immer ein Abschied vom eigenen Verstand. Dieser Benebelungseffekt mag ja erwünscht sein, nicht nur von den Konsumenten, sondern auch von jenen, die sie dann solchermaßen einfach manipulieren und beherrschen können. Aber im Grunde fängt die Farce vom Selbstverlust mit dem Bier im Supermarkt schon an: Es wird in Deutschland teilweise billiger als Mineralwasser verkauft. So kommt die Jugend gleich auf den falschen Geschmack.
Solange aber in jedem Spielfilm stets und ständig zum Glas Wein, zum Whiskey, zum Sekt, zum Schnaps gegriffen wird, muss man sich nicht wundern, wenn einige Menschen eine Steigerung dessen suchen. Die eigentlichen Einstiegsdrogen sind Alkohol, Nikotin – und Zucker. Ja, Zucker. Aber das ist ein anderes weites Feld, und wenn TänzerInnen ein Problem eher nicht haben, dann ist es eine zu kalorienhaltige Ernährung. Trotzdem lohnt es sich, auch über die Zusammenhänge von Sucht und Nahrungsmittelindustrie mal nachzudenken.
Wenn es am Ende von „White Darkness“ einen goldfarben angeleuchteten, weißen Pulverregen gibt, dann ist allerdings kein Puderzucker gemeint. Sondern jene Droge, die Nacho Duatos Schwester ins Grab brachte. In der Tanzszene duscht sie im Illusionsregen, knickt ein, bleibt sitzen, erstarrt.
Die schluchzende Violine von Komponist Karl Jenkins geleitet sicher und gefühlvoll durch dieses Stück, und trotz des tragisch inspirierten Themas bleibt die Choreografie stets geschmackvoll und streckenweise sogar bildschön.
Nacho Duato hat ja eine ausgeprägte eigene Handschrift, die nicht so spritzig wie die William Forsythe ist, aber sehr elegante Linien in äußerst originellen Formationen hervorbringt. Duatos Sinn für Proportion und Harmonie verleiht seinen modernen, eigenwilligen Bewegungen Anmut und Würde.
Absolut sehenswert. Und falls Ihnen das Gewummere im Mittelteil nicht zusagt: Gehen Sie halt eine halbe Stunde spazieren und freuen Sie sich auf das edle Finale.
Aaron S. Watkin wünschen wir derweil alles Gute auf seinem Weg nach London, wo er das hoch renommierte English National Ballet übernehmen wird. Auf ein Wiedersehen! Bummbumm!
Gisela Sonnenburg