Das Leben – ein Traum und Alptraum „Der fliegende Holländer“ von Richard Wagner, an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin inzeniert von Philipp Stölzl: emanzipierend!

Senta liest bei Philipp Stölzl in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin: vom „Fliegenden Holländer“, der von seiner eigenen Unsterblichkeit die Nase voll hat. Hinter Senta illustriert das lebende Gemälde die Welt der Seeleute. Foto: Jakob Tillmann

Es ist ein Bild wie für einen Hollywood-Film: Die junge, blonde, verträumte Senta geistert nachts durch ihren eigenen Traum. Regisseur Philipp Stölzl lässt die Heldin aus Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ in seiner Inszenierung für Basel, die dankenswerterweise  auch an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin zu sehen ist, mit dem Kerzenleuchter in der Hand in die dunkle Bibliothek eindringen. Dort erklimmt sie eine Leiter und angelt sich einen Schmöker aus dem Regal. Im Chesterfield-Sessel lümmelt sie dann lasziv damit herum, wie Teenager das so tun, wenn sie anregende Lektüre haben. Die Ouvertüre ist somit flugs mehr als ein Vorspiel: Als Teil der Handlung stellt sich Senta – zunächst verkörpert von einer stummen Komparsin – als andere Tatjana (aus Puschkins „Onegin“) vor. Später erklimmt sie das Innere eines Gemäldes, stürmt solchermaßen in eine andere Welt. Sie ist ein intelligibles Mädel, klug, umtriebig, aber eben stets auf der Suche nach einer Fluchtwelt aus ihrem tristen Alltag. Denn als Angehörige des weiblichen Geschlechts und als einzige Tochter des norwegischen Kaufmanns Daland ist Senta im 19. Jahrhundert in ihrer Realität nahezu handlungsunfähig: Der Vater wartet nur darauf, sie an einen meistbietenden Freier zu verschachern.

Das Konzept von Stölzl für die viel gespielte Oper ist schlüssig, und mit Jens Schroth stellte ein hervorragender Meister des Bildungsguts das entsprechend lobenswerte Programmheft zusammen. So kann man Wagner verstehen und lieben, mit ihm die Zusammenhänge und Hintergründe des Stücks.

Das Lesen hat auch auf der Bühne einen hohen Stellenwert:

Die im Buch aus der Bibliothek vorgestellte Ballade von einem holländischen Seefahrer, der tatsächlich zur Unsterblichkeit verdammt ist, gibt Senta geistige Nahrung. Nur alle sieben Jahre darf dieser raue Mann die See verlassen und an Land kommen. Sollte er dann eine Frau finden, die ihm „treu bis in den Tod“ ist, wird er erlöst und darf endlich auch ins Grab steigen. Das ist sein Begehr seit Jahrhunderten, während derer er rastlos die Meere überqueren muss.

Bei Stölzl hängt zum Zeichen der Seenähe ein riesiges Gemälde in der Bibliothek, das die wilde, ungezähmte See bei Nacht zeigt. Sie ist des Holländers Element.

Gefunden hat Richard Wagner sein feuchtes Schauermärchen übrigens bei Heinrich Heine (in den „Memoiren des Herrn von Schnabelewopski“) – und obwohl Wagner sein Leben lang ein nahezu geisteskrankes antisemitisches Weltbild pflegte, hat es ihn überhaupt nicht gestört, dass Heine Jude war. Die Fabel faszinierte ihn, ein Genie inspirierte das nächste, und als die romantische Oper 1843 uraufgeführt wurde, waren Geister und mysteriöse nächtliche Vorgänge passenderweise en vogue.

"Giselle" in Berlin mit Ksenia Ovsyanick und David Motta Soares

„Giselle“ im zweiten Akt, zeitlos schön und erhebend: die elegantesten Furien der Theatergeschichte. Foto vom Staatsballett Berlin: Yan Revazov

Nur zwei Jahre zuvor war das Ballett „Giselle“ aufgeführt worden: Auch hierin leidet die junge Heldin unter ihrer machtlosen Position als Frau, der keinerlei Handlungsspielraum gewährt wird. In „Giselle“ rächen sich die Mädchen, die zu Lebzeiten verführt und sitzen gelassen wurden, aber: indem sie als Untote nächtens tödliche Jagd auf Männer machen. Die müssen sich dann zu Tode tanzen.

Solchen Tanz, solche ätherischen Jagdszenen, gibt es bei Wagner nicht. Aber das Drama der unbefriedigten Heldin, die sich zu Höherem berufen fühlt, ist offenbar: Senta will die bis in den Tod liebende Braut des fliegenden Holländers werden. Dieser hat mit dem Seefahrer Bernard Fokke im übrigen auch ein historisches Vorbild hat, auf das Heine und Wagner sich berufen könnten, das hier aber keine Rolle spielt. Es zählt: die Erlebniswelt der jungen Senta.

Von Beginn an ist ihr Streben nach Erhöhung allerdings von Todessehnsucht mit geprägt. Mag die Formulierung „treu bis in den Tod“, original von Wagner so verfasst, auch doppeldeutig sein: Hier bedeutet sie, dass die Heldin sterben muss, um ihre moralische Überlegenheit zu beweisen. Es ist nicht der Tod nach 60 Jahren guter Ehe gemeint.

"Der fliegende Holländer" an der Staatsoper Unter den Linden

Der schöne, wilde, leidende Mann tritt aus der Welt der Illusionen in ihre Bibliothek: Senta und der Titelheld in „Der fliegende Holländer“ in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Foto: Jakob Tillmann

Als das Gemälde in der Bibliothek sich wie ein Vorhang hebt, sehen wir zunächst in die Welt der Seefahrer und Händler: Der unwirtliche Landeplatz empfängt erst Daland, dann den Holländer. Letzterer, kalkweiß geschminkt zum schwarzen Barock-Outfit, hat durchaus gruselschöne optische Qualitäten. Für Gerald Finley ist es zudem eine Art Paraderolle, den Mann aus vergangenen Zeiten mit starker Stimme und Bühnenpräsenz lebendig zu machen.

Qual und Hoffnung mischen sich bei ihm – und das entspricht auch der musikalischen Intention des Dirigenten Matthias Pintscher, der die wogenden, teilweise auch walzernden Klangmassen im „Holländer“ so dramatisch-laut exponiert, wie man es selten hört.

Man scheint zwischen einem donnernden Mittelalter und einem lüsternen Aufbruch in die Moderne zu pendeln. Mal ertönen pompös und besitzergreifend die Trompeten, dann wieder erklingen operettenhafte Dreivierteltakte.

Auch Daland, von Jan Martiník richtigerweise stoisch-patriarchal interpretiert, schwebt im Grunde zwischen den Zeiten. Er hat noch nicht verstanden, dass nicht alle Frauen gern Untertanen des Mannes sind. Seine Tochter muss ihm gar wie ein exotisches, störrisches  Wesen vorkommen, nicht wie ein braves Kind. Doch genau dazu erklärt er sie in seinen Anpreisungen, als der heimatlose Holländer ihm all seine Schätze verspricht, wenn er ihn als Schwiegersohn in die Familie aufnimmt.

Der Deal der Männer steht, Senta soll sich beugen: Sie hat zwar ein Techtelmechtel mit dem jungen hübschen Erik, der die Verlobung mit ihr auch keineswegs anzweifelt. Aber als Quasi-Besitz des Vaters wird den beiden jetzt der neue Freier aufgezwungen. Senta ahnt zunächst nicht, dass es sich dabei um ihren Traum-Mann aus der Ballade vom fliegenden Holländer handelt. Sie will sich verweigern.

Stölzl lässt denn auch in der Bibliothek, die zugleich das Wohnzimmer darstellt, sowohl Vater Daland als auch den Holländer selbst als gelangweilte, uninteressante Dandys mit Schnauzbart und Melone erscheinen.

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Es ist ja ein bisserl kompliziert: Senta und der Holländer sind in dieser Inszenierung beide durchgehend szenisch verdoppelt. Die junge, stumme Komparsin spielt mal Senta selbst, mal ihre Vision von sich. Und der Dandy-Holländer ist und bleibt ein tumber Tolpatsch, der als Abziehbild vom Bräutigam funktioniert und ansonsten gar nicht. Der „echte“ Holländer hingegen, also der aus Sentas Traum, singt und kämpft um sein Recht auf Leben und Sterben wie ein Berserker.

Nicht nur als hübsche Komparsin, sondern auch als Sängerin fliegen Senta, von Vida Mikneviciute mit viel Gefühl und glasklarem Sopran interpretiert, alle Herzen zu. Es ist ihr Drama, das wir hier sehen, und der fliegende Holländer ist nichts als eine Ausgeburt ihrer Fantasie.

Philipp Stölzl wandelt damit auf den Spuren des Regiegottes Harry Kupfer: 1978 hatte dieser in Bayreuth den „Holländer“ als Sentas Psychodrama inszeniert.

Bei Stölzl kommt jetzt der Bruch der beiden Welten dazu: Die reale Bibliothek, das Wohn-Zimmer der sich emanzipierenden Senta und zugleich ihr Gefängnis als patriarchales Gefilde, kollidiert mit der naturhaften Traumwelt. Daraus entspring die Chance zu metaphysischem Aufstieg. Jedenfalls in den Augen Sentas.

Ob ihre Liebe zum Holländer, von den Hausmädchen in einem köstlichen Chorgesang liebevoll-grotesk bis gruselig-diskriminierend verspottet, nun erhebend oder purer Wahn ist, sei dahingestellt. Senta hat wohl keine andere Wahl – und über sie zu urteilen, bleibt das Privileg des Zuschauers bzw. vor allem der Zuschauerin.

"Der fliegende Holländer" an der Staatsoper Unter den Linden

Glück gibt es nur in der Fantasie: Senta, die unglückselige Braut, und ihre Phantasmen – in Wagners „Der fliegende Holländer“ in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Jakob Tillmann

Erik, der Jäger, bedeutet ihr jedenfalls auch viel, und wenn sie sich endgültig von ihm losreißt und sogar den Tod wählt, dann ist klar, warum: Weil sie auch nach einer Eheschließung mit dem Holländer von den erotischen Reizen des jungen Erik angezogen wäre. Er würde ihre Mission bedrohen, er würde sie zur Untreue verleiten.

Wagner ist hier der Erste in der abendländischen Kultur, der das Thema der untreuen Ehefrau so deutlich anspricht. Der nächste große Kreative, der das macht, ist Leo Tolstoi mit seinem Roman „Anna Karenina“ (siehe auch Rezension der Ballett-DVD von John Neumeier).

Im strikten Patriarchat hat die verheiratete Frau ja an sich keine andere Chance, als offiziell treu zu sein. Auch offenkundige Kuckuckskinder wurden als ehelich akzeptiert, solange der Akt der weiblichen Untreue nur verschwiegen werden konnte.

Anna Karenina von John Neumeier ist in jeder Besetzung ein Renner

Xue Lin und Jacopo Bellussi im berühmten „Stuhl-Pas-de-deux“ mit Feuerzeug im Ballett „Anna Karenina“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Aber allein die Tatsache, dass die Treue bis in den Tod in dieser Oper so stark betont wird, legt nahe, dass auch Frauen untreu sind und dass dieses nicht länger ignoriert werden kann. Denn an sich sollte die christliche Ehe ja sowieso und unbedingt eine Treue bis zum Tod eines der beiden Ehepartner beinhalten.

Warum also hinterfragt Wagner in seinem Libretto (er schrieb sich immer alles selbst: Text und Musik) die Treue der Frau?

Weil er selbst in jungen Jahren von seiner ersten Ehefrau, einer Schauspielerin namens Minna, schmählich hintergangen wurde. Er hatte den Verdacht, dass sie ihn betrügt – und dann kam er eines Tages von der Theaterprobe und musste feststellen, dass sie ihn verlassen hatte. Sie war mit einem anderen Mann, einem Kaufmann, durchgebrannt. Ein halbes Jahr später kehrte sie zu Wagner zurück. Aber für Wagner blieb der tückische Verlust der Geliebten traumatisch.

Sein Weltbild, vor allem auch sein Frauenbild, wurde ganz sicher von diesem Vorkommnis geprägt. Und die jungen Männer, wie sieht Wagner sie?

Erik, der Verlobte von Senta im „Fliegenden Holländer“, hat für sie mehrfach den Tod riskiert, als er, auf ihr Drängen hin, Edelweißblüten für sie pflückte. Tatsächlich wäre er die realistische Option für Senta im Stück: Die Verbindung mit Erik wäre diejenige, die zum Glück auf Erden führen könnte, allerdings ohne himmlischen Ruhm und Erlösungsaufgabe. Dabei ist Erik kein Dummkopf. Und auch er ist sensibel: Er hat einen Traum, in dem Senta einen fremden Mann – den Holländer – empfängt und küsst, woraufhin sie in seinen Armen stirbt.

Der Sänger des Erik in der Besetzung mit Stanislas de Barbeyrac triumphiert. Er ist der wirkliche Herzensheld hier. Seine Klagelieder, sein Liebeskummer, sein Verlangen, seine Verliebtheit, seine Eifersucht – mit helltönendem, vollem Gesang vermag de Barbeyrac diese Partie zu erfüllen. Wächst hier nicht der nächste Siegfried, Lohengrin, Parsival heran? Ihm zu lauschen, ist einfach ein großartiges Unterfangen.

Aber auch der Sänger der deutlich kleineren Steuermann-Partie ist eine Hoffnung wert: Magnus Dietrich hat einen beinahe knabenhellen Tenor, an das Timbre von Falsett-Sängern erinnernd. Durchaus auch vielversprechend.

Im Bühnenbild, das Stölzl zusammen mit Conrad Moritz Reinhardt schuf, bewegen sich auch mit diesen beiden Tenören die verschiedenen Welten aufeinander zu und voneinander weg: der irdisch-zivilisierte Lebensraum der Bibliothek und das himmlisch-naturhafte Meer.

Senta zieht es gedanklich aufs Meer, weit hinaus. Wenn der Holländer singt, rührt er ihr Herz – und dafür gibt sie ihr Recht auf Leben hin. Sie schenkt ihm alles, damit er ihr alles nehmen kann. An sich ist es natürlich ein fürchterlicher Deal: einen Mann zu lieben und zu ehelichen, damit er stirbt. Ein wahrer Alptraum.

Und sei der betreffende Kerl noch so ein Traummann. Wenn der Tod vorprogrammiert ist, verliert der Schöne normalerweise doch sehr an Reiz.

Für den Holländer ist der Tod hingegen eine Utopie. Als weiteres Bild-im-Bild öffnet sich auf der Bühne im lebenden Gemälde nochmals ein Blick: auf ein Sci-Fi-Nirwana, auf das ewige schwarze Nichts, mit ein wenig Weltraummüll und Sternenglanz darin.

Die Wagner’sche Euthanasie hat jedoch nicht nur einen hohen Preis (den des Suizids der Helferin Senta), sondern auch die Weihe legendären Handelns. Der Holländer darin ist halt nicht ein Jedermann. Sondern er ist das Sinnbild, die Verkörperung, die Allegorie für die leidende Seele schlechthin.

Als solchen akzeptiert Senta ihn, somit ihr Schicksal der Zwangsverheiratung. Sie sieht davon ab, dass der tumbe Bräutigam im Dandy-Outfit keineswegs der ergreifend sie besingende Mann ihrer Träume ist. Sie opfert sich gleich in zweierlei Hinsicht: sowohl dem väterlichen Diktat zur Ehe – als auch, ihrer eigenen Fantasie gemäß, dem Erlösungsgesuch eines überaus faszinierenden Mannes.

"Der fliegende Holländer" an der Staatsoper Unter den Linden

Senta droht das Mieder unter den treublauen Rüschen: Szenenfoto aus der Staatsoper Unter den Linden aus „Der fliegende Holländer“ von Richard Wagner, Inszenierung: Philipp Stölzl. Foto: Jakob Tillmann

Die Kostüme von Ursula Kudrna erlauben nun alle berüschten romantischen Träume und Alpträume, aber eben auch die Kritik am 19. Jahrhundert: Schönheit trifft auf Zwang. Das Mieder, das Senta aufgezwungen wird, die einheitlich schwarz-weiße Tracht der Hausmädchen, die Frackuniformen der männlichen Hochzeitsgäste – all das zeigt doch, wie beschränkt eine patriarchale Gesellschaft sich kleidet.

Illustrer dagegen die verblichenen Ehefrauen des Holländers, der sie alle überlebte. Ihre leider auch stummen Geister – denn sie sind ewig Verdammte, weil sie nicht treu blieben – sind mit Kostümen vom Mittelalter an bestückt. Wagner erlaubte sich da schon einen impliziten Tabubruch: Demnach sind Ehefrauen generell sexuell untreu.

Wenn Senta sich killt, um treu zu sein – dann ist das szenisch wie musikalisch so anrührend dramatisch, dass man mit ihr fühlt. Aber es ist natürlich auch männliches Wunschdenken, das dahinter steht. Richard Wagner wollte mit diesem Libretto seine Angst heilen, die geliebten Frauen würden ihn immerzu nur betrügen wollen.

Mit Cosima Wagner fand er später eine Dame, die genau wusste, was sie wollte – und die ihren Richard darum niemals so stark gekränkt hätte, dass er einen zweiten „Holländer“ hätte komponieren müssen. Für den „Ring“ brauchte Wagner eine Partnerin, die es ihm erlaubte, aus der allwissenden Perspektive des scheinbar Omnipotenten selbst auf die Götter ohne Neid herabzusehen. Das kann man dann auch verifizieren.

Zuvor aber unbedingt nochmal den „Holländer“ anschauen!
Gisela Sonnenburg

https://www.staatsoper-berlin.de/de/

 

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