Das Opfer trägt Rot statt Kot Das Programm „Strawinsky“ vereint beim Staatsballett Berlin den wohl schlechtesten „Petruschka“ aller Zeiten – von Marco Goecke – und das brillant getanzte „Frühlingsopfer“ von Pina Bausch

"Strawinsky" kupfert das Staatsballett Berlin beim Ballett Dortmund den Programmtitel ab

Männer, aggressiv und lüstern, und ein weibliches Opfer – so zu sehen in „Das Frühlingsopfer“ von Pina Bausch beim Staatsballett Berlin. Große Kunst! Foto: Yan Revazov

Standing ovations, leuchtende Augen, begeisterter Jubel in der Berliner Staatsoper Unter den Linden! Die gute Nachricht zuerst: Pina Bausch lebt, zumindest in ihren Werken, wenn diese mit dem richtigen Drive aufgeführt werden. Ein berühmtes Frühwerk der 2009 verstorbenen Tanztheater-Ikone, nämlich das „Frühlingsopfer“ von 1975, ist jetzt der Knüller beim Staatsballett Berlin (SBB), welches das zeitlos-moderne, dennoch erkennbar ballettöse Stück gestern bei der Premiere als zweiten Teil seines neuen Programms „Strawinsky“ präsentiert. Der geniale russische Komponist Igor Strawinsky schuf mehr als 120 Kompositionen, und viele davon wurden bisher vertanzt. Andere warten noch darauf, tänzerisch zu neuem Leben erweckt zu werden. Die scheidende kommissarische Intendantin vom SBB, Christiane Theobald, fasste nun zwei Stücke unter seinem Nachnamen zusammen, die bereits 2021 unter dem Titel „Strawinsky!“ – mit Ausrufezeichen – bei Xin Peng Wang und seinem Ballett Dortmund gezeigt wurden. Es sind zwar verschiedene choreografische Versionen in Berlin und Dortmund – aber ebenfalls wieder „Petruschka“ und „Le sacre du printemps“ zu koppeln, wo es doch rund 120 weitere Werke von Strawinsky gibt, war  vielleicht doch etwas einfallslos von den Berlinern. Und obwohl Wang mutmaßlich Pate stand bei Theobalds Konzeption, erwähnt sie ihn in ihrem langatmigen Text im Programmheft nicht mal. Das wirkt irgendwie unfair – und sogar ungebildet, denn sie müsste ja wissen, dass Wang diesen sehr erfolgreichen Abend mit der Uraufführung seiner Version von „Petruschka“ sowie mit dem spektakulär mit Wasser hantierenden „Sacre“ von Edward Clug schon gezeigt hat. Dortmund ist übrigens gerade mal dreieinhalb Zugstunden von Berlin entfernt, und eine Ballettreise dorthin wird absolut empfohlen, auch zur Ballettgala in einer Woche.

"Strawinsky!" beim Ballet Dortmund

Das ist ein zeitgemäßer, moderner Clown und Außenseiter: Javier Cacheiro Alemán als „Petruschka“ in der Version von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund. Foto: Leszek Januszewski

Aber erstmal reisten in der jüngeren Vergangenheit etliche Koryphäen an, und zwar in Berlin. Sieben hochkarätig bezahlte Coachs kamen in die Hauptstadt, um das „Frühlingsopfer“ einzustudieren, und man könnte schon sagen, dass das vielleicht etwas viel Personalaufwand für 35 Minuten nicht gerade neuen Bühnentanzes war. Zumal Tänzer die Bewegungsabfolgen heutzutage meistens vom Video lernen. Für das gute Geld, das man den glorreichen Sieben zahlte, wurde nicht mal eine komplette zweite Besetzung präpariert: Ein Ensembletänzer (George Susman, gute Besserung!) fiel wegen einer Verletzung schon vor der Premiere aus und konnte dann nicht ersetzt werden. Offenbar fand das aber niemand wirklich schlimm. Was doch eine Diskrepanz zum hohen Aufwand des Einstudierens darstellt, wo zwei bis drei Assistenten normalerweise für so ein Stück völlig ausreichen. Aber offenkundig funktioniert die Choreo auch mit weniger Tänzern.

So sah man bei der Premiere zwei Frauen hintereinander beim großen Tanz im Kreis, wo doch eigentlich Mann und Frau sich hier stets abwechseln sollen.

Nun ja. Wenn ein Stück für 15 Frauen und 13 Männer konzipiert ist, aber plötzlich mit nur 12 Männern auch geht, hat man den leisen Verdacht, dass die sieben Coachs nicht wirklich notwendig waren, sondern einfach nur durchgefüttert werden sollten, etwa weil die Pina Bausch Foundation, die Bauschs Werke verwaltet, das so wollte.

"Strawinsky" kupfert das Staatsballett Berlin beim Ballett Dortmund den Programmtitel ab

Frauen tanzen im Pulk ihre Leidenschaft, geil und doch zart: „Das Frühlingsopfer“ von Pina Bausch beim Staatsballett Berlin mit „Strawinsky“. Foto: Yan Revazov

Die kostenträchtige Mühe lohnte sich allerdings in diesem Fall, denn in Berlin hat geklappt, was vor Jahren beim Bayerischen Staatsballett eher fehlging: Balletttänzerinnen und Balletttänzer verständigen sich in der Tanzsprache von Pina Bausch mit größter Selbstverständlichkeit, ganz so, als hätten sie nie etwas anderes getan. Und man weiß: Dahinter steckt viel Arbeit, sehr viel.

Fetzig und flippig, knallhart und doch manchmal butterweich: So soll dieser „Sacre du printemps“ getanzt sein, und gerade den männlichen Tänzern hier wird viel Neues im Tanzstil abverlangt. Aggressiv und lüstern jagen sie die Frauen, und zum Beispiel Arshak Ghalumyan, dessen letzte Premiere es beim SBB ist (bye-bye!), drehte noch nie so kantig-kämpferisch auf wie hier.

Die berühmte ausholende Passé-Bewegung in diesem Stück – mit einem in Rundung erhobenen Arm –   hat Pina Bausch übrigens einem ebenfalls berühmten Posenfoto von Rudolf Nurejew entnommen, der damit in den „Songs of a Wayfarer“ von Kenneth MacMillan (1965 entstanden) auftrat.

Die männliche Partie im „Frühlingsopfer“, die in Berlin von Ghalumyan getanzt wird, macht diese Bewegung als erstes im Stück, bis sie später vom Damen-Corps übernommen wird. So reflektierte Pina auch die jüngere Ballettgeschichte, flocht sie für Kenner in ihr Stück ein.

Die jungen Damen, im hellen, schlichten Gewand Marke Nachthemd, setzen den Männern barfuß auf dem Erdreich aber auch viel weiteres entgegen: Lyrisches ebenso wie Hardcore-Moderne, die manchmal wie ein Fruchtbarkeitsritual wirkt. Und wenn sie den Männern auf die Schulter springen, um dort oben wie in einem Sattel reglos sitzen zu bleiben, wirken sie akrobatisch perfekt und vom Ausdruck her phänomenal aus der Haut gefahren: grotesk, geil, komisch und doch rührend zugleich.

Vor allem aber triumphiert Clotilde Tran als Opfer in Rot: mit dem gefühlt halbstündigen finalen Monstersolo zuckt sie von Ekstase zu Ekstase – bis zum Umfallen. Dass einer ihrer Kleiderträger riss, passte vorzüglich zur Rolle. Ihre emotionale Wandlung, die vom gegen ihren Willen ausgesuchten Opferstatus über die allein Gelassene, die sich tänzerisch aufs Sterben einrichten soll, bis zur unersättlichen Tanzgierigen reicht, die den Erschöpfungstod evoziert, erfüllt dieses brutal-sinnliche Stück vollends. Und all das wird mit perfekten Linien bei den Kontraktionen des Oberkörpers, bei den wippenden Hockbewegungen und bei den anstrengenden Armhaltungen serviert. Wow. Wirklich wow!

"Strawinsky" kupfert das Staatsballett Berlin beim Ballett Dortmund den Programmtitel ab

Clotilde Tran als „Frühlingsopfer“ von Pina Bausch beim Staatsballett Berlin im Programm „Strawinsky“ ohne Ausrufezeichen: fulminant. Foto: Yan Revazov

Unterstützt wird der tödlich endende Tanzrausch von der den ganzen Abend über exzellenten Staatskapelle Berlin unter Giuseppe Mentuccia. Der Dirigent arbeitet die Kontraste in der Partitur vorzüglich heraus, ohne auf emotionale Steigerung zu verzichten. Als luxuriösen Zusatz hat er im ersten Teil, in „Petruschka“, ebenfalls von Igor Strawinsky, jene Passagen betont, die Anklänge an den „Sacre“ liefern. Damit trug Mentuccia zu einem fabelhaften Hörerlebnis bei, mit Genuss der Extraklasse.

In der Pause vor dem „Frühlingsopfer“ lohnt es sich übrigens, die Bühne zu beobachten: Der Torf, der diese Version von Strawinskys „Sacre“ so besonders macht und der ein Einfall von Bauschs Bühnenbildner und Lebensgefährten Rolf Borzik war, wird dann aus großen Containern auf die Bühne geschüttet und verteilt. Ein kleines Schauspiel für sich.

Im Grunde kann man sowieso empfehlen, erst zu dieser Pause in die Staatsoper Unter den Linden zu kommen. Also eine gute Dreiviertel Stunde oder auch (ohne noch die Pause mitzunehmen) mehr als eine volle Stunde nach Beginn.

Denn das erste Stück des Abends fällt flach gegen Bauschs Meisterwerk ab, wirkt wie eine unendlich langweilige Wiederholung von mehrfach schon Gesehenem, das auch beim ersten Sehen nicht nur eine Freude war.

"Strawinsky" kupfert das Staatsballett Berlin beim Ballett Dortmund den Programmtitel ab

Mehr Kitsch als Kunst: „Petruschka“, mit großem Einsatz getanzt von Alexandre Cagnat, choreografiert von Marco „Kotschmierer“ Goecke und zu sehen beim Staatsballett Berlin, in und mit „Strawinsky“. Ohne Ausrufezeichen. Denn das wäre dann schon plagiiert. Foto: Yan Revazov

Die Rede ist von Marco Goecke und seinem „Petruschka“, dem vielleicht schlechtesten „Petruschka“ der ganzen Welt. 2016 fürs Opernhaus Zürich geschaffen, bringt das Stück nichts wesentlich Neues, und wenn man früher schon mal etwas von Goecke sah, langweilt man sich extrem. Es ist ja kaum zu fassen, wie jemand, der so wenige Einfälle hat, überhaupt eine große Karriere als schöpferischer Künstler hat machen können. Aber in einem Milieu, in dem Protektion viel, wenn nicht alles ist, hat Goecke sich eben gut verkaufen können.

Wer schon immer etwas Faschistoides in seinem Bewegungskanon sah, der vor allem aus zerhackten Ballettübungen sowie aus minimalistischem Hand- und Armgezappel besteht, liegt wohl nicht völlig falsch, was Goeckes Charakter angeht. Jedenfalls passte es vorzüglich dazu, dass er vor wenigen Monaten die Kritikerin Wiebke Hüster im Foyer der Oper in Hannover abpasste und ihr den gesammelten Kot seines Dackels ins Gesicht schmierte.

Vielleicht war es ein Fehler oder jedenfalls nicht ausreichend, dass Hüster sofort zur Polizei düste und Anzeige erstattete, statt erstmal einen guten Anwalt zu konsultieren. Zivilrechtlich hätte sie reichlich Schadensersatz fordern können, den sie als Gattin eines zeitweisen FAZ-Herausgebers zwar nicht nötig hat, der aber eine Wirkung wie eine Strafe gehabt hätte. Wahrscheinlich kann sie das auch heute noch starten, sie sollte sich erkundigen.

Was aus dem strafrechtlichen Verfahren in Hannover (Niedersachsen) nun wird, war bislang nicht in Erfahrung zu bringen. Es ist zu befürchten, dass Staatsanwaltschaft und Staatskünstler sich supergut verstehen und die Sache eingestellt wird oder als leichtes Vergehen statt als Straftat eingeordnet wird. Wir leben ja in einem Zeitalter der Willkür, in der die Hautevolee sich immer mehr an Korruption und Rechtsverstößen herausnehmen will.

Manch ein Politiker würde es vielleicht auch klasse finden, wenn er kritischen Journalisten mal eben eine kackverschmierte Hand reichen darf – oder damit sogar ins Gesicht fassen kann, ohne bestraft zu werden.

Das Ganze erinnert schon an unangenehme Staatssysteme, in denen die Lieblinge der Obrigkeit sich fast alles rausnehmen dürfen.

Gisela Sonnenburg im Ballett-Journal

Diese Frau bitte beschützen, wenn Marco Goecke in der Nähe ist: Gisela Sonnenburg, Gründerin und Leiterin von Ihrem Ballett-Journal – und eine der vielleicht letzten aufrechten Ballettkritiker(innen) des Landes. Foto: Selfie

Nicht mal eine Unterlassungserklärung musste Goecke bislang abgeben, denn diese ist nur zivilrechtlich, nicht aber strafrechtlich in Deutschland üblich. Ob ihn außerdem derzeit die Hundekotbeutelindustrie noch sponsert, ist unbekannt.

So richtig bestraft ist Goecke bis heute jedenfalls nicht. Er musste nur seinen ihn vielleicht sowieso schon nervenden Chefjob in Hannover (das liegt in Niedersachsen) aufgeben. Und Goecke  darf sich derzeit bei Premieren seiner Werke in Deutschland nicht mit den anderen Künstlern auf der Bühne verbeugen – vielleicht ist das schon eine Art Höchststrafe für den eitlen Goeckegockel.

Denn gekränkte Eitelkeit war ja wohl der Grund für seine Hasstat.

Der Staat sorgt nun anscheinend dafür, dass diese vergessen wird, und das gleich in zweierlei Hinsicht: Erstens wird das Verfahren gegen Goecke (in Hannover in Niedersachsen) verschleppt, zweitens kaufen deutsche Staatsballette (auch in Bayern) weiterhin fröhlich und vertragsgemäß bei Goecke ein.

Kann sich der deutsche Staat das eigentlich leisten? Einen Künstler weiterhin hochzujubeln, der nicht in der Lage ist, mit rechtlich einwandfreier schriftlicher Kritik zu leben? Ein Mann, der dann zur Scheiße greift, ist der hier Vorbild?

Mahlzeit.

Hätte dieser Staat Anstand, hätte er Goecke erstens behandelt wie jeden anderen, der nachweislich und sogar öffentlich eine superperverse Gewalt gegen eine Frau ausgeübt hat. Da wäre rechtlich schon was passiert in vier Monaten. Zum Beispiel hätte ein Strafbefehl erlassen werden können. Bei anderen Herren mit weniger prominentem Namen geht das recht schnell.

Zweitens hätte dieser Staat davon Abstand nehmen müssen, Stücke von diesem Künstler noch weiterhin premieren zu lassen. Man hätte vielmehr – ob per Richterspruch oder als Empfehlung von der Ballettdirektoren-Konferenz – Anti-Aggressionstraining und Umschulung anberaumt. Ein Fußballspieler oder Handballtrainer etwa wären für zwei Jahre gesperrt worden.

Goecke, der dank Steuergeldern sowieso schon Millionär ist, hätte dann vielleicht im Ausland sein Glück versuchen können. In der Ukraine etwa steht man traditionell auf spontane Gewalttätigkeit im Parlament, wie wir uns erinnern. Da hätte er doch besser hin gepasst als in ein mitteleuropäisches Opernhaus.

Marco Goecke macht Karriere

Marco Goecke – immer gern von Fernsehkameras genommen. Ab 2019/20 war er Ballettdirektor in Hannover. Dann nicht mehr. Ob Manon Lichtveld das geahnt hat, als sie ihren Film „Thin Skin“ über ihn drehte? Videostill: Gisela Sonnenburg / ARD Mediathek

Aber wir befinden uns ja in Scholzland im Jahr 2023, und darum darf Herr Goecke seine stupiden Unterhaltungsversuche weiter für teuer Geld aufführen lassen. Und uns damit zum Gähnen bringen. Oder muss man mehr befürchten?

Sein „Petruschka“ trägt jedenfalls eine Halskrause zum nackten Oberkörper (eine abgegriffene, nachgerade provinzielle Ästhetik) und darf auch mal stimmlich laut werden, um wie ein Tablettensüchtiger im nachgemachten Kinderton zu quietschen: „Ich glaube, es geht mir ganz gut heute.“ Ist das nicht der deutsche Satz des Jahrhunderts? Ach was, des Jahrtausends? Jede Wette, dass Goecke aufgrund seiner guten Beziehungen nur für diesen Quarksatz nochmal einen Literaturpreis erhält.

Kitsch und Hysterie sind ansonsten seine Domänen. Und natürlich die Wiederholung genau dessen, was alle von ihm schon kennen, unter neuem Etikett. Damit auch niemand nur eine Sekunde vergisst, dass er einen Goecke sieht.

Zu manchen Themen passt sein reduzierter Roboter-Stil tatsächlich, da hat sich manchmal was in seinen Stücken zur düsteren Bühnenrealität mit etwas angestrahltem Nebel entwickelt. Aber das ist schon einige Jahre und viele Premieren her – mittlerweile kann man schon annehmen, dass Goeckes durchgeknalltes Verhalten etwas mit seiner künstlerischen Impotenz zu tun hat.

So wird also auch in „Petruschka“ das Exerzieren mit entsetzlich kalten, kurz gehaltenen Übungen praktiziert, während die großartige Musik aus dem Orchestergraben die wahre Show im Grunde alleine macht. Ganz kurz gesagt: KI hätte es besser choreografiert.

Lediglich die Perfektion, mit der das SBB die Bewegungen vollführt, macht staunen – so etwas sichert natürlich auch immer einen gewissen Applaus, der ohne Nachdenken und ohne Zaudern gespendet wird. Sozusagen aus Gewohnheit und Routine.

Von der eigentlichen Handlung ist hier indes nicht allzu viel zu erkennen. Dass Petruschka am Ende stirbt, sein Geist aber überlebt und allen eine Nase dreht, hat Goecke mit Chainés übersetzt. Nicht ganz schlüssig. Aber er hat sich bemüht, zweifelsohne. Seine eigene psychische Erkrankung, dank der er auch schon mal eine Uraufführung in Stuttgart platzen ließ, haut ihn ja aus vielem raus. Vielleicht auch aus dem Prozess in Hannover.

Die beste Besetzung aller Zeiten

Konstantin Tselikov (Hamburg Ballett) als Clownspuppe „Petruschka“ in John Neumeiers „Nijinsky“ – sehr toll und dem historischen Kostüm entsprechend. Foto: Kiran West

Petruschka, die Theaterfigur, ist auch ein Leidender, aber von ganz anderem Kaliber. Eher Opfer als Täter und doch kein Heiliger, verkörpert er das Tragikomische an sich.

Petruschka, der traurige Clown, lebt als gefangene Puppe eines Budenzauberers (bei Goecke ist es ein Scharlatan, was keine Berufsbezeichnung ist) auf einem altrussischen Jahrmarkt. Er liebt die Ballerina, die wiederum mit dem Mohren ein Techtelmechtel hat. Der Mohr heißt historisch wirklich so in diesem Ballett – und der Leiter des Restaurants „Zum Mohrenkopf“ in Kiel, selbst dunkelhäutig, kann sehr schön und authentisch erklären, warum das Wort „Mohr“ woke ist und nicht aus der Mode kommen sollte. Zudem kocht man dort übrigens auch fantastisch.

Ob Goecke kochen kann, wollen wir hingegen nicht unbedingt wissen. Seine unkultivierten Zappelstücke genügen uns als Kostprobe seiner Kreativität. Und einen Mohren gibt es bei ihm natürlich nicht, denn seine Geldgeber aus der Politik mögen das Wort nicht mehr. Sie finden es nur diskriminierend, was mit mangelnder Bildung zu tun haben mag. Bei Goecke ist der Mohr also nur der so genannte Rivale. Er versetzt Petruschka hier von hinten den Todesstoß, nachdem der bei der Ballerina ganz gut ankam.

Die Tragik des Gefangenen, die im Original einen starken Aspekt darstellt, entfällt bei Goecke. Sein modernes Publikum fühlt sich wohl immer frei.

"Strawinsky" kupfert das Staatsballett Berlin beim Ballett Dortmund den Programmtitel ab

Alle lustig beieinander: Das Staatsballett Berlin in „Petruschka“ von Marco Hol-den-Kot-raus Goecke. Immer wieder langweilig, schon seit Jahren. Jetzt auch im neuen Programm „Strawinsky“ – ohne Ausrufezeichen. Foto: Yan Revazov

Bei Mikhail Fokine, der 1911 die Uraufführung von „Petruschka“ bei den Ballets Russes in Paris besorgte, gibt es jedenfalls inspirierende Tänze, auf deren Grundlage viele Choreografen interessante Neuinterpretationen wagten.

Die Version von Xin Peng Wang, die 2021 und 2022 beim Ballett Dortmund lief, versetzt Petruschka in die heutige Zeit und ersetzt den Jahrmarkt durch die Hochhaus-Silhouette einer Großstadt. Javier Cachero Alemán tanzte sehr ergreifend das Schicksal eines liebestollen Pechvogels, der als Außenseiter zwar manchmal alle Chancen der Welt zu haben scheint, letztlich aber dem größten Unglück anheim fällt.

Sollten Sie eine Möglichkeit haben, diesen faszinierend tragikomischen „Petruschka“ von Wang zu sehen, zögern Sie nicht!

Und wo wir schon mal bei Empfehlungen sind: „Le Sacre“ in der Interpretation von John Neumeier ist auch unbedingt jede Reise wert. Er stammt, überraschend, von 1972, ist also drei Jährchen älter als das Stück von Pina Bausch. Und: Bausch zitiert Neumeier mit zwei auffallenden Bewegungen, und zwar mit einer tänzerischen Koitusgebärde der gebeugten  Beine einer Frau und mit dem jazzigen Seitensprung eines Mannes.

"Le Sacre" und "Le Pavillon d'Armide" von John Neumeier

„Le Sacre“ von John Neumeier ist überwältigend – und enthält außer einem atemberaubenden Schlusssolo auch erschütternde Ensembleszenen. Foto vom Wiener Staatsballett: Michael Höhn

Was Neumeier außerdem noch bietet, fehlt bei Bausch: eine überwältigende Lichtshow. Schon deshalb, aber nicht nur darum, ist Neumeiers „Sacre“ auch nach wie vor mein Favorit, was dieses Stück angeht, obwohl ich wirklich schon viele, auch gute Versionen gesehen habe.

Abraten möchte ich nur von der Rekonstruktion der Uraufführung der Choreografie „Le sacre du printemps“ von 1913, in der Millicent Hodges bei Vaslav Nijinsky abschaute. Hodges‘ Arbeit geriet in meinen Augen verstaubt und zu akademisch. Sie hat Nijinskys Flair nicht erfasst – und wer an Oberflächlichkeiten klebt, sollte diese nicht als wahre Kunst ausgeben.

Womit wir wieder bei Goecke sind: oberflächlich und scheinecht sind seine Bewegungen, und das Gefühl von Echtheit, das man gerade im künstlichen Fluidum Theater sucht, wird man bei ihm nur schwerlich finden.

Nichtsdestotrotz hat der nicht mehr junge Mann auch in München bald eine Premiere. Dort durfte er einen Tanzabend beim Bayerischen Staatsballett „kuratieren“. Prima. Oder eher kacke?

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Bis dahin gibt es noch einige Gelegenheiten, besseren Tanz zu sehen, etwa mit Bauschs „Frühlingsopfer“ in Berlin oder auch bei der kommenden Ballettgala vom Ballett Dortmund – ja, und nicht zu vergessen beim Hamburg Ballett, wo heute die vierwöchigen Jubiläums-Ballett-Tage starten. Keine zwei Stunden braucht der Zug dorthin. Worauf warten Sie noch?
Gisela Sonnenburg

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