Zwanzig Minuten stand das ganze Haus, applaudierte, johlte, brüllte „Bravo“: Gestern abend eröffnete John Neumeier die Hamburger Ballett-Tage 2023 zu seinem 50-jährigen Einstand als Ballettchef vor Ort, und er erhielt allem Zuspruch, den er sich nur wünschen konnte. Getanzt wurde eines seiner großen Handlungsballette, sein erstes: sein erster Shakespeare-Klassiker. Mit untrüglichem Instinkt wählte das Genie damit zugleich jenes Stück, das in den schrecklichen Zeiten des Krieges die Herzen am meisten zu rühren weiß: „Romeo und Julia“ erzählt in detailfreudigen, gefühlvoll aufgeladenen Bildern in der blumenseligen, oft aber auch puristischen Ausstattung von Jürgen Rose (der zum Applaus mit auf die Bühne kam) sowie zur atemberaubend schönen Musik von Sergej Prokofjew (unter dem feinfühligen Dirigat von Simon Hewett) die Geschichte zweier Teenager. Diese verlieben sich so stark ineinander, dass sie ohne ihre Liebe nicht mehr leben wollen. Ihre Herkunft aus verfeindeten Familien stellt den gesellschaftlichen Widerstand gegen ihre Liebe dar; ihre Jugend setzt sich über alle Bedenken hinweg und beschwört die Katastrophe herauf, nämlich den Tod. Erstmals in der Ballettgeschichte sind die beiden anstrengenden Hauptrollen in „Romeo und Julia“ jetzt mit Berufsanfängern besetzt worden, die Julia sogar mit einer Ballettschülerin.
Azul Ardizzone wirkt als Julia wie eine junge Alina Cojocaru mit einem Hauch von Marcia Haydée – und Louis Musin als ihr Romeo verströmt einen stürmischen Charme wie sonst nur Roberto Bolle. Dabei stellen die beiden Nachwuchsstars ganz eigene Talente und Persönlichkeiten dar: Ardizzone mit Mut zu grotesk-komischem, aber auch erotisch-leidenschaftlichem Spiel, und Musin mit schalkhaftem Überschwang, vereint mit souveräner Kraft.
Wer diese Besetzung verpasst, bemerkt nicht, wie sich das von seinen Verächtern ständig totgesagte Ballett als Kunstform immer wieder selbst erneuert.
Auch und gerade anhand einer konzisen Choreografie von John Neumeier, die im Ursprung von 1971 stammt und 1974 sowie 1981 überarbeitet wurde, kann das geschehen. Ballett als Bühnentanz im Opernhaus hat das verdient: Durch neue Interpretationen und frische Verlebendigung ohne krampfhafte Erneuerung oder bloße Zwangsoriginalität kommt die Kunst zu sich selbst.
Oder wie es Theodor W. Adorno sagen würde: „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“
1973 kam der Magier namens John Neumeier, gebürtig in den USA, ausgebildet dort, aber vor allem auch in London und Kopenhagen, als junger Ballettdirektor von Frankfurt am Main nach Hamburg. August Everding, legendärer Opernmanager, hatte ihn geholt und „Johnny“, wie ihn eingefleischte Fans seit Jahrzehnten nennen, damit die große Chance gegeben, etwas Eigenes an exponiertem Ort zu schaffen. Neumeier wusste diese Möglichkeit zu nutzen und eroberte mit Talent, Fleiß und Klugheit die Herzen und auch die Portemonnaies der alteingesessenen Hamburger.
Dass er bei seiner ersten „Ballett-Werkstatt“ vor Nervosität den Faden verlor, das unumwunden zugab, sich dafür entschuldigte und zur Aufmunterung aufbrandenden Applaus erhielt, schmiedete symbolisch ein festes Band zwischen Neumeier und seinem seither stetig Neuzulauf erhaltenden Publikum.
Mittlerweile reist die ballettinteressierte Menschheit aus jedem Winkel der Welt an, um das Hamburger Ballettwunder, das nunmehr seit 50 Jahren besteht, zu bestaunen.
Und Neumeier avancierte nicht nur zum Ballettintendanten und Chefchoreografen, der mit mehr als 160 zumeist abendfüllenden Choreografien, mit einer eigenen Ballettschule, mit dem Bundesjugendballett und mit zahllosen Gastspielen und Tourneen der am meisten florierende lebende Ballettboss der Welt wurde. Er heimste auch mehr Ehrungen, Auszeichnungen und Preise als jeder andere lebende deutsche Künstler ein. Es dürften rund 200 sein – von der Ehrenbürgerschaft Hamburgs bis zum japanischen Kyoto-Preis, und jährlich kommen weitere dazu.
„Romeo und Julia“ legte für diesen Weltruhm einen Grundstein, denn Neumeier schaffte, was zuvor kein Ballettmogul auch nur in Angriff genommen hatte: dem im Stück gezeigten Gesellschaftsbild zur Musik von Prokofjew – die im Auftrag vom Leningrader Kirov-Theater und vom Moskauer Bolschoi entstanden war, aber 1938 zunächst in Brünn uraufgeführt wurde – ein neues, wenn auch dem historisch überlieferten Libretto angepasstes psychologisches Profil zu verleihen.
Die Handlung wird auf drei Teile aufgeteilt, nicht auf drei Akte, wobei jeder Teil für einen Tag der Spielhandlung steht. Liebe und Tod in drei Tagen und drei Nächten: als stringent erzählte Story erfahrbar gemacht.
Neumeiers Clans, die sich hier bekämpfen, sind zwar wie beim Dramatiker William Shakespeare in Verona in Italien angesiedelt. Und sie tragen auch von der Renaissance inspirierte Kostüme. Aber die Spaltung der gezeigten Gesellschaft durchzieht hier alle Stände und die ganze Stadt, sie beschränkt sich nicht auf die Familien der Montagues (Romeos Herkunft) und der Capulets (Julias Heimstatt) allein. In der Balletthistorie war das zuvor nie so deutlich geworden.
Man könnte fast von einem schwelenden Bürgerkrieg sprechen, der unter dem Deckmantel des zivilisierten Alltags in der Öffentlichkeit vor sich geht. Immer wieder flackern im ersten Teil Kämpfe zwischen Kontrahenten auf; die Männer fechten, die Kinder balgen sich. Die Mägde tanzen entsprechend, und nur der Herzog von Verona (gestern von Eduardo Bertini dargestellt, der seit 1974 für Neumeier arbeitet) ist daran interessiert, die Streits zu schlichten. Dass diese aber irgendwann eskalieren werden, scheint indes vorprogrammiert – die Liebe von Romeo und Julia hat durch diesen Hintergrund von Beginn an keine reelle Chance.
Und anders als bei Shakespeare – und auch bei Neumeiers russischem Gegenstück, dem Choreografen Yuri Grigorovich – bewirkt der Tod der beiden jungen Liebenden am Ende auch nicht die Versöhnung der sich bekämpfenden Parteien.
Die Welt in „Romeo und Julia“ bleibt bei John Neumeier, wie sie ist: kriegerisch und unwirtlich für wahre Liebende.
Nur die Utopie der Liebe über alle Schranken hinweg hat sich vollends entfaltet, sie hat ihre Poesie verströmt und das Publikum für seinen Weg zurück in die Alltagswelt bestens gewappnet: mit tänzerischer Lyrik im Herzen lebt es sich einfach besser.
Zumal, wenn das ganze Ensemble auf der Bühne so viel Schwung und Einsatz verbreitet wie hier.
Die Pas de deux der Hauptdarsteller sind dabei wie von überirdischer Schönheit gesegnet: mit symbolträchtigen Hand-Tänzen, mit originellen Kuschel-Posen, aber auch mit komplizierten Drehhebungen.
Ardizzone und Musin tanzen sie mit Herzenslust und – vor allem sie als Julia – mit der Frische und Neugier, auch mit der gelegentlichen Unsicherheit der die Welt neu entdeckenden Jugend. Da passt einfach alles.
Schon 2015 habe ich hier im Ballett-Journal übrigens öffentlich darüber nachgedacht, wie jung Romeo und Julia in diesem Tanzstück wohl eigentlich seien. Das Teenageralter oder auch das von Twens – was im wahren Leben einen großen Unterschied macht, hat auf der Bühne noch eine andere Dimension.
Mit der wörtlichen Verjüngung seines „Romeos“ folgt John Neumeier einer Idee des Filmregisseurs Franco Zeffirelli, der die Shakespeare’sche Geschichte 1968 verfilmte, ebenfalls mit blutjungen Hauptdarstellern, die bei Vertragsunterzeichnung noch minderjährig waren. Etliche Theaterregisseure ahmten diesen Kunstkniff nach, illustrierten die Geschichte sozusagen naturalistisch. Denn bei Shakespeare ist Julia tatsächlich noch fast ein Kind, erst 13 Jahre alt.
Im Ballett aber ist eine solche Besetzung ein Novum, und das liegt schlicht an den hohen Anforderungen, die die höchste aller Körperkünste stellt.
Im Schauspiel kann man zur Not einfach nur auf der Bühne stehen – und schon spielt man. Im Ballett geht das nicht. Eher kennt man Julien und auch Romeos, die sich bereits jenseits der 40 Lenze bewegen, als dass man Anfängern diese Partien zutraute.
John Neumeier aber kann sich darauf verlassen, dass seine Jungstars ziemlich perfekt für ihre Rollen gecoacht und gebrieft wurden, zumal sie für den Neumeier-Stil, für die bewegungstechnische Struktur seiner Tänze, zielgerichtet ausgebildet wurden.
Die jungen Leute haben von Kindesbeinen an gelernt, aus ihrem Körper ein Instrument für die Kunst, für die Kunst der Choreografie zu machen. Das wird beim Anblick ihrer Schönheit oft vergessen: Sie dienen nicht der Eleganz an sich, auch nicht der tänzerischen Improvisation, sondern dem schöpferischen Willen einer choreografischen Urheberschaft.
Dafür wird im Ballett weltweit jeden Tag trainiert, geprobt, gehungert: ohne unerhörte Anstrengungen gäbe es die ganze künstlerische Pracht nicht.
Insofern sind Tänzer gerade im klassischen oder neoklassischen Bereich immer tapfere Kämpfer gegen naturgegebene Widerstände wie Schwerkraft, Schwerkraft, Schwerkraft – und die eigene Bequemlichkeit.
Beim Hamburg Ballett ist man darin höchst erfolgreich. Eben auch schon beim jüngsten Nachwuchs, wie „Romeo und Julia“ beweisen.
Zunächst zur Julia:
Die Argentinierin Azul Ardizzone wird am 18. Juni 23 gerade mal 16 Jahre alt. Ihre Statur ist zart, ihre Beine sind kräftig und gerade, ihre Füße haben anscheinend die für Ballett optimale Spann- und Muskelkraft. Ihre Arme vermag sie in sanften Rundungen zu heben und zu lenken, den Oberkörper hält sie grazil und aufrecht. Ihr Köpfchen hat etwas Niedliches, das die Schönheit des Gesichts noch übertrumpft. Ihre nächsten größeren Partien dürften die Marie in Neumeiers „Nussknacker“ und die Primavera in Neumeiers „Othello“ werden. Aber bis dahin muss sie wohl erst noch ihren Abschluss an der Ballettschule machen – was nach dem Auftritt als Julia hoffentlich nicht in Frage steht.
Und ihr Romeo:
Der Belgier und Brasilianer Louis Musin, 21 Jahre jung und wie Azul Ardizzone von der Ballettschule vom Hamburg Ballett stammend, sammelt bereits seit seit zwei Jahren Erfahrung als Gruppentänzer. Als Louis in „Liliom“, als Fritz in „Der Nussknacker“ und mit Soli in Stücken wie der „Matthäus-Passion“ und der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ hat er sich bei Insidern schon als Solist einen Namen gemacht. Jetzt dreht er als Romeo voll auf, begeistert mit akkuraten und doch spontan wirkenden Bewegungen und mit ungebremstem Spiel. Was für ein Charmeur!
Er vermag den Salto rückwärts aus dem Stand spielerisch leicht in seinen Tanz einzuflechten, ebenso die A-la-seconde-Pirouetten, bei denen das Spielbein waagerecht seitlich gestreckt gehalten wird. Für diesen Romeo kann man schon mal vor Liebe sterben… und die Choreografie entsprechend aufbrezeln.
Zu Beginn ist er noch in Rosalinde (Olivia Betteridge) verliebt, die aber auch schon zum Hause Capulets gehört und eine Cousine von Julia ist. Romeo ist hingegen ein Montague, und die tödliche Feindschaft der beiden Clans grundiert hier ja die gesamte gesellschaftliche Struktur.
Trotzdem lässt Romeo sich nicht davon abhalten, ein Tuch von Rosalindes Hand wie einen duftenden Fetisch zu ehren. Seine Kumpels Mercutio (fabelhaft, wirklich einfach umwerfend: Alessandro Frola) und Benvolio (auch toll jungenhaft: Francesco Cortese) flankieren ihn, bilden mal ein Duo, mal ein Terzett mit ihm.
Wegen Rosalinde begeben sich die drei maskiert als ungebetene Gäste zum Fest bei den Capulets.
Neumeier hat sich in diesem seinem ersten Handlungsballett die Mühe gemacht, jeder Figur, die auf der Bühne steht, einen Namen zu geben. Sogar die von Armut stark bedrohte Hure Bianca (sehr anrührend von Yaiza Coll getanzt) hat einen sprechenden Namen: Ihr Herz ist eigentlich rein, sagt der Name.
Damit betont Neumeier die Individualität des Personals und setzt diese gegen die Teilung der Gesellschaft in Montagues und Capulets.
Das familiäre Machtzeichen der Führungsspitzen hier ist eine Arm- und Handpose: Die Fingerspitzen der gestreckten Hände bilden dabei die Spitze eines nach unten gerichteten Dreiecks.
Zu hoch geworfenem Bein exerziert Familie Capulet damit ihren Führungsanspruch – eine sehr überzeugende Gestaltung vom „Tanz der Ritter“, wie die prägnante Komposition hier auch genannt wird.
Auf dem ersten Ball, den Julia erlebt und auf dem die meisten Capulets eine Maske aus roter Farbe tragen, tanzt sie zunächst anrührend allein und auch brav-folgsam mit ihrem von den Eltern ausgesuchten Bräutigam Graf Paris (vorzüglich und sicher im Tanz wie im Spiel: Florian Pohl, der gegen die zarte, feingliedrige Ardizzone wie ein schöner, aber massiv gestalteter Riese wirkt).
Bis Julia auf Romeo trifft: Plötzlich stehen die beiden voreinander und die Welt um sie versinkt in Chaos. Jedenfalls ihren Blicken nach.
Mit Bruder Lorenzo (hervorragend als tief gläubiger, auch noch ganz junger Kräutergärtner: Lennard Giesenberg) haben sie in ihrer unbedingten Sehnsucht nacheinander einen Verbündeten. Er traut die beiden heimlich, und er ist es auch, der zwar einen Fluchtplan für die Liebenden ausheckt, diesen aber nicht ganz umsetzen kann.
Zuvor aber kommt es zum Eklat auf dem Marktplatz. Zu Ehren des Veroneser Stadtheiligen wird ein Fest gefeiert, es gibt eine Prozession und alle tragen Kränze aus weißen Röschen im Haar. Verona spielt heile Welt, eine scheinheilge Heiligenwelt ist es, mit einem Frieden, der nicht mal ein paar Stunden anhält.
Denn noch während des Festes entwickelt sich das tödliche Gefecht zwischen dem angetrunkenen Tybalt, dem Cousin von Julia (stark und in seiner Wut auf die Gegner verständlich getanzt von Artem Prokopchuk), und Mercutio, dem besten Freund von Romeo.
Als Mercutio tödlich getroffen wird, steht er rechts vorn an der Rampe und scheint es selbst nicht glauben zu wollen. Und niemand hat bemerkt, dass da ein Hieb in seine Flanke ging. Also spielt er – noch einmal – den Überlegenen, den Witzigen, den Macher.
Mit geliehenem Theaterumhang absolviert er sein letztes Solo, macht alle glauben, er stürbe nur im Spiel. Bis er nicht mehr aufsteht und der Schrecken groß ist.
Alessandro Frola profiliert sich hier als großer Künstler, sicher auf den Spuren von Max Midinet, die die Partie einst kreierte, wandelnd.
Kein Wunder, dass Romeo sich berufen fühlt, den Tod des Freundes zu rächen. Genau so spontan, wie er in seine Liebesabenteuer stolperte, gerät er jetzt in tödlichen Händel mit Tybalt. Oben auf der Galerie versetzt er ihm den tödlichen Stich mit dem Florett – Tybalt fällt sterbend herunter, unter Anteilnahme des Ensembles und dann vor allem der Mutter von Julia, die ihn an Sohnes statt liebte.
Romeo, zu diesem Zeitpunkt schon heimlich mit Julia vermählt, hat nicht nur einen Menschen getötet, sondern auch noch einen Verwandten seiner jungen Gattin. Er muss fliehen – soviel steht fest.
Zuvor aber will er noch einmal die Liebe Julias auskosten und verbringt bei ihr die Nacht. Mit der Amme als Komplizin konnte das gelingen – aber den weiteren tragischen Ablauf der Geschichte kann auch sie nicht verhindern.
Wie zart das Erwachen der Liebe ist! Und wie grauenvoll ihre Konsequenz.
Romeo küsst Julia wach, auf die Stirn, und ihre Arme sind hier wie bei einer braven Toten auf der Brust gekreuzt. Als sie erwacht, stürmt sie zu Romeo, lehnt sich gegen ihn in eine Arabesque, also mit rückwärts erhobenem Bein, und scheint sich ihrer brenzligen Situation kaum bewusst. Dass sie Romeo zum letzten Mal lebend sieht, ahnt sie nicht einmal.
Immerhin fehlt bei John Neumeier damit nicht das dramaturgische Element, das so vielen anderen „Romeo und Julia“-Balletten bedauerlicherweise abgeht: Neumeier lässt Lorenzo selbst nach Romeo suchen, als der verliebte Jüngling getürmt ist. Umsonst: Lorenzo kommt zu spät, um ihn noch zu finden. Bei Shakespeare ist es ein reitender Bote auf einem Esel, der die Zeit vertrödelt und dadurch Romeo verpasst. Nur so wird der Plan Lorenzos vereitelt: Romeo erfährt nicht, dass Julia nur scheintot in der Morgue liegt und er sie eigentlich aufwecken und mit ihr fliehen soll.
Zuvor erleben die beiden aber die schönsten Momente ihres kurzen Lebens: im Miteinander, im Tanz, in einer Liebe, die nicht nach dem Woher und nicht nach dem Wohin fragt.
Die Balkonszene mit Romeos werbendem Tanz und dem sich anschließenden Pas de deux ist hier einer der Höhepunkte, aber auch die Interaktion der Verliebten mit den anderen Menschen in ihrem Umfeld macht „Romeo und Julia“ zu einem puren Genuss.
Da ist Julia, die, nur mit einem Saunahandtuch bekleidet, ihre Amme (herzhaft-streng und doch mütterlich-weich: Niurka Moredo) neckt. Ihre drei befreundeten Cousinen tragen heute in dieser Szene übrigens auch nur Handtücher, bis in die 80er-Jahre hinein war diese frivole Tracht allerdings ein Privileg von Julia, der einzigen Tochter des hochgestellten Hauses. Ihre Cousinen trugen damals Flatterkleidchen, was auch hübsch war und Julias exponierte Position heraushob.
Frech, eigenwillig, dennoch pubertär-schüchtern und äußerst liebenswert, weil so süß und niedlich: das ist die kindhafte Julia bei Neumeier, und Azul Ardizzone verkörpert sie aufs i-Tüpfelchen genau. Als sei die Partie für sie kreiert worden!
Und so staunt ihr Bräutigam nicht schlecht, als sie sich nach ihrer heimlichen Trauung mit Romeo durch Bruder Lorenzo äußerst störrisch anstellt, als es an den Brauttanz geht. Florian Pohl spielt dieses enttäuschte Staunen köstlich – und die Eltern (noch immer ineinander verliebt: Mathias Oberlin und Priscilla Tselikova als Capulets) können sich nur mitwundern.
Die Zwangsverheiratung war im 16. Jahrhundert, in dem „Romeo und Julia“ spielen, auch in Mitteleuropa üblich – und die Gegenwehr der jungen Braut nicht erwünscht.
Dabei entwirft Neumeiers Inszenierung eine Welt in einer Welt: die stark hierarchisch aufgebaute Welt der Capulets ist nur ein Teil der von Zwist und Krieg gestörten Veroneser Gesellschaft. Die Spannung auf der Bühne in den Szenen auf dem Marktplatz spiegelt sich im Tanz, der in Gefechte mündet.
Mitten in diese destruktiv-lebendige Sphäre platziert John Neumeier ein Element aus einem anderen Shakespeare-Ballett, nämlich aus „Hamlet“: eine fahrende Schauspielertruppe.
Mit bunten Kostümen und pantomimehaftem Stil ist sie eine weitere Attraktion hier.
Allen voran bezaubert Emilie Mazon als tanzende Schauspielerin Luciana – und sie reißt mit ihrem sinnlichen Spiel mit, als sei sie die eigentliche Erzählerin des Stücks. Sie, die vor genau zehn Jahren als neues gefeiertes Nachwuchstalent in Hamburg reüssierte, hat eine für heutige Balletttänzerinnen seltene, wunderbar natürlich wirkende Figur bekommen, die sie als Frau und Tänzerin besonders reizvoll erscheinen lässt. Ihre perfekten Proportionen, ihre ausgefeilte Technik und vor allem ihr mal munterer, mal tragikomischer Ausdruck in dieser Rolle machen sie zu einem echten Hingucker.
Auch sie war schon eine Julia (mit Jacopo Bellussi als Romeo), und jetzt tanzt sie jene Partie, die das traurige Schicksal der Hauptperson vorwegnehmen darf. Als Spiel-im-Spiel führen die Schauspieler hier nämlich ein Stück auf, das von der tragischen Liebe und dem Selbstmord der Heldin berichtet.
Der junge Liebhaber ist hier eine Art Hamlet, er liest wie versessen in einem Buch, während er auf einem Bein steht und das Spielbein in der Retiré-Position hält, also seitlich angewinkelt und mit den Fußspitzen am Knie. Sein Kopf wackelt hin und her – die schwere Kost in seinem Buch bringt ihn wohl fast um den Verstand. Ob er Shakespeare liest?
Aber auch Romeo hat bei Neumeier Züge von Hamlet, er ist zwar ein Stürmer und Dränger, aber auch ein melancholisch Versonnener, der in der erotischen Liebe den höchsten Lebenssinn erkennt.
Diesen Fanatismus brauchen die Liebenden, um sich gegen ihre Umwelt zu verteidigen. Die große Liebe in den schrecklichen Zeiten des Krieges brennt dafür umso heller.
Und als Julia, um ihrer Hochzeit mit Paris zu entgehen, sich von Bruder Lorenzo ein 24 Stunden wirkendes Schlafgift aushändigen lässt, tanzen in ihrer Fantasie die Schauspieler das glückliche Happy Ending vor.
Für Julia klappt es damit bekanntlich nicht. Zuhause stellt sie sich zahm und tanzt mit Paris und den Eltern, bewundert das aufgestellte Brautkleid und scheint allen Widerstand aufgegeben zu haben. Aber allein gelassen, trinkt sie das Kräutergift, und Baldrian ist es nicht, was Lorenzo ihr gab.
Schreckliche Schmerzen und Visionen befallen sie. Ihr toter Verwandter Tybalt im Leichenhemd mit Blutfleck – das einzige Mal, das wir in dieser Inszenierung Kunstblut sehen – tanzt mit ihr, bis Romeo ihn in ihren Träumen ablöst. Aber die Angst bleibt, als sie ins Koma fällt.
Als sie gefunden wird, ist der Horror im Hause Capulet groß. Erst wird Tybalt ermordet, dann stirbt scheinbar auch Julia. Vor allem der Vater trauert um sie.
In der Morgue liegen mit ihr unter weißen Spitzen auch Tybalt und Mercutio (insofern handelt es sich nicht um eine „Familiengruft“, wie noch im Libretto vermerkt).
Romeo stürmt herbei – und kann es kaum fassen. Die aufgebahrte Leiche mit der roten Rose auf der Decke ist seine Julia, und er verliert mit seinem Lebensfrohsinn die Fähigkeit zu tanzen. Ihre Hand rutscht aus seiner – er beschließt seinen Tod und ersticht sich.
Kaum verscheidet er, erwacht Julia. Ihre Hand liegt auf dem Kopf von Romeo. Und es ist ein Grauen für sie. Auch sie vermag kaum noch zu tanzen, sie erstarrt, besieht sich die anderen Toten, kuschelt sich ein letztes Mal an den Geliebten und tötet sich mit seinem Dolch.
Die Welt haben die beiden nicht ändern können. Aber sie ermahnen noch viele Generationen, die Liebe dem Krieg vorzuziehen.
Als John Neumeier beschloss, „Romeo und Julia“ in Szene zu setzen, hatte er sich schon jahrelang mit dem Stoff beschäftigt. Schon als Tänzer bei John Cranko in Stuttgart, so schreibt er im überaus lesenswerten, neu gemachten Programmheft, habe er darüber nachgedacht, wie er es machen würde.
Dabei wollte er nicht auf die bereits vorhandenen Romeo-Ballette etwa von Kenneth MacMillan und Cranko, aber auch von Frederick Ashton und Maurice Béjart eingehen, sondern sich direkt bei Shakespeare frische Inspiration holen.
Die Psychologisierung des Librettos, der Szenerie, ist das große Verdienst von Neumeier, der Romeo und Julia eben nicht im luftleeren Raum mit ein bisschen Deko drumherum tanzen, lieben und sterben lässt, sondern der ihre Geschichte stark in die gesellschaftliche Politik im Stück einbindet.
Ob ihr Tod eine sühnende Wirkung hat oder nicht, muss jede und muss jeder im Zuschauerraum selbst entscheiden.
Das Programmheft mag dabei Entscheidungshilfen liefern, auch wenn die Datierung der Uraufführung der „Romeo und Julia“-Version von Nacho Duato darin falsch ist. Sie fand 1998 in Madrid statt, dann wurde die Inszenierung in Sankt Petersburg am Mikhailovsky-Theater gezeigt und erst danach 2018 beim Staatsballett Berlin.
Gute Stücke rosten nicht, das gilt für viele „Romeo und Julia“-Ballette. Aber nur eines eint in sich so viel Menschlichkeit und Menschliches wie die Hamburger Fassung von John Neumeier.
Zum Abschluss noch einmal Adorno: „Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen.“
In diesem Sinne: Herzliche Glückwünsche und ebenso viel Dank an John Neumeier, der in den letzten 50 Jahren von Hamburg aus unendlich viel für das Ballett getan hat.
Gisela Sonnenburg