Wie jung sind Romeo und Julia? Bejubelte Debüts in Hamburg: Jacopo Bellussi und Emilie Mazoń in „Romeo und Julia“ – und Alexandr Trusch mit Hélène Bouchet im selben Neumeier-Stück

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Typisch für schwer Verliebte: Eine Pas-de-deux-Pose wider die Schwerkraft von John Neumeier, in „Romeo und Julia“, im Bild getanzt von Alexandr Trusch und Florencia Chinellato. Foto: Holger Badekow

Sie sind das jüngste Liebespaar der Weltgeschichte der Literatur – und zugleich das berühmteste. „Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche!“ – so lautet eines der Zitate aus dem Stück, die zu geflügelten Worten wurden. Und obwohl das Libretto von „Romeo und Julia“, 1596 als Theaterstück von William Shakespeare erdichtet, einige Ungereimtheiten aufweist, erwärmt die rührende Geschichte einer von feindseligen Familien nicht erlaubten Liebe nebst Liebestod in einer kalten Gruft zuverlässig die Herzen.

Es ist nur immer die Frage: Wie jung sollen diese Teenager wirklich sein? Bei Shakespeare ist Julia gerade mal 14 Jahre jung, ihr Romeo ist etwa drei Jahre älter. Im Mittelalter und in der Renaissance wurden durchaus häufig solche Ehen – meist als Zwangsehen – von Jugendlichen, die fast noch Kinder waren, geschmiedet.

Aber kennt nicht auch der Eine oder die Andere von heutigen Zeitgenossen aus eigener Erfahrung die Köstlichkeit des erotischen Erlebens in diesen frühen Lebensjahren? Eben. Kein Kuss schmeckt so gut wie der allererste, den man oder frau sich frei wählte – obwohl die Gefühle in diesem Alter meist noch ungeordnet und so stürmisch wie unkoordiniert sind.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Eine Schlüsselszene aus „Romeo und Julia“: Die Familien sind verfeindet, Vendetta – also Blutrache – droht. Dabei lässt der Kostümdesigner Jürgen Rose die beiden First Ladies der Clans nicht ohne Grund eine sehr ähnliche Tracht tragen, beide wie in täuschend freundliches Elfenbeinweiß getaucht. Unschuldig sind diese Damen aber nicht am tödlichen Scheitern einer großen Liebe. Foto: Holger Badekow

Bei Romeo und Julia liegt der Fall aber noch anders. Hier geht es nicht nur um die Süße der ersten Liebschaft. Sondern um die ganz große Liebe als Lebenskonzept – in einem Alter, in dem man gemeinhin noch als unmündig und unreif gilt. Die literarische Epoche des Sturm und Drang erfolgte zwar erst knapp zweihundert Jahre nach der Uraufführung von „Romeo und Julia“. Aber das sie beherrschende, unbändige Gefühl von geschlechtlicher Sehnsucht, das durchaus mit Auflehnung gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse verknüpft ist, gab es eben auch schon früher.

Die Liebe ist tot, es lebe die Liebe! Denn bevor Shakespeares Romeo sich in Julia verliebt, steigt er im Textbuch der hübschen Rosalinde nach. Das wird so oft vergessen. Der geniale Choreograf John Neumeier, der aus „Romeo und Julia“ schon 1971 in Frankfurt am Main sein Ballett machte, vergaß es nicht. Er vergaß auch nicht, herkömmliche Interpretationen gegen den Strich zu bürsten: Bei Neumeier ist der Titelheld nicht nur ein süßer Sunnyboy, sondern auch ein verantwortungsloser Charmeur. Seine Julia ist hingegen kein dummes Kind, das von der hübschen Fresse des Romeo verführt wird, sondern ein Mädchen, das sich bemüht, erwachsen zu werden, dem aber die eigenen Gefühle immer wieder einen Streich spielen.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Noch keine zwanzig Jahre alt, aber schon eine Julia: Emilie Mazon tanzt, für Ballett ungewöhnlich, blutjung diese Hauptpartie beim Hamburg Ballett. Technisch versiert, darstellerisch mit eigenwillig-anrührendem Charisma! Foto: Holger Badekow

Entsprechend clownesk, dabei unbändig gefühlig, und zwar beides bis in eine gerade noch haltbare Komik hinein, gestaltet die blutjunge Emilie Mazoń ihre Julia. Ihr Debüt letzten Sonntag in der Nachmittagsvorstellung wurde in Hamburg geradezu mit Geifern erwartet: Ihre Fans wollten sie unbedingt in dieser Rolle sehen, während andere Anhänger des Hamburg Balletts, die Emilie nicht so wohl gesonnen sind, diesen Tag nahezu fürchteten.

Schwer und leicht zugleich hat es die junge Tänzerin deshalb, weil ihre Mutter die ehemalige Neumeier-Primaballerina Gigi Hyatt ist. Auch sie tanzte einst die Rolle der Julia – oft mit ihrem Mann und Vater von Emilie, dem Tänzer Janusz Mazoń. Böse Zungen sagen nun, ohne die Protektion qua familiärer Herkunft würde Emilie, die erst neunzehn Jahre alt ist, niemals eine solche Hauptrolle beim Hamburg Ballett ergattern. Zumal ihre Eltern begabte Lehrer und Coachs sind und die Kleinfamilie 2013 zu dritt nach vielen in den USA verbrachten Jahren wieder in Hamburg auftauchte, um bei Neumeier wohlwollende Aufnahme zu finden.

Ein „Kleinfamilienunternehmen“ sei es, das sich da eingenistet habe, so wurde gelästert: Gigi und Janusz traten verantwortungsvolle Posten bei der Schule des Hamburg Balletts an, während Emilie noch für ein paar Wochen daselbst unterrichtet und dann stante pede in die Company übernommen wurde. Seither ertanzt sie sich stetig eine Karriere, von der andere in der Tat jahrelang träumen, träumen und nochmals nur träumen.

NEID DARF KEIN MASSSTAB SEIN

Es ist einfach, da dann neidisch zu sein und Ungerechtigkeit zu wittern. Manche Zuschauer haben zudem andere Favoritinnen im Gruppenensemble vom Hamburg Ballett, die auch entzückend tanzen, die auch jung, schön und ausdrucksstark und vor allem lernfähig sind – obwohl oder weil sie „schon“ über die zwanzig Jahre deutlich hinaus gekommen sind.

Aber Emilie Mazoń zog an all diesen hart arbeitenden Mädels glatt vorbei und erhielt zuerst die Solorolle der La Primavera in „Othello“, die sie hervorragend meisterte, dann die der Marie im „Nussknacker“, die sie ebenfalls mit großer Könnerschaft erfüllte – und nun also auch die Julia.

Julia! Dieses Kernstück von Ballerinenkompetenz! Diese affengeile Supermegatraumrolle! Diese Liebhaberin, wie sie weltweit von jeder Frau und jedem Mann akzeptiert wird! Schließlich: Diese Glaubwürdigkeit in Person! Denn das ist das Besondere an Julia: Es gibt kaum eine andere Liebende im Ballett, auf der Bühne, in der Literatur, die so rundum authentisch erscheint und so glaubwürdig in ihrer Liebe ist.

Dass sie bei Shakespeare vierzehn Jahre jung ist, sollte keine Messlatte sein. Aber sie muss glaubhaft jung und unerfahren sein, und dass Alina Cojocaru das auch gelingt, obwohl sie deutlich über dreißig Jahren liegt, bestätigt nur, was Kenner ohnehin wissen: Julia ist eine Rolle für eine besonders fähige, nicht für eine besonders junge Ballerina.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Jacopo Bellussi und Emilie Mazon in „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett: jung und glaubwürdig verknallt, dahin fliegend, als gebe es kein Wenn und Aber gegen diese verbotene Liebe. Foto: Holger Badekow

Beim Hamburg Ballett waren es zuletzt Hélène Bouchet und Florencia Chinellato, die die Julia auf jeweils eigene Art und Weise himmelhochjauchzend-zu-Tode-betrübt darstellen konnten. Es war ein Augenschmaus, sowohl die eine als auch die andere Tänzerin in diesem Part zu genießen. Florencia vermag es, die Akkuratesse der Julia mit großer Natürlichkeit zu verbinden. Fotos von 2013 belegen es: Sie ist auswärts, ohne damit zu versiert zu wirken. Sie hat außerdem feine, poetische Linien als Julia, die deren niedliche Seele betonen; ohne damit künstlich hochgezüchtet zu erscheinen. Und Florencia hat diese Sehnsucht in den Augen und im Körper, die kennzeichnend ist für einen unbeschwert-jugendlichen Geist, für ein typisch jugendliches Empfinden.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Hélène Bouchet. eine reife, dennoch junge Julia, die sich auf ihre Ausstrahlung als Liebende absolut verlassen darf. Foto: Holger Badekow

Dieser Optimal-Julia stand mit Alexandr Trusch ein absolut hinreißender Romeo zur Verfügung, der mit seinen Partnerinnen stets zu harmonieren weiß und außerdem jede Menge Sexappeal auf die Bühne bringt. Mit La Chinellato hatte man außerdem das Gefühl, er würde eine seit langer Zeit eingeschworene Einheit mit ihr bilden – auf ominöse, nicht ganz durchschaubare Weise, was aber zu Romeo und seiner Julia ziemlich gut passt. Die technisch hervorragende körperliche Kondition von Trusch wurde von der smarten Florencia wie von einer Schmeicheleinheit ergänzt, während sie auch seine emotionale Brillanz zu reflektieren vermochte. Leider verletzte sich Chinellato, ging zu früh wieder ins Training und auf die Bühne zurück, verletzte sich wieder – und muss seither hart an der Ausheilung ihrer Verletzung arbeiten, was auch heißt: erstmal keine Auftritte!

So etwas klingt schrecklich, gehört aber zum Berufsbild „Ballerina“ dazu. Das Verletzungsrisiko in dieser körperbetonten Profession ist nun mal hoch – und man sollte die in Kurierung Befindlichen bewundern und dafür bedanken, dass sie nicht aus lauter Ärger über den anfälligen Körper verfrüht den Beruf wechseln. Gute Besserung, Florencia!

Derweil steht also die junge, zarte, extrem dünn wirkende Emilie Mazoń als Julia da! Kann das gut gehen? Oh ja. Und wie! Sie bezaubert, sie liefert eine eigenwillige, sehr interessante und dabei schlüssige Interpretation ab, sie ist viel jünger und unerfahrener als die meisten Ballett-Julien, aber das passt eben auch gut zu dieser Rolle – und Emilie  passt außerdem mit ihrem Tanzpartner, dem nur knapp drei Jahre älteren, für die Rolle des Romeo tatsächlich wie „gebackenen“ Jacopo Bellussi, auf das Vornehmste zusammen!

Dabei ist „vornehm“ hier eigentlich das nicht passende Wort, denn „vornehm“ sind die beiden vor allem in der Innigkeit ihrer Liebe zueinander, nicht etwa nach außen hin. Denn vor der Gesellschaft müssen sie ihre Liebe bekannterweise verbergen. Aber wenn sie allein sind oder glauben, das zu sein, sind sie ein Paar fast wie aus einem Fotoroman aus der „Bravo“: ungeheuer sinnlich und ebenso versessen aufeinander – das beginnt schon, wenn sie sich gar nicht bewusst treffen, sondern nur zeitgleich auf der Bühne stehen. Allerdings ist das nicht der Anfang des Stücks.

John Neumeiers Ballett beginnt mit dem Priester, dem Bruder Lorenzo, der in diesem Stück als einziger die Katholische Kirche repräsentiert und sozusagen eine Art Underground-Papst darstellt. Sasha Riva, dieser hoch begabte junge Italiener, tanzt den Lorenzo, seit er in der Compagnie ist – und er kann mit dieser in der Tat völlig alterslosen Rolle wohl alt werden, wenn er es denn will und soll. Denn er ist eine Idealbesetzung, gerade weil er nicht der typische unsinnlich-verklemmte, an erfundene Gottheiten glaubende Kirchenmann ist. Sondern ein barfuß leisetreterischer, weltfern versponnener Idealist, der aus seinen Fähigkeiten ein gewisses Einflussvermögen gemacht hat.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Sasha Riva: Bereits in vielen Rollen ist er bewährt, in „Romeo und Julia“ als barfüßiger, versponnener, aber kräuterkundiger Bruder Lorenzo. Foto: Holger Badekow

Dieser Lorenzo ist ein Philosoph, sogar ein Träumer, ein Spinner, wenn man so will, und: ein Wissenschaftler. Denn fast nie sieht man ihn ohne seinen Korb mit frisch gesammelten Kräutern. Wie ein Hippie legt er sich gern mal in die Sonne auf die Wiese und genießt sein gutes Verhältnis zur Natur. Das bedeutet hier keineswegs nur Romantik. Lorenzo entpuppt sich im Verlauf des Stücks als wahrer Giftmischer, als ein Apotheker, der sowohl Scheintote als auch Morde herbei zu führen weiß. Der Priester als Dealer.

Und was macht er zu Beginn des Stücks bei Neumeier? Er weckt den schlafenden Lusthelden Romeo, der so sehr hinter Rosalinde, der Cousine Julias, her ist, dass er die Nacht vor ihrem Haus verbrachte. Wer weiß, ob Lorenzo ihm nicht mit irgendeinem Mittelchen half, die Nacht im Freien gut zu überstehen und süße, rauschhafte Träume zu genießen? Aber Lorenzo steht nicht nur für die Kräuterdrogen. Er verkörpert auch eine Form der Transzendenz. Im Grunde prallen hier zudem schon die zwei Hauptelemente der Liebe aufeinander: Das sinnliche Element, also Romeo, und das spirituelle Element, also Lorenzo. Es ist ein sanfter, aber spannungsreicher Einstieg ins Stück, der voller Atmosphäre und Anregungen ist.

Hauptattraktion alsbald: ein Taschentuch von rosaroter Farbe – das kann Romeo erhaschen, als er versucht, sich der anreisenden Rosalinde zu nähern. Sie ist mit Carolina Agüero sehr toll besetzt: kein junges Ding mehr, sondern ein Mädchen, das ernsthaft leben und lieben will. Das vermittelt sie sowohl im Wallegewand mit Spitzhut und Schleier als auch später in elfenbeinfarbener Brautjungferntracht. Ach, und sie hat diese lockende Reife, auf die manche jungen Männer so abfahren! Kein Wunder, dass Romeo sich ihr Taschentuch immer wieder verträumt aufs Gesicht legt und daran inhaliert.

Auch Julia empfindet diese Rosalinde als besonders angenehme Person und stellt sich auf den Balkon, um sie zu begrüßen. Emilie Mazoń leuchtet geradezu, als sie dort reglos steht. Dabei sieht sie Rosalinde aber nicht einmal an. Sie schaut geradeaus, als sähe sie dort eine Zukunft, in der sie selbst eine mächtige Frau und nicht mehr ein ohnmächtiges Mädchen ist – ein Paradies in ihrer Imagination. Hier beginnt denn auch ganz feinnervig die Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die zueinander passen, obwohl die Gesellschaft das nicht wahrhaben will. Denn Julia leuchtet von da oben, von der Galerie herab, dramaturgisch gesehen nicht für Rosalinde. Sondern für Romeo, der ein Stockwerk unter ihr steht, der tanzt und tändelt und noch keine Ahnung davon hat, dass seine Verliebtheit in Rosalinde nur ein Vorspiel für seine wahre große Liebe sein wird.

Romeo ist ungestüm. Er will tanzen und springen, und Jacopo Bellussi zeigt diese besonders jungenhafte Seite Romeos erwartungsgemäß mit fantastischer Hingabe. Auch im Zweikampf mit einem Angehörigen der Capulets weiß er sich zu behaupten – die Fechtszenen hier sind mit Quart-Terz-Quart-Terz im Eiltempo und weit ausholend vor allem dynamisch choreografiert. Da fliegen schon die Fetzen, was die Anschauung betrifft.

Romeo könnte dann töten, weil er seinen Zweikampf gewinnt. Er lässt es aber sein, auf Geheiß des Prinzen von Verona, der hier eine Art Friedensfürst ist. Alle spüren: Romeo hat jetzt schon mal geahnt, wie machtvoll der nahende Tod ist, der gewaltsam kommt, der nicht willig angenommen wird, sondern mit seinem kalten Atem alles andere erstickt. Romeo wäre hier bereits fast zum Täter geworden, später wird ihm seine Heißblütigkeit beim Umgang mit der Stichwaffe zum Verhängnis – allzu viel gelernt hat er aus der Zweikampfszene also nicht. Dieses Jüngelchen ist halt kein braves Lämmchen.

Aber die Partie macht was her! Sowohl Jacopo Bellussi als auch Alexandr Trusch tanzen diese ersten Parts des Romeos mit unbelastet-beglückender, großartiger Attitüde. Natürlich ist Bellussi, der erst seit 2012 der Hamburger Compagnie angehört, noch sehr naiv in manchen Bewegungen, auch manchmal sogar hilflos. Aber andererseits passt gerade diese mangelnde Routine hervorragend zu der Partie des jungen Romeo.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Jacopo Bellussi, gebürtiger Italiener, ist als Romeo ein naiv-verliebter Jüngling, der zielsicher seiner Liebe nachspürt. Foto: Holger Badekow

Und er liebt es, als Romeo zu lieben! Mit seinem Käppi überm Jungburschenpony turnt Bellussi frohgemut herum, und seine schönen Beine, der wohl geformte Hintern, die breiten Schultern und die langen Arme verlangen geradezu nach solch einer Rolle wie der des Romeos. Die Sprunghöhen stimmen, die Geschmeidigkeit ist da. Die Ausstrahlung ist phänomenal! So ein Süßer – das denkt wohl jeder im Zuschauerraum.

Es gibt also nicht viel zu meckern an Bellussis Debüt, höchstens, dass er seine Rollendarstellung vor allem in den technischen Finessen mit mehr Übung wahrscheinlich noch verbessern kann. Er ist aber zweifelsohne ein verführerischer Romeo, so jung und unbändig und sogar ein bisschen unerzogen, wie er bei Neumeier sein soll.

In den 80er Jahren war es freilich anders. Damals sollte Jean-Christophe Maillot die Titelpartie in Hamburg bei der Premiere im Dezember 1981 tanzen, verletzte sich aber am Knie so stark, dass er bald Choreograf und auch Ballettdirektor wurde, statt Tänzer zu bleiben. Sein Wechsel hinter die Kulissen war sehr erfolgreich, übrigens – zunächst bis heute als Ballettboss mit einer flirrend-impressionistischen choreografischen Handschrift in Monte-Carlo, und vor einigen Monaten kreierte Maillot am Bolschoi Theater in Moskau seine Version „Der Widerspenstigen Zähmung“: eher beziehungsreich unterfüttert als akrobatisch serviert (wie die berühmte „Zähmung“ von John Cranko). Eine als zeitlos-modern anerkannte Inszenierung.

Maillot verletzte sich damals jedenfalls am Knie, und Kevin Haigen, der als Erster Ballettmeister während der Hamburger Ballett-Tage 2014 die beiden ersten der drei Teile von „Romeo und Julia“ so stimmig und lieblich coachte, dass man davon noch Jahrzehnte träumen kann, übernahm als damaliger Jungspund die Titelrolle. Haigen war ein vor allem ungezogen-durchgeknallter Romeo, der dadurch überzeugte, dass er eben nicht nett und naiv war, sondern ein ausgekochtes Bürschlein. Einer, der ganz bewusst seinen Vertrauten Benvolio vorschickt, um der bis dahin angebeteten Rosalinde ihr duftendes Tuch zurück zu geben. Einer, der nur seinen Trieben folgt und selbst nicht sagen kann: Es ist aus, ich liebe eine andere.

Das ist natürlich verletzend für die nicht Angesprochene. Carolina Agüero als Rosalinde spielt das in der Besetzung in diesem Jahr sehr einfühlsam. Es ist ja immer so eine Sache mit diesen Szenen, die ohne aufwändige Choreo und dafür mit wenig Mimik und Gestik auskommen müssen. Aber Trusch wie Belussi schaffen es leichthin, diese respektlose Seite an Romeo zu demonstrieren. Und Emanuel Amushástegui – dem man wirklich einen leichter auszusprechenden Künstlernamen, etwa Emanuel Amushá oder Emanuel Amush wünscht – spielt seinen Part als vorgeschickter Benvolio rührend realistisch. Was für ein holder, unschuldiger Junge!

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Die Primaballerina Carolina Agüero verleiht der Rolle der Rosalinde besondere Würze. In John Neumeiers „Romeo und Julia“ beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Rosalinde lässt ihn natürlich abblitzen. Sie kränkt Benvolio statt Romeo, der sich feige fernhält. Dafür sucht Rosalinde offenkundig ganz gern weiter, nach der großen Liebe, würde man heute sagen – nach einem passenden Gatten, dachte man damals. Benvolio indes, das übersieht Rosalinde wegen seines niedrigeren sozialen Standes, ist viel tugendhafter als Romeo. Und dennoch in Pirouetten, Präsentation und Sprüngen herzallerliebst – und jedes Mal, wenn er einen Auftritt hat, ist er ein absoluter Hingucker. Neumeier hat hier schon sehr schön Ausgleich geschaffen und nicht alle Last der Virtuosität in Schauspiel wie in Technik auf die Hauptpersonen gehäuft.

Rosalinde alias Carolina Agüero hingegen tritt fortan mit zwei weiteren jungen Damen an, um zu begeistern: mit Winnie Dias, die so graziös wie elegant anmutet, und mit Mayo Arii, die zwar eine große körperliche Verlässlichkeit signalisiert, deren Ports de bras aber unbedingt nachzubessern sind (sie wirken wie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, ein hier sehr fragwürdiger Superlativwert). Die jungen Damen bilden, als Julias Cousinen, eine Trinität aus Jungfrauen, die in dieser Besetzung eine besondere Raffinesse anzubieten haben. Carolina ist die gereifte junge Dame; Winnie ist die Naturschönheit; Mayo ist die zarteste von ihnen. Zu dritt wirken sie umwerfend bezaubernd, schon allein dieses Damentrio ist ein Grund, die Vorstellung zu besuchen.

Aber es gibt auch ein Gegenstück dazu, das aus drei jungen Männern besteht: Romeo, Mercutio und Benvolio springen, dass es eine Freude ist – und zwar synchron, hoch, elegant. Arabesken und Passés werden zu Sprungmetaphern, die für das Wollen und das Streben stehen. Man merkt, dass diese Boys diejenigen sind, die das in sich geteilte, zerstrittene Verona gern einigen und versöhnen würden.

Allein – das Schicksal nimmt seinen Verlauf, im Drama wie im Ballett. Romeo und Julia, die sich schon eratmen, bevor sie sich sehen, laufen sich alsbald beim Volksfest in die Arme, ohne dass sie miteinander auch nur im entferntesten gerechnet haben. Eigentlich will Julia gerade mit den drei Cousinen ein tänzerisches Ständchen geben. Doch Romeo sieht Julia und Julia sieht Romeo – und die Luft zwischen ihnen brennt, bildlich gesprochen!

Diese Julia lernt erst durch ihre Liebe ausgerechnet zu dem stürmischen, unerzogenen Romeo, schön zu tanzen. Ihre Körpersprache ist zuvor linkisch – doch dann, in der traumseligen Erfahrung der ersten Verliebtheit, beginnt sie, wie von selbst, wunderschön fließende, linienreiche Bewegungen zu vollführen. Sie wird durch die Liebe schön und reif – befähigt, dem geliebten Jungen mehr und mehr zu gefallen.

Tatsächlich gibt es ja mitunter biologisch nachweisbare, körperliche Reaktionen bei verliebten Frauen – zum Beispiel beim Anblick ihres begehrten Objekts. Die Brüste schwellen an, vergrößern sich leicht (da platzte schon mancher Blusenknopf ab), die Taille prägt sich stärker aus, und der spontane Eisprung außerhalb des Zyklus kann (bei Befruchtung) zur sofortigen Schwangerschaft führen. Die Art, wie Julia hier tanzen lernt, deutet auf eine solche Veränderung bei ihr hin – ob eine rasche Verheiratung mit Romeo vor allem auch wegen ihrer augenscheinlich einsetzenden erhöhten Fruchtbarkeit angeraten ist, kann man entsprechend mutmaßen.

Außerdem ist Julia hier aber auch eine kleine Abenteurerin. Sie will sich der Zwangsverheiratung, die ihre Eltern für sie planen und die in ihrem Kulturkreis üblich ist, entziehen – und sie verliebt sich rückhaltlos in einen Burschen, nämlich Romeo, der eigentlich nicht wirklich gut für sie ist und keineswegs einem Musterbild an Traumjungen gleicht. Sein Verhalten Rosalinde gegenüber, sein hitzköpfiges Abstechen Tybalts, seine seltsame Freundschaft zu Lorenzo – all das spricht nicht für Romeo. Dennoch verbindet die beiden Liebenden auf den ersten Blick ein Band, das so stark ist, dass es sie sogar gemeinsam in den Tod zieht.

SIE SIND KEIN NORMALES PÄRCHEN

Und während andere Romeo-und-Julia-Paare fröhlich und munter wirken und sonst gar nichts, enthält die Choreografie John Neumeiers immer wieder Hinweise auf eine verkappte Todessehnsucht der Verliebten. So bilden ihre Körper nicht selten ein Kreuz, und die fast mutwillige Weise, wie sie ihre Köpfe in den Nacken werfen, um die missliche Realität zu vergessen, legt eine Radikalität der Weltflucht durch Liebe nahe, die vor nichts halt machen wird. Und so kommt es dann ja auch zu großer Tragik – und im Grunde kommt es zwangsläufig so. Denn welche Zukunft hätten die beiden schon?

Bei Julia spielt eine Rolle, dass ihre Mutter sie nicht wirklich zu lieben scheint, sondern sie möglichst früh mittels einer Zwangsehe aus dem Haus stoßen will. Emilie Mazoń tanzt expressiv und alarmierend Julias Unwillen und ihre Gegenwehr gegen den ihr zugeteilten Grafen Paris. Dass der Vater Julia umso stärker liebt, stößt einem in diesem Kontext fast bitter auf – womöglich ist seine Liebe nicht in Ordnung, sondern der Grund für die überzogene Strenge der Mutter ihrer Tochter Julia gegenüber.

So etwas wird einem bei Neumeiers Fassung des Stoffs klar – und keineswegs bei den anderen bekannten Balletten dazu, auch nicht in der weltweit wohl am häufigsten gespielten „Romeo“-Fassung von John Cranko. Zu dieser gibt es übrigens hier im ballett-journal unter „Bayerisches Staatsballett“ einen Beitrag (www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-berlin-romeo-und-julia-polina/).

Das Besondere an der Version Neumeiers ist zudem, dass jede der 54 Rollen im Stück wie Solorollen definiert sind. Das betrifft auch die Kinder-Rollen: Da ist der Junge, der einem Capulet-Kind wehtut, weil er ein Montague ist. Er wird von einer resoluten Capulet-Magd dafür mit einer Ohrfeige gemaßregelt – und prompt baut sich jene gespannte  Aggression auf, für die Shakespeares Verona bekannt ist. Aber auch sonst transportieren hier jede Bühnenfigur und jede zwischenmenschliche  Situation eine eigene Stimmung – beim erstmaligen Sehen ist das nicht alles zu erfassen und auseinander zu halten.

Auch an Aktionen gibt es nicht, wie sonst in Romeo-und-Julia-Versionen, eine Konzentration auf die Treffen der beiden Hauptfiguren. Sondern es gibt ereignisreiche, detailfreudige Spielszenen dazwischen. So mopst sich Romeo zu Beginn die Gästeliste des anstehenden Maskenballs, um herauszufinden, ob seine verehrte Rosalinde dorthin kommt. Wenn Julia später das Schlafgift des Paters trinkt, halluziniert sie ziemlich umfangreich – und ruft in ihrer gequälten, angstvollen Fantasie nicht nur Romeo herbei, sondern zunächst auch den Geist ihres toten Verwandten Tybalt, der im weißen Hemd recht hilfreich im Pas de deux erscheint und ein deutliches Zitat des Geistes von Hamlets totem Vater ist.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Drei Jungs, ein Sprung: Alexandr Trusch, Emanuel Amuchástegui und Alexandre Riabko in „Romeo und Julia“ – ein fabelhaftes Trio. Foto: Holger Badekow

Das Bühnengeschehen ist also angefüllt mit solchen Mini-Handlungen, die häufig zeitgleich ablaufen und in ihrer Fülle aus einem starren Tragödienkonzept eine munter-lebenspralle Komödienszenerie machen. Oder deutet sich da mitten drin fast heimlich Tragik an?

Bei einer Probe im Ballettsaal erwies sich außerdem, dass die Choreo zumindest der bedeutenden Liebes-Pas-de-deux von allen Seiten gut einsehbar ist. Möglicherweise eignet sich Neumeiers „Romeo und Julia“ damit vorzüglich, um auf Plattform-Bühnen statt in Guckkästen gezeigt zu werden. Entscheidend ist dabei ein wogendes Hin-und-her: ein Hochheben und Absetzen, ein Sich-selbst-vor-lauter-Liebe-Erniedrigen und dabei den Partner oder die Partnerin mit schmachtendem Blick erhöhen zu wollen. Jaaaa, so ist die junge Liebe, die unbefangen und ohne Rückhalt arbeitet und zwei Menschen zur Verschmelzung treibt, ohne irgendwelche Bedenken zu hegen.

Aber die Welt, und gerade diese hier, ist nicht so friedfertig wie Liebende sie sich wünschen. Kämpfe, zwar keine Tode, aber eben immer wieder Kämpfe – das ist die Regel hier.

Die Schauspieltruppe, die John Neumeier nach dem Vorbild von „Hamlet“ und „Ein Sommernachtstraum“ als Spiel-im-Spiel dazu erfunden hat – und die zugleich ein Zitat aus dem Ballettklassiker „Don Quixote“ sein könnte – karikiert all das. Furiose, witzige, klamaukig-traurige Posen zeigt sie, wohl wissend, dass sie sich auf kabarettistisches Terrain begeben muss, um zu überzeugen. Überraschenderweise ist auch das im Ballett möglich!

Die streng vorm Brustkorb zu einem spitzen Pfeil, der nach unten zeigt, gefalteten Hände und Arme der Lady Capulet (Julias Mutter) sind ein weiteres Merkmal dieser Inszenierung. Die stets kühl wirkende Tänzerin Miljana Vracaric verkörpert mit Stolz und Strenge diese Frau, die als Mutter von Julia glatt versagen muss, weil es ihr an Einfühlungsvermögen und Offenheit fehlt. Ihre irrwitzige Erziehung des Nachwuchses, der sich Zwangsehen und anderen lebensbestimmenden Zeremonien unterziehen muss, macht die Lust Julias auf einen Ausbruch aus ihrer Welt plausibel.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Alexandre Riabko: einer der absoluten Könner vom Hamburg Ballett, furios als Mercutio in „Romeo und Julia“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

Besonders furios derweil: Alexandre Riabko als Mercutio, der mit Totenmaske und rotschwarz-flammendem Skelett-Umhang die Bühne erstürmt. Es ist der pure Lustgewinn, diesem grandiosen Tänzer beim dynamischen Betanzen der unterschwellig stets aggressiven „Romeo“-Szenerie zuzusehen.

Und darin sind noch so viele weitere Details zu entdecken! Gerade für Wiedergänger des Hamburg Balletts.

Karen Azatyan zum Beispiel, der in der in der Mazoń-Besetzung den Mercutio tanzt, könnte sowohl mit der hier schon oft gelobten Lucia Ríos als auch mit der sinnlichen ehemaligen Bundesjugendballett-Tänzerin Winnie Dias hervorragend zusammen tanzen. Warum nicht als Romeo und Julia? Und Dario Franconi, der in den letzten Monaten zunehmend auf sich aufmerksam macht, tanzt mit Verve den Tybalt, der in Neumeiers Version ohnehin deutlich aufgewertet ist: Er ist hier ein besonders einflussreicher Verwandter Julias, der das Zeug zum Stadtoberhaupt hat. Neumeier lässt Tybalt hier einen gewissen Spielraum, den auch der grandiose Carsten Jung in dieser Rolle zu nutzen weiß. Tybalt als politischer Aufsteiger, als macchiavellistisch Verantwortungsvoller, als kommender Fürst. Umso tragischer ist dann sein Ableben…

Die an Leitmotiven förmlich überbordende, melodische Ballettmusik von Sergej Prokofjew, 1935 entstanden, tut hier ein übriges: Romeo und Julia, das sind hörbar zwei verirrte Seelen, deren Familien lauthals verfeindet sind. Sie finden im Begehren ihre Utopie, musikalisch ihre Höhen. Die aus der Spannung der Ungewissheit heraus aufgebauten Geflechte aus Harmonien, aber auch aus gezielten Harmoniebrüchen, führen zu einem energetisch aufgeladenen Klangteppich.

Der ballettversierte Dirigent Markus Lehtinen weiß die Philharmoniker Hamburgs vorzüglich durch das melodisch-ohrwurmige, dennoch moderne Gelände der Musik Prokofjews zu leiten. Extra-Bravos für die Musiker am Ende der Show sprechen für sich.

Markante Fechtszenen, Gruppentänze und immer wieder die fabelhaften Liebespaar-Pas-de-deux von Romeo und Julia machen aus Neumeiers Panorama zudem ein begreifbares Bild aus der Frührenaissance. Das Originalbühnenbild und die Kostüme, beides von Jürgen Rose designt, betonen diese Wirkung. Die Gesellschaft hier hat gerade das Mittelalter mit seinen strengen Regeln hinter sich gelassen und frönt einer neu erwachten Sinnlichkeit.

Libertinage leistet man sich trotzdem nicht. Und mit den Gesetzen der Blutrache, die Shakespeare offenbar kannte, ist nicht zu spaßen: Als Tybalt versehentlich Mercutio ersticht und Romeo – nach dem dramatischen Nichtzeigenwollen Mercutios, dass er tödlich verwundet ist – diesen rächt und Tybalt absticht, ist die Welt nicht mehr dieselbe.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Wenn es die ganz große Liebe ist, dann gibt es kein Wenn und Aber mehr: bei einer so stimmigen Pas-de-deux-Pose ohnehin nicht. Hélène Bouchet und Alexandr Trusch als Titelpaar in „Romeo und Julia“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Holger Badekow

Romeo muß darum fliehen. Lorenzo, der Träumer und heimliche Dealer, gibt Julia ein 24-Stunden-Schlaf-Gift, um sie aus dem familiären Haushalt hinaus zu schleusen. Ihr droht die baldige Zwangsverheiratung mit einem ungeliebten Grafen. Doch sie hat Halluzinationen vom Gift, träumt, sich in Krämpfen höchst kunstvoll auf Zehenspitzen windend, vom Geist des Tybalt und von Romeo – und sie stirbt fast schon vor körperlichen Qualen. Mit Schmerzen wirft sie sich kopfüber aufs Bett – und wird so gefunden. Einmal mehr erweist sich die nicht vorhandene Liebe ihrer Mutter, dafür die Zuneigung des Vaters, der mit dem leblosen Körper ein paar Schritte tanzt.

Der mit den Schauspielern flüchtende Romeo indes erfährt nur von Julias Tod und nicht von dessen Scheinbarkeit. Hier zeigt sich allerdings die Schwäche des Librettos seit Shakespeares Zeiten: Was wollte Lorenzo mit seinen Giften denn eigentlich bewirken? Sollten die beiden Liebenden, von ihm heimlich Getrauten, nach Julias Aufbahrung in der Familiengruft zusammen durchbrennen, weil Romeo wegen der Tötung von Tybalt verbannt wurde? Aber flüchten könnte Julia bei Nacht auch ohne Gift. Warum muss Julia also erst scheintot daliegen? Weil das ein so schauriger Theatereffekt ist?

Oder würde ihre mächtige Familie sie suchen lassen, wenn sie nicht für tot erklärt worden wäre? Aber wovon sollten die zwei verwöhnten adligen Verliebten im Exil dann leben? Und würde man Romeo wirklich unbeobachtet und in Ruhe lassen? Die Welt damals war klein, in gewisser Hinsicht. Gab es überhaupt eine Aussicht auf ein Happy Ending? Oder erhofft sich Lorenzo ganz naiv eine Versöhnung der Familien angesichts der heimlich vollzogenen Verheiratung des Liebespaares? Aber was, wenn, was wahrscheinlich gewesen wäre, bei den verfeindeten Clans keineswegs Glücksausbrüche angesichts der unerlaubten Verbindung aufgetreten wären?

ES GIBT KEINE VERSÖHNUNG

Bei Shakespeare gibt es zwar eine Aussöhnung der zerstrittenen Familien, aber erst wegen des toten Liebespaares in der Gruft. In den meisten berühmten Ballettversionen des Stoffs indes wird diese indes eingespart, in der Version von John Cranko ebenso wie in der von Neumeier.

Romeo ist und bleibt derweil ein Held wie aus dem Sturm und Drang, der für seine Liebe ohne zu zögern sein Leben gibt. Das kann nur eine weitere Tragödie stiften – keinesfalls Frieden.

Als er Julia tief schlafend in der Morgue der Capulets wiedersieht, hält er sie für eine Leiche. Die tote Geliebte, mit der er noch eine elegante Hebung tanzt, anrührend-unpassend, wirkt wie eine verlorene Lebensdroge. No dope, no hope – das führt zum Suizid: Romeo bringt sich um. Sein Lebenssinn bestand in den letzten Tagen nur noch im Hormonrausch der Erotik und der Liebe, und mit dem Versiegen ihrer Quelle entzieht sich für ihn jeder Lebensgrund. Man taumelt innerlich mit Romeo in einen psychologischen Abgrund, der sich in schaurig-schöner Trauerpose mitteilt.

Als Julia erwacht, findet sie erst den toten Tybalt, realisiert dann auch nur langsam, wo sie ist, nämlich in einer Morgue – und findet dann erst Romeo, tot statt tatkräftig, zu ihren Füßen. Sie ersticht sich ebenfalls.

Emilie Mazoń spielt diese Szene mit scheuer, fast noch kindlicher Angst. Sie zeigt, dass dieses junge Mädchen Julia mit all seinen Träumen und Alpträumen stets allein zurecht kommen musste. Und überwältigte sie im ersten und zweiten Teil des Dramas das positive Glücksgefühl in all seiner Maßlosigkeit, so übermannt sie nun der unerwartete Anblick des toten Geliebten.

DER ENTSCHLUSS ZU STERBEN

Sie läuft einige Schritte zur Rampe, nachdem sie Romeo tot auffand – und entscheidet sich im Stehen, sich abrupt zur Leiche umdrehend, für den Tod. Sie plant ihren Selbstmord aus Liebe, aber auch aus einer Art Trotz heraus. Denn sie ahnt, dass ihr das Leben all die Hoffnungen, die sie mal hatte, sowieso nicht mehr einlösen wird. Mazońs Julia folgt dem Instinkt, nicht der bewussten Schlussfolgerung.

Dann geht sie zurück zum Leichnam, greift entschlossen nach dem Dolch, mit dem sie sich zügig ersticht – und erst im Sterben, auf dem leblosen Romeo liegend, greift sie in seine offene Handfläche hinein, als wäre diese noch voll Lebendigkeit. Fast wie eine Puppe scheint diese Julia aus der Welt zu gehen, sie fühlt sich bereits entseelt, bevor sie sich entleibt.

Hélène Bouchet, die einst mit Thiago Bordin ein besonders sanftes und romantisches Romeo-Julia-Pärchen abgab, muss bei Alexandr Trusch etwas weiter aufdrehen, um ihre Wirkung zu entfalten. Sie zeigt daher mehr von ihrer Weiblichkeit in den Bewegungen, was ihre Julia reifer und souveräner erscheinen lässt.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Alexandr Trusch, aus der Ukraine stammend und in Pinneberg in Schleswig-Holstein aufgewachsen, ist ein besonders überdrehter Romeo – sehr passend vor allem zu etwas reiferen Julien. Foto: Holger Badekow

Am Ende, als der schöne Trusch, der hinreißend auf der Bühne sterben kann, zu ihren Füßen liegt, wirkt sie auf ergreifende Art pathetisch. Hélènes Julia begreift sichtlich schnell, was der Tod in seiner Tragweite hier bedeutet, und anders als die jüngere Julia von Emilie lässt sie sich fast schwelgerisch, mit einem gewissen masochistischen Genuss auf den Liebestod ein. Als sie ihren Kopf in Romeos Hand anschmiegt, ist sie von Vorfreude auf ein etwaiges Wiedersehen erfüllt.

Beide Versionen sind sehenswert, liebenswert und dankenswert. Das Publikum bejubelte denn auch sowohl die Debüts der ganz jungen Leute Emilie und Jacopo als auch die diese Saison neue Kombination Hélène und Alexandr.

Und ob Julia nun wie eine Vierzehnjährige, Fünfzehnjährige oder wie ein Fräulein von Anfang oder auch Mitte zwanzig wirkt, macht letztlich keinen großen Unterschied: Entscheidend sind die Emotionen des Liebespaares, und solange diese spontan und frisch sind, sollten Romeo und Julia in ihren Rollen glaubhaft sein.

Romeo und Julia sind jung, aber zu allem entschlossen.

Könnte auch mal ein mitreißender Romeo sein: Emanuel Amuchástegui, der mit sicheren Sprüngen, großer Standfestigkeit und toller Präsenz derzeit den Benvolio tanzt. Foto: Holger Badekow

Und: Im kleinen, zart gebauten Emanuel Amuchástegui, quirlig und sensibel, sehen manche schon einen weiteren künftigen Romeo. Er tanzt, und zwar so brillant wie lasziv, in der Mazoń-Besetzung: den frivolen, akrobatisch inspirierten, zudem pirouettenfreudigen Benvolio. Ob aus Emanuel, den man zu gern schlicht „Amucha“ mit Nachnamen nennen würde, mal ein Romeo wird, steht zwar in den Sternen. Aber man wird ja noch träumen dürfen.
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

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