Back to Cranko! John Cranko, der Neuerfinder vom Stuttgarter Ballett, starb vor 50 Jahren. Die Ballettwelt feiert und trauert um ihn gleichermaßen – auch mit einem Auszug aus „Spuren“ auf der „Ballettgala zu Ehren John Crankos“

60 Jahre Stuttgarter Ballett

John Cranko – hier in einem Videostill aus dem schönen historischen Portrait vom swr, das derzeit in der Mediathek der ARD zu sehen ist („John Cranko: Das Porträt“). Videostill: Gisela Sonnenburg

John Cyril Cranko (1927 – 1973). Sein Lachen, seine Intelligenz, seine choreografische, seine dramaturgische und auch sprachliche Begabung ist es wert, immer wieder neu entdeckt zu werden. Denn Cranko war so kreativ und findig wie sonst niemand in der Ballettwelt. Er erfand das Stuttgarter Ballett quasi neu und machte aus der angehängten Schule das erste westdeutsche Ballettinternat. Übrigens machte man dort das deutsche Abitur: Vormittags gab es normalen Theorieunterricht, nur die Nachmittage gehörten dem Tanz. Nicht alle Absolventen wurden Stars. Aber Cranko brachte Ballettschüler mit Grips hervor, keine rein körperlich gedrillten Tanzroboter. Das entsprach seiner Auffassung von Kunst: Persönlichkeit, Güte und Wissen vereinten sich bei ihm im Tanz mit Musikalität, Bewegung, Rhythmus. Für die bloße Hochjubelei von technischer Virtuosität hatte er nichts übrig. Cranko in Stuttgart – das war ein Ballettmacher, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte: umtriebig, deutsch sprechend, furios. Nicht zurückhaltend und auch nicht snobistisch. Sondern herzlich, offen, direkt und  immer neugierig. Vor seiner Lebensstation Stuttgart hatte er so auch schon in London gewirkt, dort auch schon bleibende Schätze des Tanzes kreiert: quicklebendige, dennoch hochästhetische, sinngeladene, emotionsstarke Ballette.

John Cranko, wie die Welt ihn nennt, kam als Könner ins Schwabenland – und er starb als Genie.

"Onegin" zum letzten Mal für lange Zeit beim Staatsballett Berlin

Elisa Carrillo Cabrera und Yevgeniy Khissamutdinov vom Staatsballett Berlin im „Roten Pas de deux“ in „Onegin“ von John Cranko.  Foto: Carlos Quezada

Crankos Arbeiten waren immer spannend, auch wenn ihn das Publikum und die Kritik nicht immer sofort begriffen. Man ließ das damals zu: Kein Ballettchef der Welt musste ständig ausverkaufte Ränge bieten. Wenn eine Produktion „durchfiel“ (so nannte man das), also ausgebuht und verschmäht wurde, dann war das eben so. Sie wurde trotzdem weiterhin angeboten, und es fanden sich immer Menschen, die dem etwas abgewinnen konnten. Natürlich spielte man die Erfolgsstücke öfter. Aber man ließ den Zuschauern die Chance, sich mit Schwierigem langsam vertraut zu machen. Es gab auch Fälle, in denen der Künstler aus der Ablehnung lernte, dann überarbeitete sein Werk. So geschah es mit „Onegin“, der bei der ersten Uraufführung tatsächlich kein Erfolg war. Kaum zu fassen, bedenkt man, dass das Stück heute weltweit eines der begehrtesten Ballette ist. Aber eben erst in der zweiten Version – und nachdem sich die Ballettfans auf den rasanten Handlungsablauf und die cineastische  Musik eingelassen hatten.

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Missverständnisse blieben trotzdem. Crankos „Carmen“, einst in New York ausgebuht, in Stuttgart aber durchaus mit wechselnden Primaballerinen in der Titelrolle gefeiert, fehlt heute ganz auf den internationalen Spielplänen. Wieso eigentlich? Es ist auch ein Meisterwerk, man sollte es sehen können.

Auch an Crankos ideenreiches Experiment mit der Batsheva Dance Company in Tel Aviv („Ami Yam Ami Ya’ar“) erinnert sich kaum wer. Wieso nicht? Die Batsheva-Leute tanzen heute einen fast plumpen, gymnastischen Contemporary-Stil. Damals waren sie noch näher am anmutigen Ballettstil. Könnte man darum das Stück nicht in Deutschland bringen? Zumal es der hebräischen Kultur gewidmet ist. Interesse daran sollte unbedingt gefördert werden.

"Onegin" kehrt heim nach Stuttgart

Für viele das Traumpaar der Saison: Friedemann Vogel und Elisa Badenes vom Stuttgarter Ballett in „Onegin“ von John Cranko. Foto: Roman Novitzky

Cranko schuf über 90 Ballette in seinem kurzen Leben, das mit 45 – fast 46 – Jahren abrupt endete. Wo sind all diese Stücke?

Wieso wird einer der Tanztitanen des 20. Jahrhunderts, der in einem Atemzug mit George Balanchine, Yuri Grigorovich, Jerome Robbins, Kenneth MacMillan, Maurice Béjart, Frederick Ashton, Pina Bausch und John Neumeier genannt wird, so arg vernachlässigt?

Sein Erbe, zuvor sein Sekretär und Liebhaber, Dieter Gräfe, verkauft bevorzugt die drei großen Erfolgsknüller von Cranko im In- und Ausland, also „Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“. Ist das eine verantwortungsvolle Werkpflege?

Erinnern wir uns voller Sehnsucht: „Daphnis und Chloe“ zur Musik von Maurice Ravel; „Beauty and the Beast“, auch zu Klängen von Maurice Ravel. „Katalyse“ zur Musik von Dimitri Schostakowitsch; „Coppelia“ zur Musik von Leo Delibes. „Der Pagodenprinz“ zur Musik von Benjamin Britten. „Kyrie eleison“ zur Musik von Johann Emanuel Bach, bearbeitet von Crankos begabtem Spezi für musikalische Extras, Kurt-Heinz Stolze (der auch die Musik für „Onegin“ und die „Zähmung“ schuf).

Dann gab es ein Stück namens „Fragmente“, zu Musik von Heinz Werner Henze. Nicht einfach, aber sehenswert.

Marcia Haydée, die Ballettlegende.

Einblick in die Probenarbeit gewährt ein Foto in der legendären „Cranko-Lounge“ vom Stuttgarter Althoff Hotel am Schlossgarten, wo man derzeit allerdings gerade renoviert. Marcia Haydée und John Cranko sind hier im Ballettsaal zu sehen. Ihre Kooperation ist in der ganzen Ballettwelt unvergessen! Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und es gab Pläne, die Cranko hatte! Ein dreiteiliger „Tristan“ sollte, in Kooperation mit Henze, entstehen, an drei Abenden, ähnlich wie ein ballettöser „Ring“. In den USA wollte er – in Philadelphia – außerdem die Operette „Die lustige Witwe“ von Franz Léhar inszenieren, sie sollte auf Tournee gehen. Und es sollte ein Musical nach dem „Steppenwolf“, dem generationsprägenden Roman von Hermann Hesse, entstehen, Cranko träumte davon, es an den Broadway zu bringen.

Davon abgesehen, träumte er ein Jahr vor seinem Tod auch davon, mal ein Jahr Pause zu machen, ins Sabbatical zu gehen, Kraft zu schöpfen für neue Arbeiten. Schon 1956 und 1960, kurz vor seinem Postenantritt in Stuttgart, hatte Cranko zwar schon existente Stücke von sich einstudiert, aber keine neuen kreiert. Schöpferische Pausen können eben erholsam sein. Beim Stuttgarter Ballett ließ man ihm oder er sich dazu nie die Ruhe. Cranko lebte dort auf der Überholspur – was ihn letztlich das Leben kostete.

Dass ihn niemand vor sich selbst beschützte, ist ein Drama dieses Hochbegabten, der im Wirbelwind, den er verursachte, auch mal die Kontrolle verlor. John Cranko war alles andere als diszipliniert, was den Konsum von Zigaretten, Alkohol und Tabletten anging. Dass er von angeblich einer einzigen leichten Schlaftablette so fest schlief, dass er nicht aufwachte, als er sich erbrechen musste, passt so nicht. Und doch brachte ihn dieser Vorfall um, am 26. Juni 1973, im Flugzeug nahe Schottland, auf dem Rückweg nach Deutschland von einem Gastspiel in den USA. Cranko starb ganz anders, als er lebte: still, unbemerkt.

Harold Woetzel drehte einen einfühlsamen Film über das Stuttgarter Ballett.

John Cranko glücklich mit Russenmütze in Moskau, UdSSR. Das waren noch Zeiten! Das Ballett verband die beiden Weltenhälften im Kalten Krieg. Videostill aus Harold Woetzels Film über das Stuttgarter Ballett namens „Von Wundern und Superhelden“: Gisela Sonnenburg

Zu Lebzeiten war er ein Magnet für Menschen. Seine Mitarbeiter machte er sich zu Freunden, und seine Freunde wurden seine Mitarbeiter. Eine eigene Künstlerfamilie zu haben – das war für Cranko ganz normal. Er war derjenige, der so aus einer mittelmäßigen schwäbischen Operntanztruppe, die ohne eigenen Stil vor sich hin trainierte, ein richtiges Weltballett machte.

Sozusagen wie nebenbei war Cranko von 1968 bis 1970 zusätzlich Chefchoreograf vom Bayerischen  Staatsballett in München. Er kreierte für die Truppe – und seine drei berühmten Handlungsballette, von denen zwei nach jeweils einem Shakespeare-Drama entstanden, werden noch heute dort regelmäßig getanzt. Lange währte diese Liaison Stuttgart-München zwar nicht, aber Cranko gab München in den knapp drei Jahren seines Wirkens dort jenen sanften Tritt in den Hintern, der den Bajuwaren klar machte, dass Ballett viel mehr ist als Gehupfe nach Noten.

Das wussten auch Crankos Mitarbeiter. Cranko verabscheute Oberflächlichkeit in der Kunst, er verlangte immer eine auch inhaltliche Auseinandersetzung bei der Kreation.

Sein Geschmack war erlesen, aber nicht dekadent, und seine Stilrichtung stets am Menschen orientiert.

Marcia Haydée, gebürtige Brasilianerin und schon in jungen Jahren so etwas wie eine etwas skurrile Grande Dame, war nicht nur Crankos bedeutendste Muse als Ballerina, sondern auch seine Beraterin. Ihr Partner, zeitweise auch im Leben, war Richard „Ricci“ Cragun, der Cranko mit seinem dunklen Temperament immer wieder inspirierte. Die Arabesken und Hebefiguren der beiden – schlichtweg legendär, in allen Linien, in allem Ausdruck.

Weitere künstlerische Ausnahmemenschen säumten Crankos Weg von Stück zu Stück: Egon Madsen, Ray Barra, Heinz Clauss, Anne Woolliams, John Neumeier, Birgit Keil (letztere brachte als Sudetendeutsche vor allem das Interesse von deutschnational interessierten Sponsoren und Politikern mit), ihr Mann Vladimir Klos (der aus Prag stammte und jederzeit für den Sieg des westlichen Systems eintrat), Kurt-Heinz Stolze für musikalische Bearbeitungen, Jürgen Rose für Bühnenbilder und Kostüme – John Cranko scharte Talente um sich, die seinen Ruhm mit ausmachten.

Die FestWoche 2015 feiert Versöhnung zwischen Klassik und Moderne.

Marlon Dino in der berühmten Pose des „Onegin“ von John Cranko beim Bayerische Staatsballett, das John Cranko zeitweise parallel zum Stuttgarter Ballett bespielte. Foto: Wilfried Hösl

Manche zog er sich geradezu heran. So Joyce Cuoco, die mit 17 Jahren als ehemaliges „Pirouetten-Wunderkind“ aus den USA nach Stuttgart kam. „Sie wird an ihrer Arbeit wachsen, wenn man sie liebevoll fördert“, befand Cranko. Und er hatte Recht. Alsbald kreierte er für sie, schickte sie auf Galas. Cuoco ist nur ein Beispiel von vielen: Cranko machte sich seine Stars, er suchte in ihnen immer nach dem, was sie individuell konnten, technisch und vor allem im Ausdruck, und darin forderte und förderte er – und er konnte sich darauf verlassen, dass sie ihm zu Ehren tanzten, nicht nur für sich selbst.

Woher er kam? Am 15. August 1927 wurde er in der kleinen Stadt Rustenburg (sprechend: „Ort der Ruhe“) in Südafrika geboren. Als junger Mann verliebte er sich zuerst ins Puppentheater, dann ins Ballett. Ab 1946 choreografierte er in London. Sein Talent wurde früh erkannt. 1961 holte man ihn nach Stuttgart, wo er bereits 1962 mit „Romeo und Julia“ unerwartet viel Erfolg hatte. Zwei Jahre zuvor hatte er seinen „Romeo“ schon als Gastchoreograf in Mailand inszeniert, aber die Stuttgarter Fassung ist diejenige, die noch heute international bewundert wird.

Romeo und Julia auf arte

Das Ensemble vom Stuttgarter Ballett begeistert – mit Gruppenszenen wie dieser in „Romeo und Julia“ von John Cranko. Foto / Faksimile von arte: Gisela Sonnenburg

Freiheit in der Kunst, für die Kunst, wegen der Kunst – das waren damals keine hohlen Worte. Cranko sprudelte nur so vor Visionen und Eingebungen, und die meisten davon konnte er umsetzen. Die Presse war manchmal sein Komplize, half ihm, Geld für Projekte zu erhalten, sie war aber auch eine kritische Instanz, mit deren Ablehnung er gelegentlich leben musste. Ohne sich zu rächen oder gar Vernichtungsfantasien umzusetzen.

Es war selbstverständlich das respektierte Recht der Presse damals, eine eigene Meinung zu äußern – etwas, das wir heute in den Mainstream-Medien kaum noch erleben.

Für Cranko war die Unabhängigkeit zugleich eine Inspirationsgewährleistung. Sinfonische Ballette orientierte er an thematischen Bezügen, die er der Musik entnahm. Wie „Holbergs Zeiten“, einem Pas de deux, der sich von Edvard Grieg inspiriert sah. Seine Handlungsballette aber – und auch die meisten kürzeren Cranko-Stücke sind im engeren Sinne Handlungstänze – verfügen stets über einen soliden dramaturgischen Aufbau. Er war dafür begabt, diesen selbst zu errichten. Welcher Choreograf heute kann das noch?

Onegin is back in town!

David Moore als brillanter Lenski in „Onegin“ von John Cranko beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Seine sprachliche Begabung äußerte sich nicht nur in Gedichten und nachgerade professionellen, gereimten Long-Limericks, die er in seiner Zeit in England schuf. Vor allem beherrschte er auch schnell Fremdsprachen. Etliche seiner Stücke beruhen auf französischen Ideen, andere auf deutschsprachigen. Er las deutsche Bücher, schrieb Briefe auf deutsch. Neben der Leitung des Balletts mit zahlreichen Proben lernte Cranko in Windeseile Deutsch, unter anderem mit dem Lösen von Kreuzworträtseln und ausgedehntem Hofhalten in der Kantine vom Stuttgarter Opernhaus. Man nannte seinen Tisch dort sein Büro, das Festnetz-Telefon der Theke war sein Geschäftsanschluss – und die Nächte verbrachte er nicht selten bei seinem Stammgriechen, bei dem auch auf den Tischen getanzt werden durfte.

Es waren wilde Jahre, die 60er- und 70er-Jahre, und die Jugend hatte oft freie Fahrt, was nur nicht wörtlich zu nehmen ist. Es ist schade, dass diese Freiheit, die sich auch in Crankos Tanzfantasien äußert, zu einem fast technischen Begriff verkommen ist.

Und: Cranko hatte Charakter. Er war nie auf der Suche nach dem Nur-Spektakulären. Und er wollte keine Ballerinen, die sich zwar hübsch ansehen ließen, die aber null Persönlichkeit hatten. Böse Zungen vermuten, dass Cranko heute Probleme hätte, weil er den allgemeinen, sich oberflächlich vor allem an Mode orientierenden Geschmack, der sich im Ballett entwickelt hat, nicht gerade bedienen würde. Aber letztlich würde sich die psychologische und ästhetische Kraft seiner Werke immer durchsetzen.

Harold Woetzel drehte einen einfühlsamen Film über das Stuttgarter Ballett.

John Cranko auf der Probe. Rechts John Neumeier, der Tänzer bei Cranko war. So zu sehen in Harold Woetzels Film „Von Wundern und Superhelden“ vom swr. Videostill: Gisela Sonnenburg

Was fehlt, ist ein Management seiner Werke, das die Pflege und Verlebendigung des Wirkens von John Cranko stärker fortsetzt, als dieses seit Jahrzehnten der Fall ist.

Hoffen wir, dass so etwas in den kommenden Jahren und Jahrzehnten möglich sein wird. Damit es dann im Sinne eines Aufbruchs heißen kann: Back to Cranko!
Gisela Sonnenburg

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AUF CRANKOS SPUREN

Eines von John Crankos fast vergessenen Ballette wird aber nun mit einem Auszug wundersam wiederbelebt: ein Stück aus „Spuren“ wird auf der „Ballettgala zu Ehren John Crankos“ am Freitag,  30. Juni 23 vom Stuttgarter Ballett getanzt. „Spuren“ war die letzte Tanzschöpfung Crankos, ein Drittelabendstück zum Adagio aus Gustav Mahlers unvollendeter zehnter Sinfonie.

Gewidmet hat Cranko es seinen russischen Freunden Galina und Valery Panov. Dieses Ehepaar, das beim Kirow-Ballett in Leningrad tanzte, hatte 1972 umsonst einen Ausreiseantrag nach Israel gestellt. Es war ein internationales Politikum, dass Panovs danach Restriktionen befürchteten. Später, 1974, konnte das Paar dann in den Westen wechseln.

Der Inhalt des Stücks „Spuren“ bezieht sich dennoch stärker auf das Dritte Reich als auf die Sowjetunion.  Es ist faszinierend politisch und eher filmisch anmutend als typisch für ein Tanzstück: Es geht um eine Überlebende des Holocaust, die in einer konventionellen Ehe ein neues Leben beginnt, von ihren traumatischen Erinnerungen aber immer wieder eingeholt wird.

Marcia Haydée hat es uraufgeführt. Besonders beliebt war das Stück trotzdem nicht, wenn es auch wahrscheinlich keine Buhrufe bei der Uraufführung im April 1973 erlebte. Genau das aber behauptet der gerade entstehende Spielfilm über John Cranko des Regisseurs Joachim A. Lang („Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“). Offenbar passt es einfach gut ins Schema von Erfolg und Misserfolg. Aber es ist, wie gesagt, wohl eine Lüge. Buhrufe ernete am Abend der Uraufführung laut Cranko-Biograf John Perceval  vielmehr jenes ebenfalls neue Cranko-Stück, in dem Birgit Keil die Hauptrolle tanzte und das nach „Spuren“ gezeigt wurde. Es heißt „Green“ (nach Musik von Claude Debussy) und ist ziemlich akrobatisch angelegt. Frei nach einem Gedicht von Paul Verlaine demonstriert es das Blümerante, Leichte, Überdrehte eines verliebten Menschen. Man kritisierte damals, so schildert es Perceval anschaulich, dass Turnen und Tanzübungen am Boden nicht auf die Bühne gehörten. Auch dieses Stück würde man, by the way, gern mal wieder sehen und das Urteil der Zeitgenossen von damals überprüfen.

John Cranko

Der Entdecker und Förderer von vielen Tänzern: John Cranko. Auch sein energetisches Flair kommt in der Doku von Harold Woetzel gut rüber. Foto: Videostill

John Cranko – Biografie“ – dieses Buch von John Perceval sei derweil immer noch wärmstens empfohlen. Es ist nur noch antiquarisch erhältlich, aber nahezu jedes Hindernis zu überwinden, lohnt sich für diesen Lesegenuss.

Perceval beschreibt analysierend und kommentierend, aber immer präzise und genau, manchmal auch mit trockenem Humor, das Leben und die Werke von John Cranko. Extrem gut lesbar, logisch aufgebaut und wirklich mitreißend erschien dieses von Marion Zerbst sehr gut übersetzte Standardwerk bereits 1985, im Englischen unter dem Titel „Theatre in my blood“.

Eine weitere Biografie von Cranko soll im Oktober erscheinen, und zwar vom Stuttgarter Ballett selbst herausgegeben. Man darf Lobgehudel satt erwarten, denn eine gesunde Distanz der Autoren zum Sujet ist bei dieser Positionierung nicht zu erwarten.

Schwanensee von John Cranko

Alicia Amatriain als Odette in den Armen von Friedemann Vogel vor den Schwänen… so zu sehen im „Schwanensee“ in der Version von John Cranko beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett 

Ein englischsprachiger Autor war zudem schneller: „Cranko – The Man and his Choreography“ von Ashley Killar ist zwar wissenschaftlich ausführlich, kommt aber an John Percevals Werk über Cranko nicht heran. Es ist nur deutlich umfangreicher, dafür aber umso langweilig geschrieben, sodass man rasch ins Gähnen kommt. Trotzdem: Killar trug viele Details zusammen und schnürte ein Bündel, das eine tiefergehende Beschäftigung mit Cranko durchaus anregt.

Einige der Protagonisten dieser Biografien tauchen nun leibhaftig am Montag, den 26. Juni 23, punktgenau an Crankos Todestag auf dem Podium im Opernhaus für ein „Ballettgespräch zum 50. Todestag John Crankos“ auf. Es geben sich dort ein Stelldichein für die nostalgischen  Erinnerungen: Marcia Haydée (die Muse Crankos, mittlerweile 86-jährig), Birgit Keil (die nicht immer Marcias Freundin gewesen sein soll), ihr Gatte Vladimir Klos, Egon Madsen, Georgette Tsinguiridis (Crankos wichtige Choreologin), Reid Anderson (der unvermeidliche Ex- und Schattenintendant vom Stuttgarter Ballett) sowie Jürgen Rose (Crankos bevorzugter Bühnenbild- und Kostüm-Designer, mit 85 Jahren immer noch fit) und natürlich Gastgeber Tamas Detrich (der heutige Intendant vom Stuttgarter Ballett und frühere Erste Solist am Haus).

Romeo und Julia auf arte

Das beliebteste Liebespaar aller Bühnenwelten als im Ballett im Fernsehen: „Romeo und Julia“, hier von David Moore und Elisa Badenes verkörpert, tanzten in der Choreografie von John Cranko auch schon auf arte. Foto / Faksimile von arte: Gisela Sonnenburg

Einige Tage später dann wird in Erinnerung an John Cranko getanzt, getanzt, getanzt: am Freitag, dem 30. Juni 23, in der schon erwähnten, einmaligen  „Ballettgala zu Ehren John Crankos“. Es handelt sich um eine reine Haus-Gala, Gäste von außerhalb werden nicht auf der Bühne erwartet. Dafür sind die Ersten Solistinnen und Ersten Solisten vom Stuttgarter Ballett vermutlich in Hochform, denn es werden nicht nur die vielen bekannten ballettösen Leckerbissen etwa aus „Romeo und Julia“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ gezeigt, sondern auch der wunderbare „Hommage à Bolschoi“-Pas de deux sowie Auszüge aus den elegisch-eleganten „Brouillards“ und dem putzmunteren Frühwerk „Pineapple Poll“. Und auch der exzellente Paartanz „Holbergs Zeit“ mit Musik von Edvard Grieg ist dabei.

Die Superballerinen Rocio Aleman, Elisa Badenes, Anna Osadcenko und Agnes Su sowie ihre Kavaliere David Moore, Martí Fernández Paixà, Jason Reilly, Adhonay Soares da Silva und Superstar Friedemann Vogel werden mit Cranko-Stücken begeistern. Und auch die Ballettschule wird auftreten, Überraschungen sind zudem versprochen.

Selig sind alle, die da mit dabei sind!

"Begegnungen" locken zum Stuttgarter Ballett

Und noch einmal die ehemalige Stuttgarter Megaballerina und Kammertänzerin Alicia Amatriain – dieses Mal in luftiger Höhe über Friedemann Vogel im dritten Satz von „Initialen R.B.M.E.“ von John Cranko beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Ab Donnerstag, dem 13. Juli 23 – dem Termin der Premiere „Remember me“ mit je einem Stück von John Cranko und dem ihm befreundeten Choreografen Kenneth MacMillan („Initialen R. B. M. E.“ und „Requiem“) – wird dann im Rahmen der John Cranko Ballettwochen an weiteren zwölf Abenden am Stück Ballett gezeigt, sodass man schon sagen kann: Stuttgart gerät in einen verdienten Cranko-Rausch!

„Der Widerspenstigen Zähmung“ mit ihrer einmaligen Mischung aus Komik, Klamauk und Ernsthaftigkeit wechselt da mit „Remember me“ und mit „Onegin“, der am Samstag, dem 22.07.23 zudem als „Ballett im Park“ kostenfrei für Tausende im Schlosspark auf der Leinwand zu sehen sein wird.

Zusätzlich zeigt die leistungsstarke Schule ihr Können: als „Ballett-Matinee der John Cranko Schule“ am 16. und am 23. Juli 23.

Liebende im höchsten Glück: die extravagante „Kameliendame“ (Alicia Amatriain) mit ihrem Geliebten Armand (Friedemann Vogel) – eine Traumbesetzung in John Neumeiers Meisterwerk in Stuttgart. Foto: Stuttgarter Ballett

Wer derweil außerdem „Die Kameliendame“ von John Neumeier mit dem Stuttgarter Ballett  sehen möchte, fahre am 4. bzw. 5. Juli 23 zu den Hamburger Ballett-Tagen in die Hansestadt an der Alster. Auch in Berlin, Den Haag und Ludwigshafen sind an diesen Tagen  Gastspiele vom Stuttgarter Ballett zu sehen – der schwäbische Esprit verströmt sich so geradezu exzessiv während der Festtage zu Crankos Ehren.

In diesem Sinne: Tanzt und trauert, liebt und bewundert John Cranko, dessen großherzige Kunst uns immer ein Trost für sein frühes Verschwinden sein wird!
Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

Der Ballettsommer wird heiß

Das Stuttgarter Ballett bot auch mit Hyo-Jung Kang und Jason Reilly eine knisternde Besetzung in „Romeo und Julia“ von John Cranko. Auf in den Ballettsommer! Foto: Stuttgarter Ballett

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