Ein richtig gutes Stück Tanz, eine wahrhaftige Choreografie verliert nie ihren Wert. Was das ist, ihr Wert? Das ist ihre sinnliche Anziehungskraft, ihre anschauliche Kraft, ihr niveauvoller Ausdruck. Rumbolzen und vorm Publikum herumtrampeln und womöglich nackt den Podex zeigen kann fast jeder – dazu muss man nicht so viel können. Aber so ein richtiges Stück Tanz zum Leben zu erwecken, braucht talentierte und trainierte Tänzer, die zudem noch über Persönlichkeit verfügen. Einfach nur ein Typ oder einfach nur hübsch sein reicht da nicht. Walter Schmidinger, der leider verstorbene große Schauspieler, hat über einen der Startänzer von John Neumeier mal gesagt: Er „gehört zu den wenigen, die mich von der ersten Sekunde bis zum Fallen des Vorhangs so in absolute Faszination versetzten, dass ich nichts sonst um mich herum wahrnehmen konnte.“ Diesen Satz können viele Neumeier-Fans für ihre jeweiligen Lieblingstänzer unterschreiben. Die Faszination geht aber nicht nur von einzelnen Interpreten aus, sondern auch von den meisterhaften Choreografien. Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, die Neumeier seit 1974 genau so genannt hat (ohne Artikel vor dem ersten Substantiv) ist hier einer der Prüfsteine, denen sich Generation für Generation die Körperkünstler vom Hamburg Ballett stellen müssen. Schmidinger formulierte seinen Satz übrigens für Max Midinet, der die „Dritte Mahler“, wie sie kurz auch genannt wird, in der Hauptpartie des überwältigend gestalteten ersten Satzes uraufführte.
Midinet war ein vielseitiger Charakter- und Hochglanztänzer, der erst sehr spät überhaupt mit dem Profitanz beginnen konnte, obwohl er schon als Kind mit sechs Jahren in handelsüblichen Hausschuhen den Spitzentanz übte (bitte nicht nachmachen!). Er musste kämpfen, sich wehren: gegen kleinbürgerliche Eltern, gegen Tanzverbote, auch gegen Vorurteile in den oberen Etagen der Ballettwelt. Er gewann, mit Glück und Durchsetzungsvermögen – und wurde schon beim Stuttgarter Ballett ein Freund vom ebenfalls dort tanzenden John Neumeier, der ihn dann als Ballettdirektor erst nach Frankfurt / Main berief und 1973 mit nach Hamburg brachte.
Midinet, der Neumeier-Stücken wie „Dornröschen“ (als Böse Fee) und „Romeo und Julia“ (als Mercutio), „Don Quixote“ (in der Titelrolle) und „Matthäus-Passion“ (als Jesus), „The Age of Anxiety“ (als Malin) und eben einigen Mahler-Arbeiten viel Gesicht verlieh, starb zu früh, um heute noch als Zeitzeuge und Coach zur Verfügung zu stehen. Aber wenn man den ersten Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ in der Choreo von John Neumeier seiner Geschichte nach kennt, ist es unmöglich, ihn zu vergessen.
Später änderte Neumeier die Rollenaufteilung in diesem ersten Satz und auch Teile der Choreografie und Inszenierung. Der durchgeknallte General, als welcher Midinet noch erschien, musste Soli und Schritte abgeben, sein Part wurde entschärft und auf mehrere Tänzer verteilt – und die Liebesgeschichte der folgenden Sätze erfuhr im Original noch ein ganz anderer Tänzer (in der Urversion war es Francois Klaus), sodass die Sache heute anders zusammen geschmiedet ist.
In der aktuellen Besetzung ist es ein- und derselbe Mann, der erst als „General“ den Krieg erfindet, um sich dann von selbigem zu verabschieden und langsam, aber sicher in der Liebe sein Glück zu suchen. Die ganze Story ist ein Seelenkult der Liebe, aber das erschließt sich erst vollständig im Nachhinein.
Der letzte Satz heißt schon in der musikalischen Partitur „Was mir die Liebe erzählt“, und der Komponist Gustav Mahler meinte das durchaus ernst. John Neumeier führt das aus seiner Sicht aus: „Das göttliche Prinzip der Liebe ist in seiner Vollkommenheit nicht fassbar. Man kann es aber spüren, in einem Menschen, in einer Zeit.“
Die magnetische Kraft der Liebe wird solchermaßen durch den Tanz vermittelt.
Gestern tanzte Karen Azatyan die Hauptpartie, einen wandelnden Homme de terre, einen Erdling, der von seiner aggressiven, rein männlichen Urgesellschaft über den zunächst nur äußerlichen, dann höchst intensiven Kontakt zu Paaren seine große Liebe trifft – und sie doch verliert.
Aber sie rettet ihm gleichwohl das Leben, so scheint es – oder zumindest das Seelenheil nach dem Übergang in eine andere Welt. Madoka Sugai schreitet zum Zeichen dessen zu Beginn und am Ende des Stücks langsam an der Rampe entlang – während der Held schlussendlich versucht, sie vom Horizont aus zu erreichen.
Dazu trommeln langsam die letzten Schläge der dritten Sinfonie von Gustav Mahler, welche von Markus Lehtinen gestern so vorzüglich live dirigiert wurde, wie ich sie noch nie gehört habe. (Und das will etwas heißen, denn ich kenne unzählige Aufführungen und Einspielungen dieser Sinfonie). Vom ersten Ton an erzeugte er mit den Klängen jene Spannung, die einen entführt in die Welt der Bühne, der Imagination.
Stürmisch und wild, dennoch systematisch und knallhart rhythmisch wälzt sich der erste Satz voran. Der Kontrast erfolgt mit dem zweiten und dritten, die lieblich, im vierten und fünften fast süßlich-romantisch anmuten dürfen.
Bis zum Wunderwerk des sechsten (finalen) Satzes: Die immensen Steigerungen hierin machte Lehtinen mit einer sorgfältigen Linienführung erfahrbar, dennoch spontan wirkend – aber ohne dass ihm die wogenden Klangmassen aus dem Ruder gelaufen wären.
Bravo also auch an die Musik mit dem Philharmonisches Staatsorchester Hamburg!
Auch der Damenchor der Hamburgischen Staatsoper, der Hamburger Knabenchor und die Mezzosopranistin Katja Pieweck verdienen Lob.
Vor allem aber war es ein Gefüge des Tanzes, das sich eröffnete, für viele im Publikum sicher nicht zum ersten Mal. Denn, siehe oben: Eine richtig gute Choreografie verlangt geradezu danach, so oft wie möglich betrachtet zu werden. Wir kennen dieses Phänomen aus der Oper, auch aus dem Drama, sträuben uns allerdings manchmal davor, es fürs Ballett auch gelten zu lassen, denn im Tanz gibt es zwar neue Besetzungen, aber längst nicht so viele Inszenierungsmöglichkeiten wie in den anderen dramatischen Gilden.
Aber niemand möchte Neumeiers moderne Klassiker uminszeniert sehen…
Mitunter erneuert er aber selbst seine Stücke, und es kommt vor, dass man das Original liebend gern wieder sehen würde. So gab es in der „Dritten Mahler“ ursprünglich Projektionen des Ausstattungskünstlers und heutigen Opernregisseurs Marco Arturo Marelli. Sie wurden mittlerweile ersetzt von einem Lichtkonzept des Choreografen Neumeier, der zwar in einem Stück „Le Sacre“ auch ein bahnbrechendes Lichtdesign schuf, der in der „Dritten“ aber für meinen Geschmack zuviel traumverlorenes Mondblau im ersten Satz und zu wenige Kontraste in den späteren Sätzen kreierte. Man würde halt gern genau vergleichen – und dazu einmal wieder die Originalausstattung ansehen.
Ob sich ein Mahler-Ballett-Festival anregen lässt, auf dem dann auch zwei Versionen der „Dritten“ getanzt bzw. die ursprüngliche und auch andere Interpretationen als Video gezeigt werden könnten?
Auch im Hinblick auf die Gestaltung einzelner Partien wäre da interessant. So das weibliche Solo im Engelssatz (5. Satz). Da dreht Madoka Sugai dank ihrer enormen Technik die Pirouetten mit eng anliegendem Spielbein und zum Flex hochgezogenen Fuß doppelt statt einfach. Und am Ende hüpft sie nicht auf dem flachen Fuß mit eingestreuten Relevé passé auf Spitze von dannen, sondern hüpft auf einem Bein auf Spitze davon. Es sind wahre Mätzchen, die sich so ergeben, und die den Charakter der Figur noch verspielter, aber auch narzisstischer machen.
Der ihr interessiert zuschauende, teils auch folgende Mann scheint unsichtbar für dieses kecke Engelchen… Und doch entflammt die Liebe in ihm. Gesehen wird er erst im folgenden Satz von dem Mädchen, als er am Boden liegt und die junge Frau ihn berührt und gleichermaßen zu neuem Leben erweckt – zwecks ausführlichem Pas de deux im Adagio. Traum oder Wirklichkeit – wer weiß es schon?
Ballett als kollektive Traumwelt mit der Option, Traum und Realität zu verkehren.
Unterstützung erhielten die Hauptprotagonisten gestern denn auch von ihren Kolleginnen und Kollegen. Im ersten Satz illustrierten Solisten wie Aleix Martínez (wie immer mit fast unheimlicher Bravour und Vollendung), Jacopo Bellussi, Christopher Evans, Alessandro Frola und Félix Paquet sowie 21 weitere junge Tänzer furios die energetisch destruktive, dann aber auch wieder aufblühende Antriebskraft des männlichen Prinzips.
Dass da manche Bewegung, die im Original herbe und als kämpferische Geste zu verstehen war, jetzt lieblich wie eine Bournonville-Übung einherkam, mag der schnellen Einstudierung inmitten eines Festivals geschuldet sein, das über vier Wochen lang ein fast täglich wechselndes Programm auffährt.
Denn wir befinden uns in der zweiten Hälfte der Jubiläums-Festspiele, nämlich der Hamburger Ballett-Tage 2023, die das 50-jährige Sein von John Neumeier als Chef vom ehemaligen Ballett der Hamburgischen Staatsoper (heute: Hamburg Ballett) befeiern.
Und wie! Keine Compagnie der Welt musste sich je einem solchen Aufwand ausliefern: täglich wechselnde Großproduktionen von Ballett mit Live-Musik zu tanzen, und das, obwohl das Hamburg Ballett eben nicht zu den anzahlstärksten Tanztruppen der Welt zählt. Neumeier hat aber eine spezielle Effizienz ausgeklügelt, die Proben, Training und Aufführungen so gut koordiniert, dass es hier kaum Probleme gibt.
Es ist wirklich kaum zu fassen, wie tapfer und doch begeistert die Körperkünstler vom Hamburg Ballett ihre vielfältigen Aufgaben meistern. Herzlichen Glückwunsch dafür an ihren Chef John Neumeier, an ihr Publikum, das sie solchermaßen beglücken – und natürlich an sie selbst für ihre Leistungen!
Ida Stempelmann ist für ihr Lächeln mit dem Gesicht und dem ganzen, akkurat und spritzig tanzenden Körper im dritten Satz („Herbst“) besonders hervorzuheben.
Aber insgesamt ist es schon eine starke Kollektivleistung, die uns gestern geboten wurde, und ins Gedächtnis brennt sich denn auch die letzte Hebung der Paare mal wieder besonders ein.
In Hamburg läuft es also wie am Schnürchen, ganz so, als sei so ein Festival eigentlich normaler Tänzeralltag. Es mag Menschen geben, die sich das sogar wünschen!
Woanders aber müssen Tänzer um Auftritte bangen, und ihre Chefs müssen um jeden einzelnen Balletttermin ringen, hat man zumindest den Eindruck.
Die aktuellen News legen davon Zeugnis ab, denn nirgendwo wird mit dem Wechsel an der Spitze eines staatlichen Balletts im Westen sein Wachstum oder ein Zuwachs an Ballettvorstellungen verkündet. Im Gegenteil.
Richard Siegal, der nicht nur geliebte, dafür aber experimentierfreudige Choreograf, verliert sein Ballet of Difference, das er in Köln, und zwar beim Schauspiel Köln, platziert hatte, wohl ganz. Wenn nicht noch ein Wunder passiert. 2016 hatte Siegal die Truppe gegründet, mit der Absicht, der Diversität im Sinne der Verschiedenheit von Tänzern eine Chance zu geben. Sein Erfahrungsschatz im Kreieren und seine Kooperationsbereitschaft mit anderen Compagnien oder auch mit Museen nützten ihm allerdings nichts – kürzlich wurde bekannt, dass die Truppe nicht länger finanziert wird. Im Sommer 2024 will die Stadt Köln, die dann auch die Sanierungen ihrer Bühnen abgeschlossen haben will, einen tänzerischen Neustart wagen. Wir wünschen Siegal alles Gute für die weitere Laufbahn, für die er vielleicht auch schon Pläne hat…
Frohgemut blickt hingegen Beate Vollack in die Zukunft. Sie, einst an der Staatlichen Ballettschule Berlin zur Tänzerin ausgebildet, leitet seit 2018/19 das Ballett der Oper Graz (in Österreich). In München, Wien, Stuttgart und anderen Metropolen hat sie schon choreografiert – und jetzt zieht es sie weiter westlich, als künftige Chefin des Ballet du Capitole in Toulouse (Frankreich). Herzlichen Glückwunsch!
Im Westen Deutschlands tut sich ebenfalls was. Bridget Breiner (derzeit Ballettchefin in Karlsruhe) und Raphael Coumes-Marquet (derzeit frei in Berlin, zuvor viele Jahre in Dresden beim Semperoper Balletttätig) werden eine Doppelspitze bilden, und zwar vom Ballett am Rhein, das somit eine neue Chance verdient hat. Glückwünsche!
Einige Kilometer weiter, am Aalto Ballett in Essen, geht derweil auf lange Sicht der amtierende langjährige Chef und Choreograf Ben Van Cauwenbergh in den wohlverdienten Ruhestand und überlässt das wohl bestellte Feld ab 2024/25 seinem langjährigen Mitarbeiter Marek Tuma sowie dem Choreografen Armen Hakobyan. Herzliche Glückwünsche!
Glück und Wünsche – das passt gut zusammen.
Auch beim Hamburg Ballett, wo man sein letztes Hemd hätte darauf verwetten können, dass Edvin Revazov, choreografierender Startänzer von Neumeier, den mit 25.000 Euro dotierten neuen John-Neumeier-Preis für Choreografie der Hapag-Lloyd-Stiftung erhält. Was vorgestern geschah.
Die großen Reedereien wie Hapag-Lloyd sind bekanntlich große Kriegsgewinnler, die derzeit Rekordumsätze einfahren (17 Milliarden Profit, mehr denn je, machte Hapag-Lloyd dank des Ukraine-Krieges 2022). Insofern passt die Preisvergabe also vorzüglich. Denn Revazov, und deshalb war es auch so sicher, dass er diesen Preis erhält, stammt selbst aus der Ukraine, ist aber politisch völlig Selensky-unkritisch und hat mit Neumeiers Hilfe jüngst ein angebliches „Kammerballett“ in Hamburg gegründet, das faktisch vor allem aus Tänzern aus der Ukraine besteht. Die Preisvergabe ist also rein politisch motiviert, nichtsdestotrotz wird sich der Preisträger darüber freuen.
Alle anderen freuen sich bitte darüber, dass es in dieser Gesellschaft, die mehr und mehr von künstlerisch unzureichenden Events irgendwelcher Funktionärs-Lieblinge wie dem gern mal mit Kacke um sich schmierenden Marco Goecke bedröhnt wird, auch noch richtig tolles Ballett gibt. Und da gilt nach wie vor nur Eins: Hingehen!
Die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ wird übrigens ab dem 10. Juni 2024 wieder vom Hamburg Ballett getanzt. Solange sollte man aber mit einem Besuch der wohl besten Tanztruppe des westlichen Europas nicht warten; ihr Repertoire umfasst schließlich fast alle Choreografien seines Gründers John Neumeier.
Gisela Sonnenburg